Hindernistraining für Quallen: Selbst kleinste Organismen können lernen

Wie lernfähig sind Lebewesen mit wenigen Nervenzellen? Ein Experiment mit der Karbischen Würfelqualle hat überraschende Ergebnisse geliefert – und neue Erkenntnissen über die Evolution gleich mit.

Von Insa Germerott
Veröffentlicht am 2. Okt. 2023, 09:48 MESZ
Eine durchsichtige Würfelqualle vor schwarzem Hintergrund.

Schlaues Tierchen: Obwohl die karibische Würfelqualle nur wenige Millimeter groß ist und ein einfaches Nervensystem besitzt, ist sie bereits lernfähig.

Foto von Jan Bielecki

Sie ist lediglich so groß wie ein Fingernagel und besitzt nur wenige Nervenzellen – trotzdem ist die karibische Würfelqualle (Tripedalia cystophora) ein überraschend intelligentes Lebewesen. Denn: Sie kann aus Erfahrungen lernen, ähnlich wie wir Menschen und andere komplexe Lebewesen. Das konnten Biolog*innen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) und der Universität Kopenhagen nun erstmals nachweisen. 

Im Rahmen ihrer Studie, die in der Zeitschrift Current Biology erschien, trainierten die Forschenden die kleinen Quallen – mit erstaunlichen Ergebnissen. 

Kleine Qualle, komplexes Sehsystem

Trotz ihrer Größe verfügt die Würfelqualle über ein komplexes Sehsystem mit 24 Augen. Mit ihnen navigiert sie durch ihren Lebensraum – das trübe Wasser der karibischen Mangrovensümpfe –, jagt Wasserflöhe und weicht Unterwasserwurzeln aus. 

Doch wie lernen die Quallen, den Hindernissen in ihrer Umgebung auszuweichen? Um diese Frage beantworten zu können, fingen die Forschenden an, die Tiere im Labor darauf zu trainieren, Hindernisse zu erkennen und ihnen gezielt aus dem Weg zu gehen. 

Dazu simulierte das Team den Lebensraum der Qualle in einem Wasserbecken mithilfe von grauen und weißen Streifen an der Innenwand. Graue Streifen bedeuteten Mangroven, weiße Steifen standen für die Wasserumgebung. Würfelquallen nehmen räumliche Entfernungen über derartige Farbkontraste wahr. Im Laufe des Experiments variierten die Forschenden diese Kontraste, um zu sehen, ob sich die Tiere den neuen Umgebungsbedingungen anpassen. 

Wissen kompakt: Quallen
Was wisst ihr wirklich über Quallen? Im Laufe ihrer langen Evolutionsgeschichte entwickelten sie eine faszinierende Vielfalt an Formen, Farben und Größen. In ihren Reihen befindet sich das einzige bekannte "unsterbliche" Tier der Welt.

Würfelquallen lernen aus Erfahrungen 

Während die Quallen am Anfang des Experiments noch oft gegen die simulierten Mangrovenwurzeln stießen, konnten die Forschenden schon nach wenigen Minuten einen Unterschied in ihrem Verhalten feststellen: Die Tiere vergrößerten ihren durchschnittlichen Abstand zu den grauen Streifen um etwa 50 Prozent – und prallten nur noch halb so oft gegen sie. 

„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Quallen durch die Kombination von visuellen und mechanischen Reizerfahrungen lernen können“, sagt Anders Garm, Professor für Meeresbiologie an der Universität Kopenhagen, Dänemark. Es braucht also die visuelle Wahrnehmung der Quallen und den mechanischen Aufprall am Hindernis. 

Auf neuronaler Ebene sieht der Lernprozess laut den Forschenden folgendermaßen aus: Die visuellen Sinneszentren, die sogenannten Rhopalia, enthalten nicht nur die Augen der Quallen, sondern erzeugen auch elektrische Signale. Diese werden bei einem Zusammenstoß mit einem Hindernis ausgelöst und sorgen dafür, dass ein weiteres Signal ausgesendet wird, das die Würfelqualle schließlich zum Ausweichen bringt. 

BELIEBT

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    Bei diesem Lernprozess verknüpfen die Tiere ihnen Bekanntes, in diesem Fall das Ausweichen bei Hindernissen in ihrer gewohnten Umgebung, mit den neuen Informationen in der Laborumgebung – und ändern aufgrund ihrer neuen Erfahrungen ihr Verhalten. Ein Prozess, der als assoziatives Lernen bezeichnet wird. „Das ist eine höhere Form des Lernens, als man von so einem Lebewesen erwarten würde“, sagt Dr. Jan Bielecki vom Physiologischen Institut der CAU, der die Quallen in seinem Labor trainiert. 

    Eine Frage der Evolution: Seit wann lernen Organismen?

    Die Forschenden zeigen mit ihrer Studie, dass selbst kleinste Lebewesen wie die Würfelqualle mit ihrem einfach entwickelten Nervensystem bereits zu einer fortgeschrittenen Form des Lernens fähig sind. „Wenn bereits diese Tiere in der Lage sind zu lernen, könnte es sich um eine grundlegende Fähigkeit von Nervenzellen oder neuronalen Netzwerken handeln“, sagt Bielecki. Das deute darauf hin, dass die Wurzeln von Lernen und Gedächtnis bereits in den Anfängen der Evolution liegen – und damit älter sind als in der Forschung bisher angenommen wurde. 

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