Die Sprache der Delfine: Wir müssen reden

Sie sind eine Art E. T. unter Wasser – eine fremde Intelligenz. Delfine geben laute Geräusche von sich, um ihre Jungen zu erziehen oder Haie zu vertreiben. Wissenschaftler analysieren nun, wie Delfine miteinander kommunizieren.

Von Joshua Foer
Foto von Brian Skerry

Zusammenfassung: Delfine sind intelligente Tiere . Ihr Gehirn gehört zu den größten im Tierreich. Besonders die Vielfalt an Tönen, die Delfine unter Wasser produzieren, beschäftigt die Wissenschaft. Hochfrequenz-Aufnahmegeräte können das ganze Spektrum der Laute unter Wasser einfangen, neue Auswertungsprogramme ermöglichen eine genauere Analyse der Aufzeichnungen. Forscher versuchen nun, diese Technologien zu nutzen, um mit den Säugetieren in Austausch zu treten. Ihr Ziel: den Code einer möglichen Delfinsprache zu entschlüsseln.

Hector und Han sind Profis. Immer wieder strecken sie ihre spitzen Schnauzen aus dem Wasser. Sie warten eifrig auf Kommandos. Sie können sich auf Befehl mit Drehungen in die Luft schrauben. Sie können rückwärts auf dem Schwanz Wasserski fahren. Sie können mit den Brustflossen den Touristen zuwinken, die mehrmals in der Woche hier am Roatán Institute for Marine Sciences (RIMS) vorbeikommen, einer Ferien- und Forschungseinrichtung auf einer Insel vor der Küste von Honduras.

Aber die Wissenschaftler des RIMS interessieren sich weniger für das, was diese beiden jungen ausgewachsenen Delfinmännchen können. Sie interessierten sich dafür, wie sie denken. Wenn Hector und Han das Handzeichen für „Macht etwas Neues“ sehen, wissen sie, was zu tun ist. Die Delfintrainerin Teri Turner Bolton macht die Probe. Sie führt die Handflächen über dem Kopf zusammen. Dann hält sie noch die Fäuste nebeneinander – das Zeichen, dass sie es vereint tun sollen. Sie hat den Delfinen mitgeteilt: „Zeigt uns etwas, was wir heute noch nicht gesehen haben – und tut es gemeinsam.“

Hector und Han verschwinden unter der Wasseroberfläche. Stan Kuczaj, ein Experte für vergleichende Psychologie, taucht mit und zeichnet ihr Verhalten mit einer Unterwasser-Videokamera samt Mikrofonen auf: Hector und Han zirpen sich mehrere Sekunden lang an; dann drehen beide langsam einen Purzelbaum unter Wasser und schlagen dreimal gleichzeitig mit dem Schwanz. Rund ein Dutzend solcher Kunststücke beherrschen sie. Und es ist unglaublich: Sie zeigen keines, das sie während dieser Vorführung bereits aufgeführt haben. Oben formt Bolton mit Daumen und Mittelfinger einen Kreis. Damit sagt sie den Delfinen: „Macht weiter, gemeinsam.“ Sie tun es. Zunächst lassen sich die Tiere tiefer sinken, tauschen einige hochfrequente Pfiffe aus und lassen gleichzeitig Luftblasen aufsteigen. Schließlich drehen sie an der Oberfläche Seite an Seite eine Pirouette, dann tanzen sie synchron auf dem Schwanz über das Wasser.

Für dieses bemerkenswerte Verhalten gibt es zwei Erklärungsmöglichkeiten. Entweder ahmt ein Delfin den anderen nur so schnell und präzise nach, dass es aussieht, als hätten sie sich abgesprochen. Dann wäre das, was wir als koordinierten Ablauf wahrnehmen, eine Täuschung. Oder es ist wirklich so: Die beiden Tümmler hecken mit den Pfiffen, die sie unter Wasser austauschen, einen gemeinsamen Plan aus.

