Komplexe Emotionen: Die lange Trauerphase der Orcas
Das Orca Weibchen baute vermutlich eine starke Bindung zu seinem Kalb auf, bevor es verstarb, was die Rekorddauer seiner Trauerphase erklären könnte.

Der Orca mit der Bezeichnung J35 hat nach 17 Tagen von seinem toten Kalb abgelassen. Das Weibchen hatte das kurz nach der Geburt verstorbene Jungtier während dieser Zeit vor der Küste des Pazifischen Nordwestens mit der Nase über Wasser gehalten.
Das traurige Spektakel ist Experten zufolge ein Paradebeispiel für das komplexe Gefühlsleben der hochentwickelten Wale.
„Ich weiß, dass das in der [Walgruppe] J Pod nicht zum ersten Mal beobachtet wurde. Das erste Mal war vor etwa 15 Jahren“, sagt John Ford, ein Schwertwalforscher der University of British Columbia. „Die Wale haben einen sehr starken Drang, sich um ihre Jungen zu kümmern. Dieser Drang erstreckt sich augenscheinlich auch auf Jungtiere, die bei der Geburt sterben.“
J35 oder Tahlequah ist eine 20 Jahre alte Walkuh der Walschule J Pod, die schon seit Langem von Forschern begleitet wird. Ihre Mitglieder gehören zu der Population, die den Namen Southern Resident Killer Whales erhielt und zusammen mit den ebenfalls entfernt verwandten Walen der K Pod und L Pod ein riesiges Gebiet vor den Küsten von Seattle, Vancouver, Victoria und British Columbia bewohnen.
Es war durchaus bekannt, dass Orcas und Delfine sich bis zu einer Woche lang um ihre verstorbenen Jungen kümmern. J35s Totenwache begann allerdings schon am 24. Juli und dauerte dann 17 Tage. Das sei Experten zufolge die bisher längste beobachtete Trauerphase unter Schwertwalen.
Galerie: So wild wie die See - das Leben der Orcas

Manche Experten hatten gerätselt, warum J35 so lang an dem Kalb hing. Könnte es daran liegen, dass das Jungtier nach der Geburt noch etwa 30 Minuten lebte, bevor es verstarb? Jenny Atkinson glaubt, dass Tahlequahs Trauer wahrscheinlich tiefer sitzt, weil sie nach 17 Monaten der Trächtigkeit Gelegenheit hatte, eine emotionale Bindung zu ihrem Kalb aufzubauen, bevor es starb. Atkinson leitet das Whale Museum in Friday Harbour im kanadischen British Columiba
„Ich denke, das ist durchaus möglich“, stimmt Ford zu.
Der Tod des Kalbs ist ein schwerer Schlag für die J Pod, in der es seit drei Jahren keine erfolgreiche Geburt mehr gab. Insgesamt haben die drei Walschulen 75 Mitglieder, und ihnen läuft die Zeit davon. Ken Balcomb, der Gründer und Chefforscher des Center for Whale Research, gibt ihnen noch fünf Jahre.
„Es stecken noch maximal fünf Jahre an Fruchtbarkeitspotenzial in dieser Population“, wie er schreibt – also fünf Jahre, um Nachwuchs zu gebären, der die Zukunft der Schulen sichert. „Aber wenn wir das in diesen fünf Jahren nicht schaffen, wird es nicht mehr passieren.
J35 hielt ihr totes Kalb mehr als zwei Wochen lang an der Oberfläche. Forscher waren besorgt, dass sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzte, weil sie dafür so viel Energie aufwendete.

Balcomb verweist auf den Nahrungsmangel als Ursache der Krise. „Wir zeigen seit Langem, dass diese fischfressenden Wale immer dünner und dünner werden und dass die Todesrate steigt“, schrieb er auf der Website des Centers.
„Die Wale dieser gefährdeten Population sind auf Königslachse als Hauptnahrungsquelle angewiesen. Leider sind auch die Königsachse bedroht“, fügt er hinzu.
„Selbst ohne diesen Todesfall ist das eine Populationskrise“, sagt Atkinson. „Wenn sie überleben wollen, sind sie auf unser Verantwortungsbewusstsein und unseren Schutz angewiesen“.
Einige Forscher waren vor allem besorgt, dass Tahlequah dieses Martyrium womöglich nicht überleben könnte. Experten hatten beobachtet, wie sie ihr Kalb sogar auf rauer See an der Oberfläche hielt, teils mit der Hilfe der anderen Wale. Dafür waren große Energiereserven nötig. Der Walkuh scheint es nach dieser anstrengenden Zeit aber gut zu gehen, wie das Center for Whale Research berichtete.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht und am 23.09.2020 aktualisiert.
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