Neue Ära in der Arktis: Warum Eisbären immer öfter Rentiere jagen
Achtung: In diesem Artikel werden Bilder von toten Tieren und Blut gezeigt.
Es ist Ende April 2022, als Tierfotograf Florian Ledoux und sein Team an der Fjordküste auf Spitzbergen etwas Ungewöhnliches bemerken. „In dieser Nacht stießen wir auf mehrere Rentierkadaver, die verstreut entlang der Küste und der Seitentäler im Schnee lagen”, sagt Ledoux. Nicht weit davon: eine ruhende Eisbärin.
Ob das Tier etwas mit der Tötung der Rentiere zu tun hat, können sie zunächst nicht sagen. „Doch es dauerte nicht lange, bis sie sich wieder auf die Jagd machte”, sagt Ledoux. „Mit einer unerbittlichen Ausdauer verfolgte die Bärin ein neues Rentier.” So gelingen den vier Männern, die hier sind, um Tiere zu filmen und zu fotografieren, einzigartige Aufnahmen.
Eisbärin mit großer Ausdauer
Dass Eisbären auf Spitzbergen (auch Svalbard) vereinzelt Rentiere jagen, ist bekannt, doch nur wenig dokumentiert – vor allem in der Winterzeit. Über Monate bleiben Ledoux und sein Team in der Nähe der Bärin, um ihr Verhalten zu beobachten. „Sie schien sich fast ausschließlich von Rentieren zu ernähren“, sagt Ledoux.
Sie taufen die Bärin „The Grinch“, da die Comicfigur in einer Verfilmung ebenfalls Rentiere jagt. Doch das ist erst der Anfang einer größeren Geschichte.
Ledoux hat nun sprichwörtlich Blut geleckt: „Wir wollten mehr über dieses Verhaltensmuster erfahren und wissen, ob sie ein Einzelfall ist.“ Schnell stellt sich heraus: Das ist sie nicht. Ledoux entdeckt in den folgenden Monaten auch andere Eisbären, die offenbar einen ähnlichen Appetit auf Rentiere haben wie „The Grinch”.
Ein Leben in Boxen für gute Bilder
Ledoux ist Kameramann und Tierfotograf aus Frankreich. Er hat unter anderem an Filmen für BBC und Disney+ mitgewirkt. Um nah am Geschehen zu sein, lebt der 35-jährige vier Monate im Jahr in einer Box – zwei Meter lang, 1,20 Meter breit und gerade so konzipiert, dass man in der eisigen Kälte in der Nähe des Nordpols überleben kann. Dort haust er gemeinsam mit dem Expeditionsleiter Oskar Strøm. Mit zwei weiteren Begleitern, zwei Schneemobilen und zwei solcher Boxen zieht er monatelang durch die weiße Weite Spitzbergens – dann, wenn das Packeis das Meer bedeckt und die Tage länger werden. Meistens von Februar bis Ende Mai.
Ein Eisbär jagt ein kleines Spitzbergen-Ren. Diese Aufnahmen von Florian Ledoux sind eine bislang einzigartige Dokumentation eines wenig beobachteten Jagdverhaltens der Könige der Arktis.
Von seiner ersten Beobachtung bis heute hat Ledoux mehr als 50 Jagdszenen verfolgt. Acht erfolgreiche Rentierjagden von Eisbären hat er gefilmt.
Ablauf der Rentierjagd
Die meisten Beutezüge beginnen mit der Spaltung einer Rentierherde, bevor ein einzelnes Tier erbeutet wird, sagt er – so wie man es auch von Löwen kennt. „Gelegentlich gelingt es den Bären auch, ein isoliertes Rentier anzugreifen.” Anders als andere Rentierarten, die in Herden von vielen hundert Tieren durchs Land ziehen, lebt das Spitzbergen-Ren in kleinen Gruppen.
Vor einer Jagd verfolgen die Eisbären ihre Beute teilweise mehrere Stunden über Hügel und durch den Schnee. „Die Bären haben dabei eine unfassbare Ausdauer”, sagt Ledoux. Wenn die Situation günstig ist – zum Beispiel der Schnee tiefer oder die Hänge steiler – kommt es zum Angriff.
Die längste von Ledoux beobachtete Jagd dauerte drei Minuten und 50 Sekunden. In anderen Fällen seien die Eisbären eine bis zwei Minuten gerannt, bevor sie aufgaben – oder angriffen. „Nach der erfolgreichen Jagd sind die Bären oft erschöpft, stehen neben oder über dem Rentier und holen erstmal mehrere Minuten lang einfach Luft.“
Fast zwei Minuten ist diese Eisbärin gesprintet, um ihre Beute zu erlegen.
Oft seien es jüngere Bären, die sich auf die Rentierjagd spezialisiert haben, so Ledoux weiter. Während deren Mütter sowohl Rentiere als auch Robben jagen würden, fokussierten sich die Kinder auf Rentiere. Selbst, wenn teilweise genügend Eis da sei, um auf Robbenjagd zu gehen.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und historische Beobachtungen
Die beobachteten Fälle hat Ledoux auch dem Norwegischen Polarinstitut in Tromsø berichtet. Dort forscht Jon Aars seit über 20 Jahren an Eisbären. „Als ich 2003 anfing, hier zu arbeiten, war die Rentierjagd von Eisbären absolut kein Thema”, sagt er im Videocall. „In den vergangenen Jahren wurden die Sichtungen dann immer häufiger. Und es scheint ein Phänomen zu sein, das sich auch nicht auf eine Region in Spitzbergen begrenzt.“
Über Social Media hatte das Institut vor einigen Jahren dazu aufgerufen, Sichtungen von Jagden zu melden. Dutzende beobachtete Vorfälle seien seitdem eingegangen, mal von Forschenden, mal von Einheimischen. „Oft bekommen wir aber auch Bilder von toten Rentieren und Eisbärspuren. Eisbären fressen jedoch auch verendete Tiere. Diese Bilder belegen also nicht unbedingt, dass hier auch ein Rentier gejagt wurde“, sagt Aars. Spuren können zwar den Kampf zeigen, diese verwehen im Schnee jedoch sehr schnell. „Als Wissenschaftler reicht uns das nicht. Wir brauchen richtige Beweise.“
Studie soll Klarheit bringen
Diese sollen in den kommenden zwei Jahren gesammelt werden: Nicht zuletzt die Beobachtungen von Ledoux haben dazu geführt, dass Jon Aars und andere Forschende des Instituts in diesem Jahr Geld für eine Studie erhalten haben. Mithilfe von Senderdaten wollen sie mehr darüber herausfinden, wie oft Bären Rentiere jagen und damit mehr wissenschaftlich valide Informationen bekommen.