Wenn ein Schimpanse begehrlich auf ein Stück Obst schaut oder ein Gorillamann sich auf die Brust trommelt, um einen näher kommenden Konkurrenten zu warnen, finden wir uns in diesen Verhaltensweisen ohne Weiteres selbst wieder. Wir können uns vorstellen, was die Tiere vielleicht denken. Immerhin sind ja auch wir eine Art Menschenaffen, nahe Verwandte sozusagen. Delfine dagegen sind ganz anders.

Sie „sehen“ mit Ultraschall, und das so exakt, dass sie aus 30 Meter Entfernung erkennen, ob ein Gegenstand aus Metall, Kunststoff oder Holz besteht. Sie können die Echoortungssignale anderer Delfine mithören und wissen, was diese sich gerade ansehen. Delfine atmen nicht automatisch wie wir und alle Primaten. Wenn Delfine schlafen, ruht immer nur eine Hälfte ihres Gehirns. Und ihre Augen arbeiten unabhängig voneinander. Sie sind eine fremde Intelligenzform, die mit uns auf demselben Planeten lebt. Eine Art E. T. unter Wasser.

Eines allerdings haben sie mit uns gemeinsam: Auch Delfine sind sehr geschwätzig. Sie pfeifen und klicken nicht nur, sie geben auch laute Geräusche in einer weiten Frequenzbreite von sich, um ihre Jungen zu disziplinieren oder Haie zu vertreiben. Wissenschaftler versuchen seit Langem herauszufinden, was solche Töne besagen. Diese höchst sozialen Tiere mit ihrem großen Gehirn würden sicher nicht so viel Energie darauf vergeuden, unter Wasser zu plappern, wenn diese Äußerungen nicht irgendeinen sinnvollen Inhalt hätten. Aber auch nach einem halben Jahrhundert der Forschung kann bisher niemand sagen, was die Grundeinheiten der Lautäußerungen bei Delfinen sind und wie sie von den Tieren zusammengesetzt werden, um Informationen zu vermitteln. Überspitzt gesagt: Wenn Delfine tatsächlich eine Sprache besitzen, dann kennen wir weder deren Silben noch die Worte, geschweige denn den Satzbau.

„Wenn wir es schaffen würden, bestimmte Äußerungen mit konkreten Verhaltensweisen zu verbinden, wären wir einen großen Schritt weiter“, sagt Kuczaj. Der 64-Jährige ist weltweit einer der besten Experten für alles, was Wahrnehmen und Erkenntnisfähigkeit – kurz: Kognition – bei Delfinen angeht. Nach Ansicht Kuczajs könnte die Arbeit mit den synchronisierten Delfinen beim RIMS den Schlüssel zu ihrer Kommunikation liefern. Er sagt aber auch: „Gerade weil Delfine so hoch entwickelt sind, lassen sie sich nur schwer erforschen.“

Einen Beweis dafür, dass es so etwas wie eine Delfinsprache gibt, hat bisher niemand gefunden. Manche Wissenschaftler behaupten, der Grund dafür liege auf der Hand: Die „Delfinsprache“ sei nur eine fixe Idee von ein paar maritimen Romantikern – es gibt sie in Wahrheit gar nicht. Doch Kuczaj und andere verweisen auf die Vielzahl von Indizien: Man sei das Problem nur noch nicht auf die richtige Weise und mit den richtigen Hilfsmitteln angegangen, sagt er. In der Tat: Erst seit etwa zehn Jahren kann man mit Hochfrequenz-Aufnahmegeräten das ganze Spektrum der Delfinlaute unter Wasser einfangen, erst seit wenigen Jahren ermöglichen neue Auswertungsprogramme eine genauere Analyse der Aufzeichnungen. So könnte man dieser uralten Intelligenz auf die Spur kommen.

