Magische Orte

Millionen Menschen überall auf der Welt pilgern zu Kultstätten, um nach ihrem ganz persönlichen Seelenfrieden zu suchen. NATIONAL GEOGRAPHIC hat viele von ihnen begleitet und nimmt Sie mit auf eine exklusive Fotoreise zu Plätzen, die uns Kraft spenden.

Von Don Belt
Foto von John Stanmeyer

„Wir sind alle zusammen Pilger, schreitend durch unbekanntes Land, nach Hause.“ Bruder Giovanni Giocondo (circa 1433–1515)

Kurz vor Mitternacht, an jedem Samstag der Monate April bis Oktober, versammeln sich Bürger aus ganz Rom vor einem unscheinbaren Bürokomplex rund einen Kilometer vom Kolosseum entfernt, wo einst die ersten Christen den Löwen zum Fraß vorgeworfen wurden. Die Größe der Versammlung schwankt, aber an diesem kühlen Junitag, an dem ich dazustoße, sind es vielleicht tausend Menschen. So viele jedenfalls, dass sie nicht nur den Platz füllen, sondern auch noch auf den Bürgersteigen und auf der Straße stehen.

Ich hatte zu dieser späten Stunde eine Menschenmenge in fröhlicher oder gar aufgekratzter Stimmung erwartet. Doch es herrscht eine angespannte, erwartungsvolle Stille. Genau um Mitternacht hebt eine ältere Frau, deren grobes Gesicht Entschlossenheit ausstrahlt, ein etwa 1,20 Meter großes, mit roten Leuchten verziertes Aluminiumkreuz in die Höhe – zum Zeichen des Aufbruchs zu einer Nachtwanderung aus der Stadt hinaus in die Campagna südlich von Rom. Augenblicklich drängt die Menschenmenge hinter ihr her. Die meisten von ihnen tragen weiße Kerzen. Einige der Pilger haben ein langes Gewand an, manche Jeans und Wanderschuhe, andere laufen barfuß. Wieder andere mühen sich mit Stöcken oder Gehhilfen ab. Bei jedem Schritt sieht man ihrem Gesicht die Anstrengung an.

Hinter der Kreuzträgerin schaltet ein Laienpriester ein Megafon ein und beginnt mit seinem Singsang aus Kirchenliedern, Gebeten und Rezitationen, die uns die nächsten sechs Stunden begleiten. Es ist eine immergleiche Botschaft mit vielen Variationen: Wer immer wir auch im Alltag sind oder welche Konflikte uns an diesem Abend hierher geführt haben – heute Nacht sind wir alle Pilger auf dem Weg zu einem heiligen Ort.

Langsam ziehen wir auf der rechten Seite der Straße voran, begleitet vom blechernen Klang des Megafons. Ich schaue umher und sehe Szenen, wie ich sie bei Pilgern in anderen Kulturkreisen erlebt habe: abgearbeitete Mienen, raue, zum Gebet gefaltete Hände, von Leid gezeichnete Augen, die dennoch vor Begeisterung leuchten. Unser Ziel ist das Santuario Madonna del Divino Amore, die Kirche zur Heiligen Jungfrau der göttlichen Liebe, eine Gruppe sakraler Gebäude, rund 15 Kilometer vor der Stadt. Mittendrin steht ein mittelalterlicher Turm, auf dessen Außenmauer einmal ein Fresko der Jungfrau Maria zu sehen war. Genau dort soll in einer Nacht im Frühjahr 1740 ein Reisender, der vom Weg abgekommen war, von einem Rudel Hunde attackiert worden sein. Er flehte das Marienbild um Hilfe an – da ließen die Hunde plötzlich von ihm ab, und er war gerettet. Ein Wunder!, hieß es schon bald, und seither pilgern die Römer zu der Stätte, um den Segen der Madonna zu erbitten.

Heute, also 270 Jahre später, pilgern noch immer Menschen zu dieser Kirche, weil auch sie sich Wunder erhoffen. «Jeder hat irgendeinen besonderen Grund, um hierher zu kommen», sagt Valentina Lucia, eine junge Besucherin, die tagsüber eine Snackbar in der Nähe des Trevi-Brunnens betreibt. Nach drei Stunden Wanderung ist sie bereits sichtlich erschöpft. Während der einzigen, 20-minütigen Pause setzen wir uns, und sie erzählt, was sie zur ersten Wallfahrt ihres Lebens veranlasst hat.

