Geheimes Wissen aus dem Regenwald

Medikamente gegen Krebs, gesunde Nahrungsmittel, kostbare Duftstoffe – all das verheißt uns der Dschungel. Doch während wir gerade erst anfangen, diesen Reichtum zu erforschen, zerstören wir durch Raubbau, was uns nützen könnte.

Von Jürgen Nakot
bilder von Dieter Schonlau, Sandra Hanke
Foto von Dieter Schonlau, Sandra Hanke

Ich kann die Rückseite des Mondes sehen. Jedes Blatt im Dschungel von Peru ist mit Diamanten behängt. Ich denke mit drei Gehirnen zugleich: Eines verbindet mich telepathisch mit meiner Frau, 11.000 Kilometer weit weg in Deutschland. Während es hier auf der Waldlichtung auf Mitternacht zugeht, sehe ich sie wegen der Zeitverschiebung schon beim Morgenkaffee. Wir zwinkern uns zu.

Mit dem zweiten Gehirn horche ich auf das Weinen und Jammern der Frauen und Männer, die um mich herum im Busch liegen, bettreut von einem einheimischen curandero und seinen Helferinnen. Und mein drittes Gehirn formuliert bereits, was ich über diese Erfahrung schreiben werde. Ich fühle mich sauwohl. Ich entdecke soeben ein Geheimnis des Regenwalds, die Wirkung einer pflanzlichen Droge, mit der Heilkundige seit 3.000 Jahren Ängste, Sorgen und psychisch bedingte Krankheiten kurieren.

Ich habe Ayahuasca probiert. Dieser leicht nach Lakritze schmeckende Sud wird aus zwei Pflanzen gebraut: Die eine, einen Strauch, nennen Botaniker Psychotria viridis, die andere, eine Liane, Banisteriopsis caapi. Die Mischung erzeugt nicht nur Halluzinationen, sie wirkt auch als Wahrheitsdroge. Curanderos geben sie ihren Klienten zu trinken, um den seelischen Ursachen ihrer Krankheiten auf die Spur zu kommen. Alles, was einen quält, privat oder im Beruf, kommt dann raus, ununterdrückbar. Einige der Menschen, mit denen ich hier bin, um etwas über Naturmedizin zu lernen, wiegen sich schluchzend wie Kinder in den Armen der Betreuerinnen. Ich selber, erzählt man mir später, soll fröhlich den Mond angegrinst haben.

Sehen Sie hier ein kurzes Video über die Entstehung des Bildbandes "Regenwälder - Leben im Dschungel":

Diese Art der Psychotherapie wird in den Industriestaaten nur von wenigen Eingeweihten praktiziert, nicht zuletzt weil die curanderos ihre Rezepturen sorgsam hüten. Aber das Interesse ist groß: In den neunziger Jahren wollte die kalifornische Pharmafirma International Plant Medicine Corporation Ayahuasca patentieren lassen. Dagegen wehrte sich die Indianerschutz-Organisation COICA. Sie wahrt die Rechte der Stämme am Amazonas. Der Protest war erfolgreich, das Patent wurde nicht erteilt.

Verborgene Schätze des Dschungels

Ayahuasca ist nur ein Beispiel, wie Pflanzen, Tiere, Pilze des tropischen Regenwalds den Menschen nützen können. Es gibt Dutzende von Dschungelarten, aus denen man Medikamente, Nahrungsmittel, Biorohstoffe und Kosmetika gewinnt. Dabei fangen wir gerade erst an zu begreifen, welche Schätze hier zu entdecken sind. Zur gleichen Zeit tun wir aber alles, wirtschaftlich und medizinisch wertvolle Arten auszurotten, noch ehe wir sie überhaupt gefunden haben. Indem wir den Regenwald abholzen und abbrennen.

Manche Pharmazeuten weinen noch heute einer verpassten Gelegenheit nach. Im australischen Regenwald waren Forscher vor Jahren auf einen Frosch gestoßen, von dem sie sich Medikamente gegen Magengeschwüre versprachen: Die Weibchen von Rheobatrachus vitellinus brüteten ihre befruchteten Eier im Magen aus. Die Froscheier schützten sich vermutlich mit einer speziellen Substanz vor der Magensäure. Millionen Patienten, die sich mit Reizmagen und Magengeschwüren plagen, hätten davon profitieren können, glaubt Eric Chivian von der Harvard-Universität in Boston. Aber ehe Mediziner den Säureschutz des Lurchs erforschen konnten, hatte der Mensch ihn ausgerottet.

