Norwegen: Immer am Wasser entlang

Norwegen hat eine der längsten – und spektakulärsten – Küsten der Erde. Unsere Fotografin war dort unterwegs und brachte großartige Landschaftsbilder mit.

Von Verlyn Klinkenborg
Foto von Erland Haarberg, Orsolya Haarberg

Der Sommerhimmel wirkt wie eine Kuppel aus Vogelgeschrei. Möwen, Papageientaucher, Basstölpel und Alken schwirren um die steil aus dem Wasser ragenden Inseln.

Wir sind so weit nördlich in See gestochen, wie es nur geht: am nördlichsten Kap der norwegischen Küste. Während der Ausfahrt überzeuge ich mich mit eigenen Augen von den oft beschriebenen Fähigkeiten der Meeresvögel: Sie können sehr gut fliegen, auf dem Wasser treiben, schwimmen oder tauchen. Beim Starten und Landen aber wirken sie unbeholfen. Sie rennen so lange über das Wasser, bis man zweifelt, ob sie je abheben können, und sie plumpsen auf die Wogen hinab wie dicke Regentropfen.

Oben in der Luft aber sind sie wahre Künstler, sind sie die Herren dieser zerklüfteten Küste, der ausgefransten Inseln an der nördlichen Kante Norwegens. Von hier bis weit nach Osten, bis an die Grenze zu Russland, stellt sich das Land mit schroffen, nackten Felsküsten dem Ozean, ragt wie eine geballte Faust in die Barentssee. Niemand kann von sich behaupten, diesen Teil der norwegischen Küste wirklich zu kennen, und noch weniger bekannt ist die abgelegene Varanger-Halbinsel. Der flache, frostige, mit urzeitlichen Felsen übersäte Strand, die zahllosen Schären und tiefen Fjorde wirken im kupferfarbenen Licht wie von einer anderen Welt.

So etwas wie die Küste Norwegens gibt es auf der ganzen Erde nur einmal.

Sicher, theoretisch könnte man über Land von Bergen im Süden nach Vardø am östlichen Ende der Varanger-Halbinsel fahren. Aber schon ein kurzer Blick auf die Landkarte macht deutlich, dass ein Auto hier eher hinderlich wäre. Seit 120 Jahren verbinden die Schiffe der „Hurtigruten“ („schnellen Route“) die abgelegenen Gemeinden miteinander und mit dem Rest der Welt. Auf diesen Reisen spielt ein Kilometer mehr oder weniger keine Rolle – und in den Tagen der Mitternachtssonne verliert auch die Zeit an Bedeutung. Ihr Ablauf misst sich an der Abfolge der Häfen: Bodø, Svolvær, Tromsø.

So etwas wie die Küste Norwegens gibt es auf der ganzen Erde nur einmal. 2011 beendeten norwegische Geografen ein Projekt, bei dem sie drei Jahre lang die Länge des Küstenverlaufs neu vermaßen. Sie fügten Tausende Inseln und Inselchen, die zuvor nicht berücksichtigt worden waren, zu den alten Angaben hinzu. Dadurch wuchs die Länge der norwegischen Küsten um etwa 17700 Kilometer. Würde man die gesamte Küstenlinie aller Fjorde, Buchten und Inseln aneinanderreihen, erhielte man ein Band von 101.000 Kilometer Länge, das zweieinhalbmal um die Erde reichte. Dabei sind es in der Luftlinie nur 1800 Kilometer vom nördlichsten zum südlichsten Punkt des Landes.

Seine Grenzen festzulegen ist nicht gerade leicht: Ob man von den Bergen aus über die blauen Schluchten der Fjorde hinweg hinausschaut oder vom Bug eines kleinen Bootes landeinwärts – es ist kaum auszumachen, ob sich die See zwischen die norwegischen Felsen drängt oder ob das Land ins Meer hinausragt.