Ehe vor vielleicht sechs oder sieben Millionen Jahren unsere eigene Gattung ihren kometenhaften Aufstieg startete, waren vermutlich die Delfine einige zehn Millionen Jahre lang die Tiere mit dem größten Gehirn auf unserem Pla­neten – und wohl auch mit der höchsten Intelligenz. Im Verhältnis zur Körpergröße ist ihr Gehirn bis heute eines der größten im Tierreich, größer sogar als das der Schimpansen. Der letzte gemeinsame Vorfahr von Menschen und Schim­pansen lebte vor rund sechs Millionen Jahren. Die Ahnen der Meeressäuger, zu denen die Delfine und Wale zählen, spalteten sich dagegen bereits vor etwa 55 Millionen Jahren von der Abstammungslinie der restlichen Säugetiere ab. Der letzte gemeinsame Urahn der Delfine und der Primaten – also von uns – lebte vermutlich gar schon vor 95 Millionen Jahren. Eine sehr lange Zeit, selbst nach den Maß­stäben der Evolution. Deswegen sieht nicht nur unser Körper ganz anders aus als der eines Delfins, sondern auch unsere Hirnstruktur.

Bei Primaten zum Beispiel sind die großen Stirnlappen für Entschei­dungs­- und Planungsprozesse verantwortlich. Delfine besitzen keine so großen Stirnlappen, doch auch sie können Probleme lösen und, so scheint es, auch für die Zukunft planen. Wir Primaten verarbeiten Informatio­nen, die uns die Augen vermitteln, hinten im Gehirn, Sprache und akustische Informationen dagegen in den Schläfenlappen auf der rechten und linken Seite. Delfine hingegen verarbeiten visuelle und akustische Informationen in ganz anderen Teilen ihrer Großhirnrinde, und die In­formation nehmen dort auch ganz andere Wege als beim Menschen. Außerdem haben Delfine ein gut entwickeltes paralimbi­sches System für die Verarbeitung von Gefühlen. In dieser Region könnten auch die außerge­wöhnlichen sozialen und emotionalen Bindun­gen entstehen, die für Delfine so typisch sind.

„Allein ist ein Delfin eigentlich gar kein Del­fin“, sagt Lori Marino, Biopsychologin und Di­rektorin der amerikanischen Tierrechtsorgani­sation Kimmela Center. „Ein Delfin zu sein, bedeutet, Teil eines komplexen sozialen Netzes zu sein. Das gilt für Delfine sogar noch mehr als für Menschen.“

Wenn Delfine in Schwierigkeiten geraten, zeigen sie einen Zusammenhalt, wie man ihn bei kaum einer anderen Tierart findet. Einem kranken Tier, das sich in seichtes Wasser begibt, folgt dann manchmal die ganze Gruppe. Im schlimmsten Fall stranden alle. Es ist, als würden sie sich nur auf den kranken Artgenossen konzentrieren. „Oft kann man dieses selbst­schädigende Verhalten nur durchbrechen, in­ dem man ihnen vortäuscht, anderswo sei noch einer in Gefahr“, sagt Marino. So konnte im Jahr 2013 eine Massenstrandung vor Australien durch einen Trick abgewendet werden: Men­schen fingen ein Jungtier aus der Gruppe und brachten es aufs offene Meer; seine Klagerufe lockten die ganze Sippschaft wieder zurück in tieferes Wasser.

Doch wieso haben gerade die Delfine ein so großes Gehirn entwickelt? Und zwar schon Mil­lionen Jahre früher als die Ahnen des Men­schen? Ein Blick in die Erdgeschichte und auf Fossilfunde kann dazu Hinweise geben. Vor rund 34 Millionen Jahren waren die Vorfahren der heutigen Delfine noch große Tiere mit mächtigen,wolfsartigen Zähnen. Damals hatte eine Periode begonnen, in der, wie man heute annimmt, das Wasser der Ozeane deutlich kälter wurde. Mit dieser Temperaturänderung entstanden neue Nischen für die Delfine, mit neuer Beute. Sie veränderten ihre Jagdgewohnheiten. Ihr Gehirn wurde größer, aus dem furchterregenden Gebiss wurde ein Kiefer voller kleiner, stiftförmiger Zähne.