Viele Arten werden wir wohl nie kennenlernen, weil wir ihnen vorher den Garaus gemacht haben. «Mit der Abholzung der Regenwälder gehen Tausende Pflanzen- und Tierarten unwiederbringlich verloren», mahnt Survival International, eine Organisation die sich weltweit für die Rechte indigener Völker und den Erhalt ihres Lebensraums einsetzt.

Um sich klarzumachen, um welche Werte es geht – über die unschätzbare ökologische Bedeutung hinaus –, muss man nicht auf vage Hoffnungen setzen. Ein Blick in unseren Alltag, in Supermarkt und Apotheke reicht, um zu erkennen, dass wir täglich Produkte des Regenwalds kaufen, meistens ohne uns deren Herkunft bewusst zu machen. «Die Palette reicht von Kakao über Kautschuk bis Koka», sagt Reinhard Lieberei, Autor der aktuellen Version des Handbuchs "Nutzpflanzenkunde", das Studenten der Biologie und Geographie seit Jahrzehnten in mehrmals erneuerter Auflage begleitet.

Der tropische Regenwald umspannt die Erde wie ein grüner Gürtel zu beiden Seiten des Äquators.
Foto von Bild: Ralf Bitter

Unschlagbare Natur

Lieberei empfängt mich in einem dschungelgrünen Sweatshirt in seinem Arbeitszimmer am Biozentrum der Universität Hamburg. Der Botaniker kann das Alphabet von Nutzpflanzen tropischer Herkunft gleich mehrfach von A bis Z durchdeklinieren, von Ananas und Annatto über Banane, Ingwer, Pfeffer und Sandelholz bis zu Vanille, Zimt und Zitrusfrüchten.

«Wussten Sie», fragt er, «dass man Naturkautschuk in vielen Bereichen der Technik bis heute nicht gleichwertig durch synthetische Produkte ersetzen kann?» Kautschuk, das ist der geronnene Milchsaft des Baums Hevea brasiliensis. Über den staunte vor mehr als 500 Jahren schon Kolumbus. Er beobachtete in Mittelamerika Indianer, die sich ihre Füße mit Latexmilch bestrichen, für «maßgefertigte Gummischuhe», wie Lieberei sagt.

Schwer vorstellbar, wie Autos ohne Reifen aus Kautschuk aussehen würden, auch wenn die Pneus inzwischen zu zwei Dritteln aus Kunstgummi bestehen. «Aus Naturkautschuk sind zum Beispiel die Puffer in den gigantischen Getrieben der großen Containerschiffe, die zwischen den Kontinenten kreuzen. Hochhäuser in Erdbebengebieten haben ganze Stockwerke, in denen Schockabsorber aus Kautschuk Erdstöße abfedern. Auch das Innere vieler Staudämme ist damit gesichert. Bei der Beherrschung großer Kräfte ist Naturkautschuk in puncto Belastbarkeit und Flexibilität unschlagbar.»

Bemühungen, Kautschukbäume in Plantagen zu kultivieren, sind bisher jedes Mal gescheitert. In ihrem natürlichen Ökosystem, dem Regenwald, stehen durchschnittlich nur zwei Bäume pro Hektar. Das schützt sie vor der Infektion durch einen schädlichen Pilz, der in Plantagen leicht von Baum zu Baum springt und die Bestände vernichtet. «Zwei Bäume pro Hektar in einem Dschungelwald, das sind nicht viele», sagt Lieberei, «da muss man schon wissen, wo sie stehen und wann man ihren Saft am besten abzapft. Aber das war jetzt eine Regenwaldpflanze, die wir seit 500 Jahren kennen und nutzen – die Indianer natürlich viel länger – und die wir weiterhin brauchen werden. Was in der westlichen Welt erst allmählich ankommt», fährt Lieberei fort, «ist etwa das Wissen über Niem, dieses tropische Wunderding.»

