Ein Interview mit dem Mann, der ohne Seil auf El Capitan geklettert ist

Alex Honnold erklärt, wie er die größte Leistung in der Geschichte des Kletterns vollbracht hat.

Von Mark M. Synnott
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:34 MEZ
Alex Honnold
Honnold nähert sich dem Gipfel von El Capitan am Samstag, den 3. Juni. Das historische Ereignis wurde für einen Film von National Geographic dokumentiert.
Foto von Jimmy Chin

Der Autor und Kletterer Mark Synnott hat Alex Honnold 2009 auf dessen erste internationale Kletterexpedition zu Low‘s Gully auf Borneo mitgenommen. Nachfolgende Reisen führten sie in den Tschad, nach Oman und Neufundland. Im Laufe der Jahre haben sie sich immer wieder über die Feinheiten des Kletterns unterhalten und diskutierten über die Gefahren des Free Solo – dabei klettert man ganz allein und ohne Seile oder Sicherheitsausrüstung.

Daher scheint es nur passend, dass Honnold sich direkt nach seinem Aufstieg eine Runde mit seinem alten Freund am Manure Pile hinsetzte, einem beliebten Kletterort am Fuße von El Capitan. Alex hatte gerade als erster Mensch überhaupt den Felsvorsprung des Yosemite im Free Solo erklommen und ging damit in die Klettergeschichte ein. Er setzte sich hin, aß einen Apfel und beschrieb diese einmalige Erfahrung. Die Unterhaltung der beiden wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redaktionell bearbeitet.

Du hattest gerade den besten Tag deines Lebens. Beziehungsweise du hast gerade immer noch den besten Tag deines Lebens.

Ehrlich, ich glaube, ich habe mich noch nie so zufrieden gefühlt. Es war genau das, was ich mir erhofft hatte. Ich hab mich so gut gefühlt. Es lief im Grunde perfekt.

Sah der Berg heute Morgen furchterregend aus?

Ich glaube nicht, dass er das tat. Alles hat sich wie immer angefühlt. Ich hatte nicht wirklich Gepäck dabei und das Klettern fühlte sich einfach großartig an. Ich hab mich so viel energiegeladener und frisch gefühlt, weil ich keine 60 Meter Seil die ganze Strecke hinter mir herziehen musste.

Wie hast du dich am Anfang gefühlt?

Nicht gerade perfekt. Vielleicht habe ich gestern nicht genug getrunken. Ich hatte ein bisschen Kopfschmerzen, als ich schlafen ging. Ich war aber nicht wirklich gestresst, weil ich gewissermaßen schon auf Autopilot geschaltet und alles andere im Geiste beiseitegelegt hatte.

Es war noch ziemlich dunkel, als ich zum Fuße des Berges kam. Ich war ein bisschen eher da als sonst, weil ich sichergehen wollte, dass ich der erste [Kletterer] dort war. Ich habe auf meinem Weg einen Bären weglaufen sehen. Ich glaube, ich hab ihn aufgeschreckt.

Erzähl mir, was dir durch den Kopf ging.

Da unten am Fuß [des Felsvorsprungs] war ich ein kleines bisschen nervös. Ich meine, da ragt eine verdammt hohe Wand über einem auf. Das ist schon ... das ist nicht ohne. Und auf dem Freeblast (sehr glatte Granitflächen ohne Handgriffe) war ich ein bisschen angespannt, aber hab mich wirklich gut gefühlt.

“Ich wusste den ganzen Weg über genau, was ich zu tun hatte. Viele der Handgriffe haben sich wie alte Freunde angefühlt.”

Hast du das alles schon verarbeitet?

Ich fühl mich ehrlich gesagt jetzt noch, als könnte ich direkt noch eine Runde drehen. Ich bin so aufgedreht.

Noch eine Runde an der Wand? Du lieber Himmel!

Ich fühl mich so gut.

Wirst du noch ein bisschen klettern?

Vermutlich nicht. Aber heute ist Hangboard-Tag. Ich muss nachher noch ein bisschen hangboarden. (Anm. d. Red.: Kletterer lassen sich zu Übungszwecken regelmäßig nur mit den Fingerspitzen von sogenannten Hangboards hängen, um ihren Griff zu stärken.)