Aus Veränderungen an den Knochen des Innenohres kann man schließen, dass die Delfine in jener Zeit auch die Echoortung verbesserten. Jedenfalls verwandelten sich manche Arten von einsamen Jägern, die großen Fischen nachstellten, in Gruppen, die Jagd auf Schwärme kleinerer Tiere machten. Damit wurde Kommunikation wichtiger. Die Delfine wurden sozialer – und vermutlich auch intelligenter.

Der amerikanische Verhaltensforscher Richard Connor untersucht das Sozialleben der Delfine in der australischen Shark Bay. Er hat drei Stufen von Bündnisbildung ausgemacht. Auf der ersten Stufe bilden Männchen Paare oder Trios, die gemeinsam aggressiv um Weibchen werben und diese bei Erfolg anschließend unter strenger Bewachung halten. Manche solcher männlichen Paar- oder Dreierbeziehungen sind bemerkenswert stabil, sie halten zuweilen über Jahrzehnte.

Die Männchen der Kleingruppen schließen sich wiederum zu größeren Teams von vier bis 14 Tieren zusammen. Das sind die Bündnisse zweiter Ordnung. Sie arbeiten gemeinsam, wenn es darum geht, anderen Gruppen die Weibchen zu stehlen, und sie verteidigen ihre eigenen Weibchen gegen Angriffe von außen. In mindestens einem Fall weiß Connor von so einem Team, das 16 Jahre lang bestand.

Noch größere Bündnisse dritter Ordnung können sich vorübergehend bilden, wenn Teams aus Bündnissen der zweiten Ordnung miteinander gemeinsame Sache gegen eine vergleichbar große andere Gruppierung machen.

Allerdings können solche Bündnisse auch durchaus flexibel sein. Zwei Delfine eines Teams zweiter Ordnung können an einem Tag Freunde und am nächsten Gegner sein, je nachdem, welche Artgenossen sich in der Nähe herumtreiben. Bei Primaten sind solche Bündnisse in der Regel starrer: „Du bist entweder für oder gegen uns.“ Bei Delfinen kann sich das situationsabhängig ändern, was die Einschätzung der Lage kompliziert macht. Damit wiederum lässt sich teilweise das große Gehirn der Delfine erklären: Sie brauchen es, um über den Status ihrer Beziehungen stets auf dem Laufenden zu sein.

Zu den Gemeinsamkeiten von Menschen und Delfinen gehört, dass beide rund um den Globus verbreitet sind – die einen an Land, die anderen in den Weltmeeren. Und wie Menschen sind Delfine höchst erfinderisch, wenn sie sich in einem speziellen Lebensraum einrichten und dort Nahrung finden müssen.

In der Shark Bay zum Beispiel lösen Große Tümmler Schwämme vom Meeresboden und setzen sie sich zum Schutz auf die Schnauze, wenn sie im Sand nach versteckten Fischen suchen – es ist eine primitive Form des Werkzeuggebrauchs. Im flachen Wasser der Florida Bay umkreisen Delfine mit bis zu 32 Stundenkilometern Schwärme von Meeräschen. Dabei wirbeln sie Schlammwolken auf. Äschen, die versuchen, darüber hinwegzuspringen, landen in den aufgesperrten Mäulern der dahinter lauernden Delfine. Vor der Küste Patagoniens treiben Schwarzdelfine Sardellen zu dichten kugelförmigen Schwärmen zusammen. Dann stoßen sie abwechselnd hinein und holen sich ihre Beute.