Allheilmittel aus den Tropen?

Der tropische Regenwald umspannt die Erde wie ein grüner Gürtel zu beiden Seiten des Äquators.

Mit dieser schwärmerisch-spöttisch klingenden Einschätzung über einen Baum steht der Hamburger Forscher nicht allein. Gegen alles, was krank macht, scheint es Niemprodukte zu geben. Niem – auch Neem geschrieben – ist ein Anti-Typ im besten Sinne des Wortes: antibakteriell, antiviral, antimykotisch (gegen Pilze), antiseptisch, antidiabetisch, blutdruck- und cholesterinsenkend, Schadinsekten und Würmer tötend, dazu empfängnisverhütend, weil Spermien lähmend. Vom Niembaum wird alles genutzt, ob aus der Rinde, den Blättern, den Blüten oder den Samen – als Tee, Pulver, Saft oder Öl.

Ursprünglich stammt der Niem (Azadirachta indica) aus den tropischen und subtropischen Regionen Indiens und Pakistans, inzwischen wird er in diesen Klimazonen aber weltweit angebaut. Indische Ärzte behandeln mit Niemprodukten seit 2.000 Jahren Geschwüre, Lepra, Nesselsucht,Verdauungsstörungen, Bluthochdruck und Schilddrüsenerkrankungen.

Für die westliche Medizin ist es allerdings ein Problem, dass man zwar anerkennt, dass Niem wirkt – aber oft nicht weiß, was da wirkt und in welcher Dosierung.

Solche Fragen beschäftigen auch Michael Heinrich, einen Ethnopharmakologen aus Freiburg, der an der Universität London arbeitet. Er fahndet unter anderem in Neuseeland nach Naturstoffen, die sich als Entzündungshemmer eignen. In einem Interview mit dem Internet-Magazin NetDoktor.de sagte er: «Phytopharmaka geben Medizinern viele Rätsel auf. Die Wirkung der Extrakte ist zwar oft gut beschrieben, aber wir können fast nie alle Inhaltsstoffe ermitteln und beurteilen. Die Pflanzenauszüge enthalten ein Sammelsurium von Substanzen in verschiedenen Konzentrationen. Die Zusammensetzung kann zudem je nach Herkunft oder Erntezeit unterschiedlich sein.»

Das gilt auch für Niem. Er enthält Hunderte chemischer Inhaltsstoffe, die sich im Stamm, in der Rinde, den Blättern und Früchten unterschiedlich zusammensetzen. Die meisten dieser Stoffe sind bislang nur unzureichend erforscht.

Immerhin ist bei dieser Art nicht zu befürchten, dass die Aufmerksamkeit der Wissenschaft sie in ihrer Existenz gefährdet, dafür ist der Niembaum inzwischen weit genug verbreitet. Anders erging es der Pazifischen Eibe (Taxus brevifolia). Sie ist zwar kein Tropengewächs, kann aber als Beispiel dafür dienen, welche Folgen es für eine Pflanze hat, die plötzlich als Hoffnungsträger gegen Krebs gehandelt wird.

Nachbauen lautet die Devise

Vor 30 Jahren entdeckten Forscher, dass Taxol, ein Wirkstoff aus der Eibenrinde, das Wachstum von Brust- und Eierstockkrebs hemmt. Die Pazifische Eibe wächst allerdings sehr langsam, gilt als gefährdet und ist gesetzlich geschützt. Trotzdem führte die Entdeckung dazu, dass die Bestände des Baums dramatisch zurückgingen: Man braucht für die Behandlung einer einzigen Krebspatientin das Taxol aus der Rinde von mindestens sechs Bäumen. Seit kurzem hat sich die Situation aber entschärft: Die heilende Substanz wird nun im Labor hergestellt, das Ausgangsmaterial aus der Rinde der Europäischen Eibe gewonnen, die sich gut kultivieren lässt.

