Lemuren machen sich womöglich Medizin aus Tausendfüßern

Rote Makis sind nur eines von vielen Tieren, die ihre Beschwerden mit Pflanzen oder anderen Tieren zu behandeln scheinen.

Von Jason Bittel
Veröffentlicht am 6. Aug. 2018, 17:46 MESZ
Rote Makis könnten Doppelfüßer nutzen, um Darmparasiten zu bekämpfen.
Rote Makis könnten Doppelfüßer nutzen, um Darmparasiten zu bekämpfen.
Foto von Louise Peckre

Im Allgemeinen ist es nie eine gute Idee, sich einen Doppelfüßer in den Mund zu stecken. Ebenso wenig empfehlenswert ist es, so lange auf einem der Tiere herumzukauen, bis es richtig wütend ist, und es sich dann über die Genitalien zu reiben.

Schließlich sind Doppelfüßer bekannt dafür, eine ganze Reihe toxischer Substanzen abzusondern, die Fressfeinde abschrecken sollen. Manche Arten können einem sogar Verätzungen zufügen.

Im November 2016 beobachtete die Verhaltensforscherin Louise Peckre dennoch, wie ein weiblicher Roter Maki im madagassischen Kirindy Forest einen großen Doppelfüßer aufhob. Das Weibchen kaute abwechselnd auf dem Insekt herum und rieb es sich rund um ihren Schwanz und ihre Geschlechtsteile ins Fell. Schlussendlich fraß es den Doppelfüßer auf.

Dann sah Peckre dabei zu, wie der Maki dieselbe Prozedur mit zwei weiteren Doppelfüßern wiederholte. Als das Weibchen fertig war, war ihre untere Körperhälfte von einer schaumigen Mischung aus Speichel und dem orangefarbenen Sekret des Krabbeltiers bedeckt.

Im Verlauf des Tages beobachtete sie das gleiche bizarre Verhalten bei fünf weiteren Makis aus zwei verschiedenen Gruppen. Was hatte das zu bedeuten?

Noch könne man das nicht mit Sicherheit sagen, sagt Peckre, die am Deutschen Primatenzentrum in Göttingen die Kommunikation der Lemuren erforscht. Aber in einer Studie, die in „Primates“ erschien, liefern sie und ihre Co-Autoren überzeugende Argumente dafür, dass die Roten Makis das Sekret der Doppelfüßer nutzen können, um ihre Darmparasiten zu bekämpfen.

REZEPTFREIE TAUSENDFÜSSER

Um zu verstehen, warum die Roten Makis ihre Genitalien mit Toxinen einreiben, sollte man wissen, dass diese Tierart eine größere Vielfalt an Darmparasiten aufweist als jede anderen Lemurenart.

Zudem können einige ihrer Fadenwürmer einen juckenden Ausschlag am Hinterteil der Lemuren verursachen, wenn die ausgewachsenen Würmer aus dem Anus austreten, um ihre Eier auf der umliegenden Haut abzulegen.

Studien haben gezeigt, dass eine der toxischen Substanzen, die Doppelfüßer produzieren, Benzochinon ist. Der chemischen Verbindung wurden bereits insektentötende und antimikrobielle Wirkungen nachgewiesen. Das Benzochinon soll wahrscheinlich Fressfeinde der Doppelfüßer abschrecken. Die Lemuren scheinen aber gelernt zu haben, die Verbindung nutzbringend einzusetzen.

Derek Hennen erforscht Tausendfüßer an der Virginia Tech. Der Entomologe findet, dass die Lemuren eine schlaue Taktik einsetzen, indem sie die Tiere so energisch reiben.

„Die Tausendfüßer geben mehr Sekret ab, wenn sie fortwährend gestört werden“, so Hennen. „Wenn sie bei der kleinsten Berührung sofort massenhaft Toxine absondern würden, wäre das kein sehr guter Verteidigungsmechanismus, da die Produktion neuer Toxine Zeit braucht.“  

Der nächste Schritt besteht Peckre zufolge darin, in einem Experiment zu testen, ob Benzochinon bestimmte Parasiten, die den Roten Maki befallen, tatsächlich tötet oder abschreckt.