Diese Verhaltensweisen sind unzweifelhaft Anzeichen für Intelligenz. Für Stan Kuczaj als Verhaltenspsychologe stellt sich deshalb gar nicht die Frage, „ob Delfine schlau sind. Son­dern auf welche Weise sie schlau sind.“ Für den amerikanischen Neurophysiologen John Lilly, der schon vor 60 Jahren die Sprache der Delfine erforschte, waren sie einfach „die Menschen der Meere“. Lilly beschäftigte sich seit den Fünfzigerjahren am National Institute of Mental Health mit ihnen und schrieb unter an­derem den Bestseller „Ein Delfin lernt Englisch“. Weil Lillys Experimente mit der Zeit aber immer obskurer wurden – irgendwann spritzte er den Delfinen sogar LSD – bekam er weniger Forschungsmittel, die Glaubwürdigkeit des For­schungsgebietes schwand, irgendwann war „die „Sprache“ der Delfine unter Wissenschaftlern ein verpöntes Thema. Das änderte sich erst wie­ der 1970, als Louis Herman, ein Psychologe der Universität Hawaii, in Honolulu das Kewalo Basin Marine Mammal Laboratory gründete.

„Wir wollten die Delfine dazu bringen, uns ihr geistiges Potenzial zu offenbaren. Dazu ha­ben wir sie von klein auf so erzogen, wie andere ihre Kinder erziehen“, erzählt Adam Pack, der 21 Jahre an dem Institut arbeitete. Zwei dieser Delfine im Kewalo Basin waren die Großen Tümmler Phoenix und Akaekamai. Sie erhielten Unterricht in einer künstlichen Sprache und lernten, Laute oder Handzeichen mit Gegen­ständen, Tätigkeiten und Eigenschaften in Ver­bindung zu bringen. Jeder auf eine andere Art.

Phoenix lernte eine akustische Sprache. Dabei waren die Wörter, die sie zu hören bekam, chro­nologisch angeordnet, ihre Reihenfolge ent­sprach der Reihenfolge der Aufgaben, die Phoe­nix auszuführen hatte. Akeakamai dagegen wurde in einer Gebärdensprache unterrichtet, in der die Abfolge der Wörter nicht mit der Rei­henfolge der Aufgaben übereinstimmte. Ent­sprechend konnte Phoenix Wort für Wort re­agieren, Akeakamai dagegen wusste erst dann, was sie tun sollte, wenn sie die gesamte Sequenz der Gebärden gesehen hatte. Doch wenn die beiden Delfine in einem Becken schwammen, das mit Gegenständen angefüllt war, führten beide die Anweisungen in mehr als 80 Prozent der Fälle richtig aus.

Akeakamai starb im Jahr 2003, Phoenix ein Jahr darauf, beider Asche wurde mit Surfbret­tern auf das offene Meer gebracht und verstreut. Es gab keine Nachfolger für die beiden Delfine und auch das Lernprojekt wurde nicht fortge­setzt. Auch deswegen ist bis heute nicht geklärt, warum es Phoenix und Akeakamai so leicht gefallen war, die jeweilige Sprache zu lernen. Vielleicht gibt es bei Delfinen eine angeborene Fähigkeit der Kommunikation, die Menschen irgendwann verstehen könnten?

Zumindest eine Form der Töne, die Delfine von sich geben, legt nahe, dass es bestimmte Laute für be­stimmte Dinge oder Aktionen gibt: Sie bedienen sich charakte­ristischer „Signaturpfiffe“, um sich gegenseitig zu erkennen und anzusprechen. Heute geht man davon aus, dass jeder Delfin schon als Jungtier für sich selbst einen einzig­artigen Namen erfunden hat, den er sein ganzes Leben lang behält. Im Meer begrüßen sich Del­fine, indem sie Signaturpfiffe austauschen, an die Signaturpfiffe anderer Delfine erinnern sie sich noch nach Jahrzehnten. Tiere anderer Arten machen sich zwar ebenfalls mit Lautäußerungen gegenseitig auf natürliche Feinde aufmerksam, aber außer dem Menschen verwendet, soweit wir wissen, keine Tierart spezifische Kennzeich­nungen für Individuen.