«Bei der Wirkstoffsynthese hat die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten deutliche Fortschritte gemacht», bestätigt auch Lieberei. Er erinnert an einen anderen Heilsbringer aus den Tropen, den medizinischen Yams (Dioscorea villosa). Dessen Wurzel wurde in Mexiko und anderen tropischen Gegenden seit alters zur Empfängnisverhütung eingesetzt. Ihr Hauptwirkstoff ist das Diosgenin, den weiblichen Hormonen sehr ähnlich. Im Labor war es nicht schwierig, aus dem Diosgenin Progesteron herzustellen, und so wurde die Yamswurzel in den Anfängen der hormonellen Verhütung zu einem wichtigen Rohstoff für die "Pille". «Heute braucht man dafür keinen Yams mehr», sagt Lieberei, «aber gegen prämenstruelle Beschwerden sind Yamspräparate immer noch gefragt. Und als trendige Anti-Aging-Mittel. Dann sind sie natürlich teurer», schließt er trocken.

Der Yams zeigt, wie man die Schätze des Tropenwalds nutzen kann, ohne dem Ökosystem zu schaden. Man muss die natürlichen Wirkstoffe finden, erforscht sie und baut sie im Labor nach. Suchen – und finden – kann man im Regenwald Brasiliens, am Kongo oder in Borneo. Oder im Rhododendron-Park von Bremen.

Hier wuchert und blüht die weltweit zweitgrößte Sammlung von Pflanzen dieser Art – 600 von 1300 bekannten Rhododendren locken Liebhaber ebenso an wie Botaniker. Und Pharmazeuten. An einem Frühsommernachmittag führt mich Matthias Ullrich durch die Anlage. Der Mikrobiologe ist Professor an der privaten Jacobs University Bremen und Koordinator eines ehrgeizigen Forschungsprojekts: Zusammen mit einer Zellbiologin, einem Naturstoffchemiker und einem Evolutionsgenetiker will er «den Artenreichtum des Rhododendron-Parks nutzen, um neue Arzneistoffe, Antibiotika und Wirkprinzipien zu entdecken.» Das Ziel: Die Ergebnisse ab 2014 gemeinsam mit der pharmazeutischen Industrie kommerziell zu nutzen.

Wer Rhododendron nur aus dem Garten kennt, ahnt nicht, dass die Heimat dieser artenreichen Gattung Asien ist. Rhododendren wachsen von der Türkei bis nach Korea, im Himalaja wie in den Tropen und Subtropen. Mal kniehoch, mal groß wie Bäume. Mal mit zierlichen, mal mit handgroßen Blättern. Mit Blüten in allen Farben. Klein wie ein Fingerhut oder groß wie ein Kaffeebecher. Und giftig! «Es gibt Berichte, wonach sich römische Soldaten in den Punischen Kriegen vor mehr als 2000 Jahren in Karthago an Rhododendron-Honig berauschten und gestorben sind», erzählt Ullrich. Das ist es, was den Rhododendron für ihn so interessant macht. Denn was giftig ist, wirkt auch. Wir kennen das von dem bei uns wachsenden Fingerhut Digitalis purpurea. Man kann damit Menschen umbringen. Oder lebensrettende Herztropfen daraus gewinnen.

Aus Rhododendron-Blättern hat man bisher 600 verschiedene Substanzen extrahiert, manche wirken lähmend, andere hemmen das Wachs- tum von Krebszellen. «Mein persönlicher Favorit ist der Rhododendron ambiguum aus China», sagt Ullrich, «Kennziffer 100.007». Ein hochwirksamer Bakterienkiller. James Bond lässt grüßen. Der Markt für neue pflanzliche Antibiotika ist enorm, weil immer mehr Keime gegen die alten Mittel resistent werden.

Die Erwartung ist groß, unter den Rhododendren eine Art zu finden, die so einschlägt wie vor einigen Jahren das unscheinbare Madagaskar-Immergrün (Catharantus roseus). Seine Blätter und Wurzeln werden traditionell gegen Diabetes und Rheuma eingesetzt. Aber das Blümchen enthält mehr als 70 Alkaloide von medizinischem Interesse. Am wichtigsten sind heute Vinblastin und Vincristin. Sie haben dazu beigetragen, die Heilungschancen bei zwei Formen der Leukämie von 20 auf 80 Prozent zu verbessern. Des Weiteren helfen diese Alkaloide in der Chemotherapie von Brust- und Lungenkrebs.