Tausendfüßer produzieren toxische Verbindungen wie Benzochinon, die Fressfeinde abschrecken sollen.
Foto von Louise Peckre

SELBSTBEHANDLUNG

Rote Makis wären nicht die ersten Tiere, die ihre Wehwehchen selbst behandeln.

Vor Kurzem entdeckte man beispielsweise, dass Orang-Utans Blätter mit entzündungshemmenden Wirkstoffen kauen und auf ihre Haut legen. Andere Lemurenarten, Schimpansen, Braunbären und Igel gehören ebenfalls zu den Tieren, die sich selbst behandeln.

„Manche nutzen Pflanzen, manche nutzen Ameisen und manche nutzen Tausendfüßer“, sagt Michael Huffman vom Primate Research Institute der Universität Kyoto.

Er findet es besonders spannend, dass es der erste dokumentierte Fall eines Verzehrs von Tausendfüßern zu potenziellen medizinischen Zwecken ist. Für gewöhnlich würden die Tiere die Tausendfüßer nur an bestimmten Körperstellen reiben.

Hennen kannte bislang auch noch keinen Fall, bei dem ein Tier einen Tausendfüßer zu medizinischen Zwecken verzehrt hat.

VORBEUGUNG: DIE BESTE MEDIZIN?

Da Tausendfüßer nicht als wertvolle Nahrungsquelle für Rote Makis gelten, vermuten Peckre und ihre Co-Autoren, dass sie die Tiere aus anderen Gründen verzehren. Die Forscher mutmaßen, dass schon ein paar Tausendfüßer dabei helfen könnten, künftigen Parasitenbefall zu verhindern.

Noch ist nicht klar, wie genau die Tiere den Verzehr der giftigen Tausendfüßer verkraften. Vermutlich hilft das vorherige Abreiben aber dabei, die Krabbeltiere zu „entgiften“. Ein ähnliches Verhalten wurde bei Vögel beobachtet, die Ameisen an ihrem Gefieder reiben. Vermutlich wollen sie ihnen so ihre Ameisensäure entlocken und sie bekömmlicher machen.

Ein Roter Maki kaut auf einem Tausendfüßer. Sein Schwanz ist bereits feucht von Speichel und den orangefarbenen Sekreten des Tausendfüßers.
Foto von Japan Monkey Centre and Springer Japan KK, part of Springer Nature 2018

Kotanalysen ergaben, dass die Parasitenzahl in den Roten Makis zu Beginn der Regenzeit schlagartig zunimmt – also dann, wenn die Tausendfüßer für gewöhnlich aus dem Boden krabbeln. Es scheint also fast so, als stünde den Lemuren ihre lebende Apotheke genau dann zur Verfügung, wenn sie sie am dringendsten brauchen.

Huffmann hat sich intensiv mit dem Verhalten von Tieren beschäftigt, die sich selbst medizinisch behandeln. Er ist skeptisch, wenn es darum geht, ob die Tiere tatsächlich vorausschauend handeln.

„Die kurze Antwort darauf lautet: nein. Es gibt keine guten Beweise für Prophylaxe bei Tieren“, sagt Huffman.

Allerdings sei ihm zufolge jedes Tier auf dem Planeten für Krankheiten und Parasiten anfällig. Daher macht es durchaus Sinn, dass jede Art Wege findet, „um die Beschwerden zu behandeln und zu ihrem ‚Normalzustand‘ zurückzukehren“, sagt er.

Ob die Tiere das aber bewusst tun, wurde bisher nicht nachgewiesen.

Peckre findet, dass die vielen Geheimnisse rund um die Lemuren intensivere Schutzmaßnahmen anregen sollten, die das Ökosystem erhalten, welches sie bewohnen. Ganze 95 Prozent aller Lemurenarten laufen Gefahr auszusterben, wie es vor Kurzem auf einem Treffen der führenden Primatenwissenschaftler der Welt hieß.

„Der Ort, an dem wir leben, wird stark durch Entwaldung bedroht“, sagt Peckre. „Daher ist jeden Tag ein kleiner Kampf, um dort überhaupt forschen zu können.“

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