Dabei sind Signaturpfiffe nur eine von meh­reren Tönen, die Delfine mit ihren Stimmen erzeugen. Sollten sie wirklich die einzigen Laute im Repertoire der Tiere sein, die für irgendeine Bedeutung stehen? Wie wahrscheinlich ist es, dass Delfine zwar Namen für ihre Artgenossen haben, nicht aber für andere Dinge?

Dieser Frage geht Denise Herzing seit drei Jahrzehnten nach. Sie ist eine Art Jane Goodall der Meere und beobachtet mehr als 300 Zügel­delfine aus drei Generationen, viele kennt sie von klein auf. Ihr Arbeitsgebiet ist eine Meeres­fläche von 450 Quadratkilometern vor den Bahamas, wo sie das weltweit älteste Unterwas­ser­-Forschungsprogramm für wilde Delfine betreibt. Neuerdings mit einem Gerät, das ihr helfen soll, eines Tages mit den Delfinen, um deren Bekanntschaft sie sich seit Langem be­müht, ins Gespräch zu kommen. Gleichzeitig will sie damit klären, wie die Tiere sich untereinander verständigen.

Das Gerät steckt in einem schuh­schachtelgroßen Würfel aus Aluminium und durchsichtigem Kunststoff. Die Forscher nennen es CHAT. Das ist die Abkürzung für cetacean hearing and telemetry. „Belauschen“ und „Fernvermessen“ – darum geht es hier zum einen. Aber auch um einen chat, ein Gespräch. Wissenschaftler haben nun mal ein Faible für doppeldeutige Abkürzungen.

Unter Wasser befestigt Herzing den neun Kilo schweren Apparat mit Gurten vor ihrer Brust. Die Kiste hat auf der Vorderseite einen kleinen Lautsprecher und eine Tastatur, dazu zwei Un­terwassermikrofone. Der Computer im wasser­dichten Inneren spielt auf Knopfdruck zuvor aufgenommene Signatur­ und andere Pfiffe von Delfinen ab und zeichnet alle Laute auf, die von den Delfinen zurückkommen. Wiederholt ein Delfin einen der Pfiffe, kann der Computer das Geräusch in menschliche Wörter umwandeln und diese in Herzings Kopfhörer abspielen.

Delfine lernen schnell und gern. Herzing will einige junge Weibchen dazu bringen, dass sie drei verschiedene Pfeifgeräusche aus der CHAT­ Box drei Gegenständen zuordnen: einem Tuch, einem Seil und einem Stück braunem Seetang, den junge Delfine als Spielzeug verwenden. Diese drei „Wörter“, so ihre Hoffnung, könnten die Grundlage für einen Wortschatz von Pfiffen bilden, den sie und ihre Delfine gemeinsam ha­ben. Es wäre der Anfang einer neu geschaffenen Sprache, in der sie und die Tiere sich eines Tages vielleicht unterhalten könnten.

„Wenn sie es erst einmal begriffen haben, könnte es sehr schnell gehen“, sagt Herzing. „Delfine sind soziale Tiere, und wir können viel­leicht davon profitieren, dass andere den beiden zusehen und sie nachahmen.“

Die lebhafte, optimistische Herzing ist mit ihren 58 Jahren die Sorte Mensch, auf die der Begriff „Visionärin“ passt. Als sie zwölf war, machte sie bei einem Schülerwettbewerb mit, für den sie nur eine Frage beantworten musste: „Was würdest du für die Welt tun, wenn du eine Sache tun könntest?“ Ihre Antwort: „Ich würde eine Mensch­-Tier­-Übersetzungsmaschine ent­wickeln, damit wir die Gedanken anderer Lebe­wesen auf der Erde verstehen können.“