Bis Substanzen aus Rhododendron klinisch erprobt werden, wird es allerdings noch einige Jahre dauern, doch die Bremer sind optimistisch: «Wenn wir die Wirkstoffe erkannt und die Wirkmechanismen verstanden haben, machen wir im Labor weiter», kündigt Ullrich an. «Wir wollen keinen Run auf die Arten in der Natur auslösen, sondern die Wirkstoffe synthetisch herstellen. Gezielter, billiger und sauberer.»

Vom Dschungel ins Labor

Das ist auch der Ansatz von Roman Kaiser. Der Chemiker interessiert sich allerdings für ganz andere Blüten. Und mit ganz anderen Absichten. Er ist seit mehr als vier Jahrzehnten Duftstoff-Scout für die Schweizer Firma Givaudan. Ganz besonders haben es ihm seit einigen Jahren die vom Aussterben bedrohten Orchideen im Kronendach tropischer Regenwälder angetan. Er fängt ihre Düfte in Glaskolben ein, ohne die Pflanze zu verletzen, analysiert die aromatischen Bestandteile und versucht, sie in Reagenzgläsern synthetisch nachzuahmen. Die sehr seltene und bedrohte Coryanthes panamensis (siehe Seite 52) hat er ebenso beschrieben – «pudrig, ledrig- süßlich» –, wie in Venezuela die stark gefährdete Cattleya mossiae beschnuppert: «Aromatisch, würzig-floral, gleichzeitig zimtig.»

Viele hundert Beschreibungen und Analysen hat er in seinem auf Englisch erschienenen Buch „Scent of the vanishing flora“ („Der Duft der schwindenden Flora“) versammelt. So bleibt die Erinnerung an diese Orchideen vielleicht wenigstens in kostbaren Parfums erhalten, wenn die Blumen zusammen mit ihrem Lebensraum, den tropischen Regenwäldern, vernichtet sein werden. Im Vorwort zitiert Kaiser seinen wütenden Kollegen P. H. Raven, der lange Zeit Direktor des Botanischen Gartens in St. Louis (USA) war: «Pflanzen erzeugen direkt oder indirekt alle unsere Lebensmittel, die meisten unserer Medikamente, unsere Kleidung. Sie nähren nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seele. Mit Farben und Düften. Und was tun wir? Wir rotten sie aus. Wenn wir weitermachen wie bisher, werden wir bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts ein Drittel aller weltweit bekannten Arten ausgemerzt haben. Sind wir eigentlich verrückt?»

Eine Frage, die Christian Rätsch mit einem glasklaren Ja beantworten würde. Exotische Düfte ziehen auch durch seine Wohnung, als mich der Ethnopharmakologe in Hamburg zum Interview begrüßt. Hier stammen die Aromen allerdings von Räucherstäbchen.

Rätsch ist der Wissenschaftler, der mich vor einigen Jahren als kundiger Führer in die Welt der peruanischen curanderos und ihrer Kenntnisse tropischer Heilpflanzen und Pilze begleitete. Einer der wenigen, die das therapeutische Ayahuasca-Ritual auch in Europa praktizieren. Auf Dutzenden von Reisen hat er die Heilkundigen und Schamanen der Naturvölker besucht, am Amazonas wie im Himalaja, ihr Vertrauen erworben und sich in ihre Rezepturen und Rituale einweihen lassen.

Außer den curanderos selber weiß in der westlichen Welt wohl niemand mehr über die pharmazeutisch interessanten Gewächse des Regenwalds als Rätsch. Die neueste Auflage seiner in viele Sprachen übersetzten „Enzyklopädie der psychoaktiven Pflanzen“ ist mittlerweile auf fast tausend Seiten angeschwollen und gut drei Kilo schwer. Und viel mehr als nur theoretisches Wissen. Es gibt wohl kaum ein Kraut, das er nicht im Selbstversuch gekaut, gelutscht oder geraucht hat: «Ich fange stets mit ganz winzigen Mengen an und steigere die Dosis vorsichtig so lange, bis ich eine Wirkung spüre.»