Du machst also einfach weiter?

Ich denke schon. Ich will irgendwann schon noch schwierige Routen klettern. Man setzt sich ja nicht einfach zur Ruhe, sobald man unten ankommt.

[Lacht] Das ist bisher das Zitat des Tages. Ich denke, du hast erst mal genug.

Neeeeeeein.

Auf der Route gab es ein paar Gruppen. Hast du dich mit irgendjemandem unterhalten?

Ich bin an fünf Leuten vorbeigekommen, die auf den Vorsprüngen Heart und Lung geschlafen haben, aber ich hab nicht wirklich mit irgendwem geredet.

Sind sie aufgewacht?

[Lacht] Niemand hat irgendwas gesagt. Sie waren super lässig.

Ich hab dich durch ein Fernrohr beobachtet. Auf dem Heart-Vorsprung sah es aus, als würdest du eine Wasserflasche rausholen wollen, die du dort verstaut hattest, ohne jemanden zu wecken.

Ich hab einen Typen aufgeweckt und er sagte irgendwie „Oh, hey“. Als ich dann weitergeklettert bin, hat er, glaube ich, unauffällig seine Kumpel aufgeweckt. Als ich nämlich nach unten blickte, standen die alle drei da mit einem Gesichtsausdruck wie „Was zum Teufel?!“

BELIEBT

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    “Es hat sich deutlich weniger furchterregend angefühlt als viele der anderen Soloaufstiege, die ich geklettert bin.”

    Es sah aus, als hätte einer von denen ein Einhornkostüm getragen.

    Was für ein Kostüm? Da hab ich nicht drauf geachtet.

    Wie war es auf dem Gipfel?

    Wir haben uns da oben gegenseitig umarmt. Wir waren echt ziemlich aufgekratzt.

    Was hast du gestern gemacht?

    Ich war morgens ein bisschen Bouldern, weil ich meine Schuhe ein bisschen einlaufen wollte. Dann bin ich mit meiner Mutter und ein paar von ihren Freunden wandern gewesen. Dann hab ich den letzten Teil von „Der Hobbit“ angeguckt und hab mich einfach entspannt.

    Du hast dich am Tag vor deinem Free Solo am El Cap nicht mal richtig ausgeruht?

    Das war Teil des Plans. Du willst da nicht frisch aus der Bettruhe kommen, sondern aus einem Tag mit leichter körperlicher Betätigung. Physisch ist [der Aufstieg] nämlich nicht so schwierig. Man muss eher die richtige Einstellung haben, und die habe ich zu entwickeln versucht.

    Wie hast du letzte Nacht geschlafen?

    Oh, ich hab wie ein Baby geschlafen. Ich bin so gegen 2:30 Uhr oder 3:30 Uhr aufgewacht und dachte „Los geht‘s!“ Und dann hab ich auf die Uhr gesehen und „Oh“ gedacht und habe weitergeschlafen. Ich bin dann 4:30 wieder aufgewacht.

    Wenn du 70 bist, wirst du mit deinen Enkeln in den Yosemite gehen und sie werden El Capitan sehen. Was sagst du ihnen dann?

    Kinder, man braucht ungefähr vier Stunden, um da allein hochzuklettern – nach Jahren der Anstrengungen. [Lacht]

    An welche Teile [der Kletterpartie] wirst du dich noch erinnern, wenn du 70 bist?

    The Monster war mit der beste Teil, weil man sich da völlig sicher fühlt. Und ohne Geschirr lief es da richtig einfach. Ich wette, das ist der schnellste Monster-Aufstieg gewesen, den jemals jemand gemacht hat. Ich bin da lang und dachte „Das ist so ein Spaziergang“, ich hatte wirklich eine tolle Zeit.

    Und vom Round Table bis zum Gipfel war das Klettern ein einziges Fest. Es fühlte sich an, als würde ich eine Ehrenrunde drehen. Ich hab die Hand Jams wie Karateschläge gemeistert und flog regelrecht aufwärts.

    Hattest du je einen Moment des Zweifels?