Oft ist sie bei ihrer Unterwasserforschung stundenlang mit den Delfinen zusammen, über Tausende von Stunden hat sie alle möglichen Verhaltensweisen aufgenommen und eine rie­sige Datenbank mit den Lauten ihrer geschwät­zigen Partner zusammengestellt. Mit an Bord ihres Forschungsschiffes „Ste­nella“ – das ist der biologische Name für die Delfine – ist Thad Starner, 45, Professor für In­formatik am Georgia Institute of Technology. Er ist ein Pionier in der Entwicklung von tragbaren Computern, den wearables, und leitender Inge­nieur bei Google. Er arbeitet dort am Google Glass, der Computerbrille mit Minibildschirm, die ihrem Träger in Sekundenschnelle alle mög­lichen Informationen aus dem Internet vor die Augen zaubert.

Starner trägt das Glass nahezu ständig und macht sich Notizen auf einer zitronenförmigen Tastatur, die in seine linke Handfläche passt. Starners Team hat die CHAT­-Box gebaut, und er ist für zehn Tage an Bord, um die Technik zu testen und Daten zu sammeln.

Wenn man die Geheimnisse der Delfinkom­munikation eines Tages lüften wird, dann auch wegen der Programme zur Datenauswertung, die Starner hier draußen erstmals anwendet. Sie suchen in den riesigen Datenbeständen syste­matisch nach Mustern. Aus Videoaufnahmen von Menschen, die sich in Gebärdensprache unterhalten, filtert der Computer zum Beispiel automatisch aus dem Durcheinander aller Handbewegungen die Gebärden heraus, die et­was bedeuten. Das Programm findet wieder­kehrende Motive, wo der Mensch nicht einmal weiß, wonach er suchen muss.

Im ersten Testlauf erhält Starner von Herzing die Aufzeichnung einer Reihe von Lauten, die sie unter Wasser aufgenommen hat. Sie verrät ihm aber nicht, dass er die Signaturpfiffe zwi­schen Müttern und Jungen zu hören bekam.

Bald hat das Auswertungsprogramm fünf Grundeinheiten erkannt, ein Indiz dafür, dass die Signaturpfiffe sich aus festen Bestandteilen zusammensetzten. Diese wiederholten sich stän­dig zwischen Müttern und Jungen und werden möglicherweise auch zu unterschiedlichen Be­griffen neu kombiniert.

„Irgendwann wollen wir in einer CHAT­-Box alle Grundeinheiten der Delfinlaute gespeichert haben“, sagte Starner. „Dann wird die Box alles, was das System hört, in eine Reihe von Sym­bolen übersetzen. Und umgekehrt soll auch Denise dann Reihen mit symbolhaften Laute an die Delfine aussenden können. Im Idealfall kön­nen wir das an Ort und Stelle tun, in einer Art Unterhaltung zwischen Menschen und Delfinen. Die Frage ist nur: Was sind die Grundeinheiten dieser Sprache? Das ist der heilige Gral, nach dem wir suchen.“

Nach den einleitenden Tests wird die CHAT­-Box schließlich im Meer ausprobiert. Zwei Zü­geldelfine nähern sich der „Stenella“ – nicht irgendwelche, sondern zwei gute Bekannte Herzings: Meridian und Nereide. Die Aufzeich­nungen ihrer Signaturpfiffe sind sogar in die CHAT­Box programmiert, weil die Biologin gehofft hatte, die beiden zu begrüßen und sich mit ihnen auszutauschen.

Herzing kennt die meisten Delfine in der Re­gion, seit sie geboren wurden, und sie weiß auch, wer ihre Mütter, Tanten und Großmütter sind, aber Meridian und Nereide sind für ihre For­schungen die besten Kandidaten. Weibliche Zügeldelfine werden mit neun Jah­ren geschlechtsreif und mehr als 50 Jahre alt. Diese beiden allerdings haben noch keinen eigenen Nachwuchs, und wie übermütige Kinder genießen sie voller Neugier die Freiheit, zu spielen und Neues zu erkunden.