Wer an der norwegischen Küste entlangreist, erlebt den unablässigen Wechsel von Land und Wasser, gestaltet über Äonen von der rastlosen Kraft des Eises. Im Sognefjord, Norwegens längster Bucht, liegt der Meeresgrund schon weit im Binnenland nur ein paar hundert Meter vom Ufer entfernt in 1300 Meter Tiefe. Dafür gibt es weiter im Norden Zonen, in denen das Meer gerade mal hundert Meter tief ist. Und zwischen den äußersten Inseln der Lofoten – einer Abfolge von schneebedeckten Bergkuppen im Meer vor Norwegen – hat man oft sogar nur wenige Meter Wasser unter dem Kiel.

Weil hier ein Arm des Golfstroms fließt, ist die See relativ warm. Deswegen finden Menschen in dieser Region weit oberhalb des Polarkreises und auf der Breite der Nordspitze Alaskas noch ganz erträgliche Lebensumstände. Die Strömung ist jedoch keineswegs so berechenbar, wie Seekarten glauben lassen. Ein Chaos aus Wendungen und Wirbeln fließt in­ und durcheinander. Wer sich hier in einem Boot treiben lässt, könnte bald auf einem Felsplateau stranden, das nur knapp aus dem Meer emporragt, aber ebenso gut endlos zwischen den Schären herumdümpeln. Er könnte hinaus aufs Meer driften, dann aber doch wieder zurück zum Ufer, eingefangen von einem Wirbel, der sich unterhalb der Lofoten dreht. Die Strömung könnte ihn aber auch nach Norden und Osten bis in die Barentssee tragen.

Vom Deck eines Schiffes aus wirkt die Küste, als habe sich hier seit mehr als tausend Jahren nichts geändert. Ein nordischer Reisender namens Ottar war im späten 9. Jahrhundert auf seinem Weg in die Barentssee vorbeigekommen und hatte die Region das „weste land“ genannt. Das ist die altenglische Bezeichnung für „wüstes Land“, für unbesiedeltes Gebiet. Ottar ignorierte anscheinend, dass damals – wie heute immer noch – einige Menschen vom Volk der Samen an der Küste siedelten.

Die Küste wirkt, als habe sich hier seit mehr als tausend Jahren nichts geändert.

Wild und wogenumtost ist das Land geblieben. Draußen auf dem Meer erahnt man, welche Anziehungskraft die See auf Entdecker wie Roald Amundsen und Fridtjof Nansen hatte. Am Ufer aber, wo sich die Dalben des Hafens von Tromsø im stillen Wasser spiegeln, wirkt alles heimelig und anmutig.

Das Einlaufen der Hurtigruten­Schiffe wird hier zu einer kleinen Zeremonie. In den entlegensten Häfen ist das eine der Methoden festzustellen, welcher Tag gerade ist. Es mag drei Uhr früh sein, aber während die Mitternachtssonne lange Schatten wirft, gibt es Leute, die auf das Anlegen des Schiffes warten. Einige mögen in den Lagerhäusern zu tun haben, andere sind einfach da, weil es etwas zu schauen gibt.

Den Ankommenden empfängt selbst im kleinsten Hafen ein buntes Spektrum der norwegischen Schifffahrt: Fischerboote, Expressfähren, Versorgungsschiffe für die Ölplattformen, Segelboote, Tanker und Barkassen, schlanke Rennboote und schmucke Holzyachten. Hier und da entdeckt er vielleicht sogar noch eines dieser seltsamen Kanus mit der überlappenden Beplankung – scheinbar viel zu klein und zu verlottert, um es mit dem Nordmeer aufzunehmen. Trotzdem fahren sie hinaus.

„Trotzdem“– gibt es ein besseres Motto für diese raue, wunderbare Küste?

NG-Video: Die spektakulären Nordlichter Norwegens

(NG, Heft 12 / 2013, Seite(n) 132 bis 145)

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