Sie wolle damit ihre Dankbarkeit zeigen, dass sie in Kürze heiraten werde, sagt sie. Und sie möchte die Madonna um Hilfe bitten, da sie an Multipler Sklerose erkrankt sei. In dem Gotteshaus werde sie nun so kurz vor ihrer Hochzeit für die Gesundheit der von ihr erhofften Nachkommen beten.

Zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte haben Leute wie Valentina sich aus ihrem alltäglichen Leben losgerissen und auf die Suche nach dem Seelenfrieden gemacht. Einige gehen auf eine Reise, um den materiellen Ballast sowie den Lärm der Welt hinter sich zu lassen und ihr spirituelles Erleben zu vertiefen. Für andere ist solch ein Weg eine Demonstration ihres Glaubens oder die Fürbitte um göttlichen Beistand in einer besonders schwierigen Lage. Für manche sind es Rituale der Einübung in religiöse Solidarität oder – wie im Fall der Wallfahrten zu den Pilgerstätten der serbisch-orthodoxen Kirche im Kosovo – Bekundungen nationaler Ansprüche.

Eine besondere Geschichte ist die von Egeria, einer unermüdlichen Pilgerin, bei der es sich wohl um eine Nonne aus der spanischen Region Galizien handelte. Sie war Bürgerin Roms und machte sich 381 n. Chr. auf den Weg – nur 70 Jahre nachdem Kaiser Konstantin das Christentum im Römischen Reich legalisiert und als Baumeister die letzten Arbeiten an der von ihm in Auftrag gegebenen Grabeskirche Christi in Jerusalem vollendet hatte. Sie reiste nach Ägypten, Anatolien und ins Heilige Land, und sie machte ausführliche Notizen über die Stätten und Praktiken der Christen, denen sie begegnete. Auf ihrer drei Jahre dauernden Reise legte sie mehr als 3200 Kilometer zurück und schrieb einen außergewöhnlichen Augenzeugenbericht über die römische Provinz Palaestina. Unsere Pilgerwanderung zum Santuario Divino Amore ist dagegen nur ein Katzensprung, aber wir unternehmen sie im Geiste solcher frühchristlichen Wallfahrer wie Egeria.

Heute machen jedes Jahr rund 300 Millionen Menschen eine religiöse Pilgerfahrt. Andere – niemand kennt eine genaue Zahl – treten aus eigenem Antrieb spirituell motivierte Reisen an, lassen die Annehmlichkeiten ihres Heims und der vertrauten Umgebung hinter sich, gehen auf die Suche nach Frieden und Erleuchtung. Archäologen haben herausgefunden, dass dieser Impuls, diese Bewegung der nach dem Göttlichen Suchenden, schon in den frühesten menschlichen Kulturen existierte. Anthropologen halten es für ein entscheidendes Charakteristikum des Menschen. Für etwas, das unserer DNA eingeschrieben ist. Manche Religionen verlangen es aber auch von ihren Gläubigen. Für die 1,6 Milliarden Muslime der Welt ist der Hadsch, die Pilgerfahrt nach Mekka samt der Umrundung der schwarz verhüllten Kaaba, eine der fünf Grundpflichten. Pilger, die diesen Weg gegangen sind, dürfen den Titel haddschi tragen und werden respektiert, weil sie diese lange, mühevolle Reise überlebt haben.

In ähnlicher Weise ist die Fahrt nach Jerusalem zum Pessahfest nicht nur etwas, womit die Juden der Welt sich den göttlichen Segen verdienen. Vielmehr ist es eine Mitzwa, ein Gebot, das nach den Worten der Thora von Gott an Moses weitergegeben wurde. Die spirituelle Anziehungskraft Jerusalems geht selbstverständlich über den jüdischen Glauben hinaus. Die Stadt ist auch Christen und Muslimen heilig, seit der Bronzezeit zieht sie Pilger an, und sie ist noch heute ein Ort voll spiritueller Energie. Heilige Stätten sind so unterschiedlich wie die Kulturen, für die sie Bedeutung haben. Mehr als eine Milliarde Buddhisten, Hindus und Anhänger des Jainismus verehren den Berg Kailash im westlichen Tibet, einen entlegenen, 6714 Meter hohen Himalaya-Gipfel, der schwer zu erreichen ist. In deutlichem Kontrast dazu empfängt die pulsierende indische Stadt Allahabad am Zusammenfluss von Ganges und Yamuna alle zwölf Jahre Mil-lionen hinduistische Pilger zum großen religiösen Fest Kumbh Mela (alle sechs Jahre wird eine Ardh – „halbe“ – Kumbh Mela gefeiert). 2001, bei der letzten großen Kumbh Mela, nahmen schätzungsweise rund 90 Millionen Gläubige teil – sicherlich die größte Menschenansammlung in der Geschichte der Welt.