Der Nutzen des Kokastrauchs

Das gilt natürlich auch für eine der umstrittensten und in vielen Ländern verbotenen Heilpflanze aus den Tropen: den Kokastrauch. Auf den Märkten in Peru, Bolivien oder Kolumbien werden seine Blätter kiloweise verkauft, es gibt nur wenige Einheimische, die nicht ständig einen grünen Batzen davon in der Wange oder unter der Zunge haben. Die Inhaltsstoffe machen wach, dämpfen den Appetit und erleichtern das Atmen. Ihre Wirkung gegen Zahn- und Bauchschmerzen, Kreislaufbeschwerden, Rheuma und Depressionen ist belegt. In den Höhenlagen der Anden wäre die Arbeit auf dem Feld ohne Koka noch schwerer. Im Vertrauen auf Rätsch habe ich die Wirkung selber ausprobiert, als ich im Anstieg zum 3800 Meter hoch gelegenen Titicaca-See rasende Kopfschmerzen bekam. Ein paar Minuten nachdem ich einige Blätter zerkaut und den grasig schmeckenden Saft geschluckt hatte, ging es mir wieder gut.

Wer Koka wie die Einheimischen konsumiert, muss nicht befürchten, abhängig zu werden. In den Andenstaaten vermischen die Konsumenten den Blattbrei im Mund immer mit einer Prise Kalkasche, llipta genannt. Der kalkige Zusatz wandelt das Kokain im Mund in das Alkaloid Ecgonin um, das nicht suchterregend ist.

So genutzt, könnte Koka vielen Menschen helfen. Naheliegend also, dass sich Präsident Evo Morales in Bolivien und sein Amtskollege in Venezuela, Hugo Chávez, seit einiger Zeit bemühen, den Handel mit Koka zu legalisieren. Zum Beispiel für Tees, aber auch als Bestandteil von Zahnpasta oder Shampoos. Hierzulande warten viele Ärzte nur darauf, Kokaprodukte wieder gegen Schmerzen oder Erschöpfungszustände verschreiben zu dürfen, wie es bis Mitte des 20. Jahrhunderts üblich war.

Dagegen steht in erster Linie der Widerstand der westlichen Welt, angeführt von den USA, weil man aus Koka eben auch das suchterregende Kokain herstellen kann. Logisch ist der Krieg gegen dieses Kraut nicht, denn andere Drogen wie Alkohol und Tabak fordern jedes Jahr ein Vielfaches an Toten. Auf der anderen Seite gibt es eine mächtige Lobby, die hofft, Koka möge illegal bleiben: Nur so können einige Wenige damit weiterhin sehr viel Geld verdienen.

Koka ist ein Beispiel dafür, wie die Industriestaaten verhindern, dass die Menschen in den Tropenländern von den Schätzen ihrer Wälder profitieren. Umgekehrt versuchen westliche Firmen immer wieder, aus den pharmazeutisch interessanten Pflanzen Profit zu schlagen, ohne die Herkunftsländer zu beteiligen. Gegen diese Art von Biopiraterie formiert sich jedoch seit einigen Jahren Widerstand.

Der Versuch der International Plant Medicine Corporation in Kalifornien, sich Ayahuasca patentieren zu lassen, ist kein Einzelfall. Große Begehrlichkeiten richten sich auch auf den Niembaum. In Indien lässt deswegen die Initiative Neem Campaign Patentanträge auf deren Rechtmäßigkeit überprüfen. Auch beim Europäischen Patentamt mussten schon zwei Patente auf Niemprodukte zur Bekämpfung schädlicher Pilze widerrufen werden.

Patentstreit um Froschgift

Noch nicht entschieden sind Patentstreitigkeiten um den Kambofrosch Phyllomedusa bicolor. Die Stämme am Amazonas, die Matis und die Kanamari, die Kaxinawa und die Katukina, nutzen sein Gift gegen Magenbeschwerden und Migräne ebenso wie gegen Infektionen. Das Dosieren ist schwierig und die Nebenwirkungen können heftig bis tödlich sein. Das Froschgift enthält die Substanz Demorphin, die stärker wirkt als Morphin. Es enthält außerdem eine antibakterielle Substanz, die gegen Malaria und Aids eingesetzt werden könnte. Firmen im Ausland versuchen deshalb, die Inhaltsstoffe zu analysieren, um sie synthetisch herzustellen. Patente sind anhängig, die Produkte versprechen hohen Gewinn – von dem aber die Amazonas-Indianer nichts haben würden.