Eine der ersten Studien, die auf die Rentierjagd von Eisbären einging, widerlegte im Jahr 2000 die bis dahin weitläufige Meinung, dass Eisbären die Huftiere nicht angreifen würden. Sie kam jedoch zu dem Schluss, dass „Rentiere für die Nahrungsökologie der Eisbären auf Spitzbergen wahrscheinlich von geringer Bedeutung sind”. Dass dies für manche Individuen mittlerweile falsch ist, zeigen die Beobachtungen von Ledoux.
Neues Beuteschema wegen Klimaerwärmung
Sowohl Ledoux als auch Jon Aars nennen zwei Gründe, die zu dieser Entwicklung geführt haben. Da ist erstens das schmelzende Meereis: Eisbären ernähren sich eigentlich vor allem von Robben. Diese jagen sie meist an Eislöchern, an denen die Tiere auftauchen, um Luft zu holen. „Früher war das Meer in Svalbard über lange Zeit zugefroren, nur im Sommer und Herbst nicht”, sagt Jon Aars. „Heute sind es teilweise nicht einmal mehr vier Monate. Der Zugang der Eisbären zu ihrer eigentlichen Hauptnahrung, Robben, wird also mehr und mehr eingeschränkt.“
Endliches Eis: In Spitzbergen nimmt die Zeit, in der das Meer zugefroren ist, von Jahr zu Jahr ab. Von durchschnittlich 10 Monaten im Jahr sind noch vier geblieben.
Neben Rentieren stünden auch Küken und Eier öfter auf dem Speiseplan, sagt Aars. „Die Eisbären plündern auch vermehrt Nester. Von Vogelexperten wissen wir, dass Jahre, in denen es wenig Packeis gibt, sehr schlecht für die Brut und damit auch die Population der Vögel sind.”
Mehr Rentiere in Spitzbergen
Der zweite Grund für die Rentierjagd der Eisbären ist nach Angaben von Aars die positive Entwicklung der Rentier-Population in Spitzbergen: In den vergangenen 60 Jahren hat sich die Zahl der Spitzbergen-Ren (Rangifer tarandus platyrhyncus) nach Angaben einer Studie aus dem Jahr 2019 verzwanzigfacht. 1925 war die kleinste aller Rentierarten weltweit fast ausgerottet. Dann wurde die Jagd auf die Tiere verboten – ein Grund, warum heute deutlich mehr Tiere als damals durch den Schnee ziehen.
Unabhängig von diesen Gründen gibt es noch eine Entwicklung, die zu mehr Beobachtungen führt: Es sind heute schlicht mehr Menschen auf Spitzbergen unterwegs – also werden Eisbären mehr beobachtet. Nicht nur von Forschenden, auch von Tourist*innen. Fast 100.000 sind es pro Jahr. Jeder, der zu Besuch kommt, zahlt rund 12,50 Euro in den Svalbard Environmental Protection Fund ein.
Auswirkungen auf die Rentierpopulation
Aus diesem Topf soll nun auch die Studie über Rentiere und Eisbären finanziert werden. Erforscht werden soll in den kommenden zwei Jahren auch, welchen Einfluss das neue Jagdverhalten auf die Rentierpopulation in Spitzbergen hat, erklärt Aars.
Rentiere gelten in der Region als Schlüsselspezies: Sie fressen Flechten, Gräser und andere Pflanzen, verhindern die Überwucherung bestimmter Pflanzenarten und fördern die Biodiversität. Durch ihr Trampeln wird der Boden aufgelockert, von ihrem Aas leben unter anderem Polarfüchse. „Wenn in harten Wintern viele Rentiere verenden, hat das zum Beispiel eine positive Auswirkung auf die Vermehrung der Polarfüchse: Sie bekommen im Frühling darauf dann mehr Junge.“
Rentiere als Rettung für Eisbären?
Wie das Ökosystem in Spitzbergen in den kommenden Jahren mit der Erderwärmung klarkommen wird, ist offen. Auch, ob die Eisbären den Verlust des Meereises überleben werden – auch wenn sie ein neues Beuteschema entwickeln. Ohnehin gebe es noch viele Fragen zur Rentierjagd der Eisbären, sagt Ledoux. Zum Beispiel, wie erfolgreich die Jagd im Sommer ohne Schneedecke sein kann.
Ledoux will weitermachen, an anderen Orten. „Es ist enorm wichtig, das Verhalten der Eisbären weiter zu untersuchen, um die weitreichenden Auswirkungen des Klimawandels besser zu verstehen“, sagt Ledoux. „Meine Bilder sollen mehr sein als eine visuelle Dokumentation: Sie sollen auch Hoffnung geben und uns zeigen, dass die Tiere eine große Widerstandskraft haben und sogar mit dem Klimawandel zurechtkommen – wenn wir sie in Ruhe lassen.“