Als Mark Twain im Jahr 1895 dieses Fest besuchte, notierte er: „Wie wunderbar ist doch die Kraft eines Glaubens, welcher Alte und Schwache, Junge und Leidende treibt, ohne Zaudern und ohne Klage die unerhörten Anstrengungen einer solchen Reise, samt allen Entbehrungen, die sie mit sich bringt, geduldig auf sich zu nehmen! Ob es aus Furcht geschieht oder aus Liebe, weiß ich nicht, aber was auch immer der Beweggrund sein mag, die Sache selbst ist für uns kühle Verstandesmenschen vollkommen unbegreiflich.“

Viele heilige Orte auf der Welt blicken auf lange vergangene Zeiten und alte Traditionen zurück. Erst nach und nach ist ihr Charisma gewachsen – so wie die mystische Kraft eines Wunders oder eines in einem Grabmal bestatteten Heiligen mit den Jahren immer größer wird. Ihre Relevanz wurde von Millionen menschlicher Füße bestätigt, die die Steine und Pfade der Pilgerwege abgeschritten sind. Sakrale Stätten existieren oft jenseits der politischen und religiösen Bewegungen einer Zeit, sie überdauern Imperien und Kulturen und nehmen zusätzliche Bedeutungen an, wenn sie in die Glaubensgeographie nachfolgender Zivilisationen integriert werden.

In Jordanien markiert eine kleine weiße Moschee auf einem Berggipfel einige Kilometer westlich von Petra die Stelle, an der Aaron, der Bruder von Mose, begraben sein soll. Wie bei vielen Orten aus der Heiligen Schrift ist auch hier der Ursprung dieser Annahme ungewiss, denn dem Alten Testament zufolge wurde Aaron Hunderte Kilometer weiter weg beigesetzt, auf dem Berg Hor im Sinai. Aber der ursprünglich jüdische Glaube, dass hier Aarons Grab liege, wurde später von den Christen übernommen und schließlich auch von den Muslimen. Alle drei Religionen verehren die Propheten des Alten Testaments. Sogar vor der Zeit Aarons war diese Stelle mit dem spektakulären Blick ins Jordantal und auf das Tote Meer vermutlich ein Heiligtum für den dort lebenden Stamm der Edomiter, und davor für präkanaanitische Völker. Wer tatsächlich einst in der heute leeren Grabstätte bestattet worden war, weiß niemand. Doch ihre Anziehungskraft hat sich über Tausende Jahre erhalten.

Auch die Geschichte des Santuario del Divino Amore basiert auf Legenden. Als jene angriffslustigen Hunde von ihrem Opfer abließen, war das Gotteshaus vor den Toren Roms bereits eine volkstümliche Pilgerstätte. Um das Jahr 1944, als das Ende des Zweiten Weltkriegs nahte, schien das Wohlergehen Roms eng mit dieser Kirche verknüpft zu sein. Denn die Bürger beschlossen aus Furcht, ihre besetzte Stadt könnte den abziehenden deutschen Truppen zum Opfer fallen, das Fresko mit größter Vorsicht in Roms Zentrum zu bringen. Dort trugen sie es zu Fuß von Kirche zu Kirche, damit seine schützende Kraft an möglichst vielen Orten ihre Wirkung entfalte. Und tatsächlich ergriffen die Nazis am folgenden Tag vor den anrückenden alliierten Truppen die Flucht. Rom war gerettet. Sechs Tage später begab sich Papst Pius XII. zur Heiligen Jungfrau der göttlichen Liebe und erklärte die Kirche zur „Retterin der Stadt“.

Und all dies nur, weil im 18. Jahrhundert eine Hundeattacke glimpflich geendet hatte? Ein Wunder? Reiner Zufall? Vielleicht hatte dieser Reisende damals eine blühende Phantasie, oder jemand hatte die Hunde zu ihren Fresströgen gerufen. Wenn unser Denken auf derartige Rätsel stößt, sucht es sich eine logische Erklärung. Aber nur unser Herz vermag zu glauben.

(NG, Heft 3 / 2011)

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