    Keine wirklichen Zweifel. Der Freeblast war natürlich einnehmend. Und am ersten Dach (am Beginn der dritten Seilhöhe) bin ich immer ein bisschen angespannt, weil man da gerade erst so richtig anfängt. Und das Boulder Problem (eine glatte, senkrechte Wand mit weit auseinander befindlichen Löchern) war der Kernpunkt. Das war vermutlich der wichtigste Teil.

    Hast du über irgendwas anderes als das Klettern nachgedacht, als du die Wand hochgeklettert bist?

    Während der einfachen Abschnitte, in der Mitte und beim Monster und dem Spire hab ich über alles Mögliche nachgedacht – das ganze Dorf an Leuten, die mich bei diesem Vorhaben unterstützt haben. Heute Morgen bekam ich eine E-Mail von (einem Freund und Kletterpartner) Conrad Anker. Also dachte ich an Conrad und seinen ganzen „Sei nett, sei gut, sei glücklich“-Ethos.

    Ich hab auch über meine Lebensziele nachgedacht. Das hier war seit Jahren mein größtes Ziel im Leben. Und das andere ist, 9a zu klettern – also richtig schwieriges Sportklettern. (Anm. d. Red.: 9a bezieht sich auf die höchste und körperlich anstrengendste Stufe beim Sportklettern.) Ich bin also gerade auf der Hälfte der Wand und denke mir so, dass es Zeit ist, sich auf 9a zu konzentrieren. Es ist so aufregend, hart für etwas zu arbeiten.

    Also hast du schon wieder ein neues Ziel?

    Das war während meiner ganzen Arbeit für El Cap die Strategie – auch darüber hinauszublicken, damit nicht alles nur auf diesen einen Moment hinausläuft. Ich wollte über Dinge nachdenken, die danach kommen, und auf was ich mich sonst noch freue. Das fühlt sich aktuell also schon so halb wie ein ganz normaler Tag an.

    Ansonsten bereitet man sich wohl nur auf eine große Enttäuschung vor?

    Du willst dich einfach nicht unter so großen Druck setzen, wenn alles im Leben nur auf diesen einen Moment hinausläuft. Das war jahrelang der große Fokus für mich und mein großer Traum. Ich würde aber gern bis an meine physischen Grenzen klettern und für eine Weile ein bisschen weniger abenteuerlich sein.

    Und das machst du mit einem Seil.

    Ich freu mich schon ziemlich darauf, mich eine Weile mal nicht auf Free-Solo-Projekte zu konzentrieren.

    Ich habe mit dem Free-Solo-Pionier Peter Croft gesprochen. Er war einer deiner Helden, als du ein Kind warst. Er sagte, El Capitan sei der letzte Schritt gewesen. Was ihn angeht, gibt es danach einfach nichts mehr.

    Das habe ich auch immer gedacht, aber wer weiß, vielleicht in ein paar Jahren?

    Glaubst du, dass du dich je so richtig fürs Bergsteigen erwärmen könntest?

    Das bezweifle ich wirklich. Bisher hab ich das jedenfalls nicht.

    Was steht sonst noch auf deiner To-do-Liste? Irgendwas Persönliches?

    Ich weiß nicht. Eine Familie gründen, schätze ich.

    “Diesen Traum zu verfolgen hat mir ermöglicht, das bestmögliche Leben zu führen. Das lässt mich hoffen, dass ich auch die bestmögliche Version meiner selbst bin.”

    Weiß deine Mutter, dass du einen Free Solo auf dem El Capitan hingelegt hast?

    Ich hab noch gar nicht mit ihr gesprochen. Ich glaube nicht, dass sie überhaupt weiß, worum es bei dem ganzen Projekt ging. Das ist irgendwie komisch. Ich werde sie nachher anrufen. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, was ich ihr sagen soll. „Hey, übrigens...“ Vielleicht wird sie glauben, dass ich das schon mal gemacht habe. Sie ist wirklich schlecht darin, zwischen Free Climbing und Free Solo zu unterscheiden.

    Was glaubst du, wie das ganze Projekt für Jimmy Chin und seine Crew war, die dich gefilmt hat?