Herzing taucht und spielt unter Wasser Me­ridians Signaturpfiff ab. Daraufhin wendet der Delfin sich ihr zu und kommt näher – ohne sichtbare Anzeichen der Überraschung, die man vielleicht erwartet, wenn ein Tier gerade hört, wie ein Angehöriger einer anderen Spezies den eigenen Namen ruft.

Herzing streckt beim Schwimmen den rech­ten Arm nach vorn und zeigt auf ein rotes Tuch, das sie aus ihrem Tauchanzug gezogen hat. Im­mer wieder drückt sie auf der CHAT­-Box den Knopf für „Tuch“: ein rollendes Zirpen, das zu­nächst tiefer wird und am Ende ansteigt. Es dauert ungefähr eine Sekunde. Einer der Delfine schwimmt vorüber, schnappt sich das Stück Stoff und schiebt es zwischen Schnauze und Brustflosse hin und her. Als er vorüber­gehend in die Tiefe abtaucht, hängt das Tuch wie eine Fahne am Schwanz des Delfins.

Eine von Herzings Studentinnen hält die Be­gegnung mit einer Unterwasserkamera fest. Wird sich wohl einer der beiden Delfine mit dem Tuch davonmachen? Nein, offensichtlich wollen sie, wenn auch zögernd, Kontakt aufneh­men. Die Tiere reichen das Tuch zwischen sich hin und her, umkreisen die Forscher, verschwin­den einen Moment und halten es schließlich Herzing wieder hin. Sie ergreift es, steckt es in ihren Tauchanzug und zieht an seiner Stelle nun etwas Seetang heraus. Sofort schießt Nereide herab, packt ihn mit den Zähnen und schwimmt davon. Herzing folgt ihr und drückt auf der CHAT­-Box immer wieder den Seetang­-Pfiff, als wolle sie das Stück zurück. Aber Meridian und Nereide beachten sie nicht.

Später an Bord überlegt Herzing, was die Be­obachtung bedeuten könnte. „Falls die Delfine verstehen, dass wir Symbole benutzen, ist es vorstellbar, dass sie uns etwas zeigen wollen. Und stellt euch vor, wie es wäre, wenn die Del­fine plötzlich anfangen, unter sich das von uns geprägte Wort für Seetang zu benutzen.“

Belege dafür gibt es bisher aber nicht. Die CHAT­-Box zeichnete während der stundenlan­gen Begegnung nichts auf, was sich irgendwie im Sinne von Lernen oder Nachahmung inter­pretieren ließe. „Egal“, sagt Herzing, „wir müs­sen den Versuch nur oft genug wiederholen. Und noch mal wiederholen. Ich weiß, sie sind neugierig. Man kann doch beinahe zusehen, wie sie allmählich die Verbindung zwischen einem Ding und einem Laut herstellen. Es wird passie­ren, man sieht es ihnen an den Augen an, wie sie überlegen. Ich kann es kaum erwarten, dass eines Tages eine weibliche Stimme aus der CHAT­Box in meinem Kopfhörer ‚Tuch‘ sagt.“

Vielleicht existiert die Rückmeldung in ir­gendeiner Form ja auch schon, die Menschen verstehen sie nur nicht. Nereide hatte sich das Tuch zeitweise um den Schwanz gewickelt, es schließlich abgeschüttelt und dabei spielerisch eine große Blase steigen lassen. Ein Zeichen?

Nach einigen Stunden mit den Forschern hat­ten die Delfine das Interesse verloren. Nereide schwamm davon und ließ noch einmal einen langen, rätselhaften Pfiff hören. Ehe sie in der blauen Dunkelheit verschwand, drehte sie sich noch einmal zu den Menschen um.

(NG, Heft 05 / 2015, Seite(n) 60 bis 83)

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