Aus zwei wird eins: Verletzte Rippenquallen verschmelzen miteinander
Durch Zufall und mit großem Erstaunen haben Forschende beobachtet, wie zwei Rippenquallen über Nacht nahtlos zu einem Tier zusammenwachsen. Eine Fähigkeit, die bisher nicht bekannt war.
Zwei Rippenquallen, die zu einem Individuum zusammengewachsen sind.
Es klingt wie eine Szene aus einem Science-Fiction-Film: In einem der Meerwassertanks in ihrem Labor, in dem Forschende eine Population von Meerwalnüssen – (Mnemiopsis leidyi) aus dem Stamm der Rippenquallen – halten, machen sie eine seltsame Entdeckung. Ein Exemplar, das nicht nur auffällig groß ist, sondern auch zwei Körperenden und Sinnesstrukturen in doppelter Ausführung aufweist.
Die Vermutung des Teams unter der Leitung von Kei Jokura, Biowissenschaftler an der englischen University of Exeter: Die ungewöhnliche Meerwalnuss ist das Ergebnis der Verschmelzung von zwei verletzten Individuen.
Körper wachsen in Rekordzeit zusammen
Um diese Theorie zu prüfen, entfernten die Forschenden bei anderen Rippenquallen aus der Labor-Population Teile der Zellschichten, aus denen ihre etwa 100 Millimeter kurzen Körper bestehen. Die so präparierten Tiere setzten sie paarweise dicht nebeneinander. In neun von zehn Fällen wuchsen zwei ursprüngliche Individuen innerhalb einer Nacht nahtlos zu einem zusammen.
Das bedeutet: Ihre Muskeln und Verdauungstrakte verschmolzen und ihre Nervensysteme wurden eins. Auf das Antippen des ursprünglich einen Tiers reagierte der gesamte neue Organismus. „Wir haben mit Erstaunen beobachtet, dass eine mechanische Stimulation auf einer Seite der fusionierten Qualle zu einer synchronisierten Muskelkontraktion auf der anderen Seite führt“, sagt Jokura.
Laut der Studie – erschienen in der Zeitschrift Current Biology –, in der das Forschungsteam seine Beobachtungen beschreibt, waren in der ersten Stunde nach Beginn der Verschmelzung noch individuelle, spontane Bewegungen auf beiden Seiten des zusammenwachsenden Körpers zu erkennen. Doch bereits nach zwei Stunden waren 95 Prozent der Muskelkontraktionen des neuen Individuums vollständig synchron.
Nahrungspartikel, die die verschmolzenen Rippenquallen aufnahmen, bahnten sich ihren Weg durch die Kanäle des geteilten Verdauungstrakts. Beide Eingeweide schieden Abfallprodukte aus, dies allerdings nicht synchron. Die Einheiten aus zwei verletzten Tieren überlebten im Schnitt mindestens drei Wochen.
Regeneration: von Quallen lernen
Mitglieder des Stammes der Rippenquallen (Ctenophora) haben eine außergewöhnlich gute Regenerationsfähigkeit. Wird eine ihrer Körperhälften beschädigt oder zerstört, ist die andere dazu in der Lage, diese wiederherzustellen. Dass zwei verletzte Rippenquallen zu einem einzigen Individuum zusammenwachsen können, ist jedoch eine überraschende neue Erkenntnis. Welche Mechanismen und Prozesse dies ermöglichen, ist derzeit noch völlig unklar.
„Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass Ctenophoren möglicherweise kein System zur Allorekognition besitzen“, sagt Jokura. Das heißt, ihnen fehlt offenbar die Fähigkeit, zwischen sich selbst und anderen Individuen zu unterscheiden.
Das Forschungsteam möchte nun weitere Studien durchführen, um die Verschmelzung der Rippenquallen genauer zu untersuchen. Ihm zufolge könnten die Ergebnisse auch für andere Fachgebiete von Interesse sein.
Die Mechanismen der Allorekognition seien mit dem Immunsystem verwandt, die Verschmelzung von Nervensystemen sei für die Regenerationsforschung relevant. „Die Entschlüsselung der molekularen Mechanismen, die dieser Verschmelzung zugrunde liegen, könnte diese wichtigen Forschungsbereiche voranbringen“, so Jokura.