    Für mich war es besser, nur über meine eigene Erfahrung nachzudenken und nicht über die der anderen Ich bin sicher, dass es extrem stressig für alle Beteiligten war. Aber für mich war es schon eine ausreichend große Herausforderung, überhaupt an den Fuß der Wand zu treten und meine Schuhe anzuziehen. Man guckt da hoch und denkt sich „Das ist eine verdammt große Wand.“ Das ist ziemlich irre.

    Die Crew hat ihren Stress also nicht durchblicken lassen?

    Nein, alle waren super entspannt. Ich glaube, das ist so ziemlich die beste Crew, die ich hätte haben können.

    Als wir das Projekt angefangen haben, habe ich jedem vertraut. Und nach anderthalb Jahren hat man erst recht zu jedem Vertrauen.

    Begreifst du eigentlich, was für eine große Sache das ist und was du da getan hast?

    Der Kletterer Alex Honnold sitzt auf dem Gipfel vom El Capitan des Yosemite. Diesen Punkt hat er nach etwa vier Stunden des Kletterns erreicht, ohne Seil oder Sicherheitsausrüstung.
    Foto von Jimmy Chin

    Das ist immer das Witzige dabei. Es fühlt sich gar nicht wie eine große Sache an, wenn man es letztendlich tut, weil man so viel Arbeit reinsteckt. Der ganze Punkt an der Geschichte ist ja, daran zu arbeiten, dass es sich nicht verrückt anfühlt.

    Hast du das Gefühl, dass die Welt gerade jetzt so etwas Cooles irgendwie braucht?

    Was die Welt braucht, ist, dass die USA im Pariser Klimaschutzabkommen bleiben. Es gibt größere Probleme. Aber ich glaube, dass es immer cool für jemanden ist, an etwas Schwierigem zu arbeiten und seinen Traum zu erfüllen. Hoffentlich können sich Leute davon inspirieren lassen.

    Was wirst du heute Nachmittag machen?

    Vermutlich hangboarden.

    Du wirst ein Hangboard-Workout machen?

    Na ja, später, ja. Also ich möchte was zu Mittag essen, mich ein bisschen in den Schatten setzen und später dann hangboarden. Ich bin perfekt aufgewärmt, ich hab gerade vier Stunden leichter körperlicher Bewegung hinter mir, weißt du?

    Diesen Traum zu verfolgen, hat mir ermöglicht, das bestmögliche Leben zu führen. Das lässt mich hoffen, dass ich auch die bestmögliche Version meiner selbst bin. Nur weil ich mir einen Traum erfüllt habe, heißt das nicht, dass ich diese bestmögliche Version von mir aufgeben werde. Ich will weiter der Typ sein, der fit und motiviert bleibt. Nur, weil man eine große Route geklettert ist, heißt das nicht, dass man aufhört.

    Ein normaler Mensch würde sich vermutlich den Nachmittag freinehmen, nachdem er El Capitan im Free Solo bezwungen hat.

    Aber ich versuche, jeden zweiten Tag zu hangboarden. Und heute ist so ein zweiter Tag.

    Denkst du, nachdem du El Capitan im Free Solo erklommen hast, dass du das noch mal tun könntest?

    Wenn ich einen Grund hätte, könnte ich El Capitan wahrscheinlich noch mal raufklettern, kein Problem. Das wirkt jetzt ein bisschen weniger abschreckend. Diese mentale Hürde ist genommen. Wenn mir morgen jemand 250.000 Dollar bieten würde, würde ich sagen „Sch***, ja!“ Dann würde ich das morgen einfach machen.

    Ich glaube, das passt schon so, Alex. Du musst das nicht noch mal machen. Es ist ja schließlich gefährlich, nicht?

    Es hat sich deutlich weniger furchterregend angefühlt als viele der anderen Soloaufstiege, die ich geklettert bin.

    Welche denn?

    Vermutlich alle. Weil ich in diesen hier so viel Arbeit gesteckt habe. Ich war so fein darauf abgestimmt.

    Na, das ist schon irgendwie stark.

    Es gab überhaupt keine Unsicherheit. Ich wusste den ganzen Weg über genau, was ich zu tun hatte. Viele der Handgriffe haben sich wie alte Freunde angefühlt.

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