Das mysteriöse Artensterben der Karibus

Jahrtausendelang zogen riesige Herden über den Kontinent. Heute schwinden die Bestände. Warum? Niemand weiß es.

Von Neil Shea
Veröffentlicht am 7. Dez. 2023, 19:49 MEZ
Eine Herde Karibus in den Brooks Range in Alaska

Karibus (tutu auf Inupiat) durchqueren die verschneiten Berge der Brooks Range in Alaska. Jedes Frühjahr beginnen Karibus in der nordamerikanischen Arktis die Wanderung zu ihren Kalbungsplätzen

Foto von Katie Orlinsky

Clyde Morry jagt der Herden nach, unerbittlich. Sein Schneemobil speit feine weiße Kristalle. Ich folge ihm, presche über denselben gefrorenen Boden, lenke meine Maschine nach rechts und links. Aber ich bin einfach nicht so geschickt und auch nicht so hungrig wie Morry: auf das Töten, das schmackhafte Fleisch, die Wärme, die seine Hände durchströmen wird, wenn er das große Karibu schlachtet. Obwohl es fast vier Grad unter null ist und der Aprilwind, der über den Gebirgspass peitscht, die Kälte verstärkt, trägt Morry keine Handschuhe. „Machen mich nur langsamer“, sagt er später. Alles an ihm ist flink – sein Temperament, sein Basketballspiel, sein Umgang mit dem Abhäutemesser. Und das hier ist keine stilvolle Jagd, sondern ein wildes Verfolgungsrennen. Morry nimmt noch ein paar abrupte Wendungen, kommt dann schlitternd zum Stehen, reißt das Gewehr von der Schulter und legt an. Ein Knall wie ein platzender Luftballon, kurz und dumpf vor den mächtigen Bergen, dem leeren Himmel.

Etwa 100 Meter entfernt geht eine Karibukuh zu Boden. Der Rest der Herde, zehn bis 15 Muttertiere und ihre einjährigen Kälber, läuft weiter, doch nicht allzu weit. Als wüssten sie, dass das Schlimmste vorbei ist. Morry und ich fahren zu der Kuh. Es war ein sauberer Schuss. Er zieht ein Messer aus seinem schwarzen Overall und beugt sich über den Kadaver. Als Erstes trennt er den Kopf ab. Nach dem Glauben seines Volkes, der Nunamiut von Anaktuvuk Pass in Alaska, sind diese ersten Schritte am wichtigsten. Vorsichtig, fast zärtlich, trägt er den Kopf ein kleines Stück weit weg und legt ihn sanft in den Schnee, die Unterseite nach oben. Die inua – die Seele – der Kuh kann nun entweichen und in die Geisterwelt fliegen, wo sie ein Schutzgeist trösten und in einem neuen Körper zur Erde zurückschicken wird. Das ist der Zyklus von Respekt, Wiederkehr und Erneuerung. Und das ist es, was der 37-jährige Morry kennt, gelernt hat und an seine Kinder weitergibt.

Ein Festessen für die Großfamilie

Liegt der Kopf an seinem Platz, beginnt Morry mit dem Zerlegen. Schnelle, scharfe Schnitte. Schlüpfrige, rote Hände. Wenn seine Finger kalt werden, schüttelt er sie, haucht darüber und presst sie gegen den Tierkörper, um etwas von der versiegenden Wärme aufzusaugen. Als das Fleisch schließlich auf einen Schlitten gestapelt ist, sagt Morry: „Vielleicht ziehe ich mir für die Rückfahrt Handschuhe an.“ Den Weg zurück nach Anaktuvuk Pass legt er in weniger halsbrecherischem Tempo zurück, was nicht heißt, dass er langsam fährt – das Fleisch soll nicht gefrieren. Einmal kann ich ihn sogar überholen. Im Vorbeifahren bemerke ich sein Grinsen. Morry hat keinen anderen Job als diesen, er möchte auch keinen anderen.

Mithilfe der Jagd versorgt er seine Großfamilie. Heute Abend wird man bei ihm zu Hause viel Essen auftischen, und es werden eine Menge Leute zusammenkommen, um es zu verspeisen. Morrys Vater wird mich fragen: „Hast du gesehen, wie er den Kopf umgedreht hat?“ „Ja“, werde ich antworten – und der Ältere: „Vergiss das nicht.“ Das von Clyde Morry getötete Karibu gehörte zur Westarktischen Herde, Western Arctic, kurz „die Western“ genannt. Anfang 2021 bildete sie eine der größten Gruppen von Karibus in Alaska. Als Morry in den 1990er-Jahren jagen lernte, stand die Western kurz davor, ihr Maximum von fast 500000 Tieren zu erreichen, die ein Gebiet von der Größe Kaliforniens durchstreiften.

Auf ihren Wanderungen im Frühjahr und Herbst passierten viele von ihnen Morrys Haus. Für seine Gemeinschaft stellten sie in dieser straßenlosen, äußerst abgelegenen Region in Nordalaska eine beständige Quelle der Nahrung und des spirituellen Wohlbefindens dar. 2021 hatte sich die Anzahl der Individuen in der Western jedoch um mehr als die Hälfte verringert. In manchen Jahren zögen nur vereinzelt Karibus durch Anaktuvuk Pass, sagt Morry. In anderen kämen sie um Wochen verspätet oder gar nicht. Das ist nicht unbedingt ungewöhnlich – die Größe von Karibuherden kann im Lauf der Zeit fluktuieren. Es sind wilde Geschöpfe, die ihren eigenen Instinkten, Zeitplänen und Beweggründen folgen.

Die Westarktische Karibuherde (kurz „Western“) sammelt sich im Sommer auf windigen Berghängen, um den Stechmücken zu entgehen. Sie hat wie die meisten Herden massive Verluste erlitten.

Foto von Katie Orlinsky

Der dramatischer Rückgang der Bestände

In einem größeren Kontext betrachtet, ist der Rückgang der Western allerdings zutiefst beunruhigend, denn er ist kein Einzelfall. Wandernde Tundrakaribus haben in Kanada und Alaska lokal unterschiedliche Bezeichnungen. In Russland und Norwegen nennt man die fast identischen Tiere Rentiere. Sie alle leben in extremen Habitaten, weit nördlich zwischen der polaren Baumgrenze und den Ausläufern der arktischen Tundra. Und sie alle begeben sich zweimal im Jahr auf lange Wanderungen. Und ganz gleich, wie man sie nennt oder wo man sie sucht – seit Jahrzehnten verschwinden diese Tiere unmittelbar vor unseren Augen. Zwischen den späten 1990er-Jahren und 2018 ist die Zahl der Rentiere von rund fünf Millionen um etwa 56 Prozent auf zwei Millionen gesunken. Während es nach 2018 schwieriger wurde, Daten über Rentiere in Russland zu erhalten, setzte sich der Trend rückläufiger Populationen in Nordamerika fort.

Von 13 größeren Herden in Kanada und Alaska haben die meisten weitere Einbußen erlitten. Mindestens eine, Bathurst genannt, ist derart geschrumpft, dass sie sich binnen weniger Jahre komplett auflösen könnte. Über die Ursachen ist man sich nicht einig. Keine Krankheit konnte festgestellt werden. Keine gesellschaftlichen oder politischen Maßnahmen scheinen den Schwund zu stoppen oder wenigstens zu verlangsamen. Wer südlich des Polarkreises lebt, mag das Problem abstrakt finden – eine weitere Notiz in einer vom Artensterben gezeichneten Ära. Doch im hohen Norden sieht man die Sache anders.

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    Foto von National Geographic

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