Von zweifelhaftem Ruf ist auch das Abkommen, das 1991 das amerikanische Pharmaunternehmen Merck mit INBio schloss, einem Privatinstitut in Costa Rica. Merck zahlte eine Million Dollar für das Recht, in Costa Rica forschen zu dürfen, und verpflichtete sich, fünf Prozent der Einnahmen aus allen Produkten, die aus Pflanzen und Tieren von Costa Rica gewonnen werden, an INBio zu entrichten. Kriti­ker in Costa Rica bezeichneten das Abkommen als „Augenwischerei“. Die Ökologin und Um­weltaktivistin Silvia Rodriguez bemängelte, dass es keine Kontrolle darüber gebe, welche Profite Merck mache und was die Firma zu zahlen habe. Von dem, was bei INBio ankomme, gelange auch nur der kleinste Teil an die lokale Bevölkerung Costa Ricas und die Nationalparks.

Letzthin ist es um diese Vereinbarung stiller geworden. Ein Grund dafür ist sicher das inter­nationale Übereinkommen zum Schutz der biologischen Vielfalt, die sogenannte Biodiver­sitätskonvention, 1992 in Rio de Janeiro ver­abschiedet. Die Konvention hat drei gleichrangige Ziele: Sie will erreichen, dass die biologische Vielfalt geschützt wird, dass nützliche Organis­men – Pflanzen, Tiere, Pilze und Mikroben – wenn, dann nachhaltig genutzt und, drittens, die Gewinne aus dieser Nutzung gerecht verteilt werden. In einer Fortschreibung der Biodiver­sitätskonvention verabschiedeten die mehr als 90 beteiligten Staaten im Jahr 2009 in Japan eine Regelung (Nagoya­Protokoll), die die Rechte der indigenen Völker stärkt und Nutzerländer verpflichtet, gegen Biopiraterie durch die jeweils nationalen Konzerne vorzugehen.

Das ist auch notwendig, denn die Schätze des Regenwalds sind längst nicht alle entdeckt.

Der Wald und seine Bewohner müssen geschützt werden

Stän­dig finden Ethnobotaniker neue Arten, doch über die richtige und gezielte Anwendung wis­sen meist nur die indigenen Völker Bescheid. Um dieses Wissen für uns nutzbar zu machen, gilt es nicht nur den Wald, sondern auch seine Bewohner zu schützen, fordern die Menschen­rechtler von Survival International ebenso wie der Ethnopharmakologe Christian Rätsch. Ver­schwinden sie, verschwinden auch die uralten Heilkünste dieser Völker. Der größte Schatz seien nicht die Pflanzen und Pilze, sondern das Wissen darüber, wie man sie einsetzt.

Welche Überraschungen im Regenwald noch verborgen sind, verdeutlichte zuletzt ein un­scheinbarer Pilz, der vor vier Jahren in Patago­nien gefunden wurde. Gliocladium roseum heißt er, und in Laborzuchten sieht er tatsächlich ein bisschen wie rosafarbene Watte aus.

Dieser Pilz produziert diverse Gifte, aus denen man Schädlingsbekämpfungsmittel gegen Bakterien und Insekten gewinnen könnte. Und er erzeugt ein brennbares Gas, fast identisch mit gasförmigem Diesel. Einer der am Fund beteiligten Forscher ist der Pflanzenchemiker Gary Stro­bel von der Montana State Universität. Seiner Ansicht nach kann dieser Pilz einmal zur effizien­ten Quelle umweltfreundlicher Energie werden. Wenn es ihm nicht so ergeht wie dem Magen­brüterfrosch, den wir ausgerottet haben, ehe wir nutzen konnten, was er uns zu bieten hatte.

Lesen Sie auch das Interview "Das Abenteuer Regenwald" mit den Fotografen Dieter Schonlau und Sandra Hanke zum Bildband "Regenwälder".

Weitere interessante Artikel finden sie auf unseren großen Themenseiten zu Wald und Natur.

(NG, Heft 11 / 2012, Seite(n) 48 bis 71)

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