Gletscher-Wachstum in Grönland kein Zeichen der Hoffnung

Durch einen Zustrom kalten Wassers gewann der Jakobshavn-Gletscher ein wenig an Masse – ein temporärer Zustand, wie Forscher warnen.

Von Adam Popescu
Veröffentlicht am 2. Apr. 2019, 10:26 MESZ
Am Rande des Jakobshavn-Gletschers im Westen Grönlands brechen Eisberge ab und stauen sich im Meer.
Am Rande des Jakobshavn-Gletschers im Westen Grönlands brechen Eisberge ab und stauen sich im Meer.
Foto von Jefferson Beck, NASA, Gsfc

Wenn es erstmal geschmolzen ist, kommt es nicht wieder. So hört man es oft, wenn über das Eis berichtet wird, welches durch die globale Erwärmung immer weiter zurückgeht. Schließlich schrumpfen in der gesamten Arktis die Gletscher, oder etwa nicht?

Womöglich ist es nicht ganz so einfach.

Das NASA-Projekt Oceans Melting Greenland (OMG) zeigte kürzlich, dass der grönländische Jakobshavn-Gletscher – der größte der Insel – zumindest am Rand wieder wächst. In einer Studie, die in „Nature Geoscience“ erschien, berichteten Forscher, dass das Eis des Gletschers seit 2016 leicht an Mächtigkeit gewonnen hat. Als Grund nannten sie das vergleichsweise kalte Wasser, welches den Schmelzprozess verlangsamt hat. Damit hat sich sein seit 20 Jahren anhaltender Trend des stetigen Rückgangs umgekehrt. Aufgrund der anderen Vorgänge auf dem Grönländischen Eisschild und der generellen Klimaprognosen verheißt das für den globalen Meeresspiegel trotzdem nicht unbedingt Gutes.

Auch wenn dieser spezielle Gletscher wachsen mag, verliert der Grönländische Eisschild nach wie vor große Mengen an Eis.

Das mag zunächst verwirrend klingen, aber das liege nur daran, dass der Klimawandel eben nicht als geradliniger Prozess verläuft, wie die NASA-Wissenschaftler erklären.

„Früher dachte man, wenn die Gletscher erstmal zu schrumpfen beginnen, kann sie nichts mehr aufhalten“, sagt Josh Willis, ein Ozeanograf vom Jet Propulsion Laboratory der NASA und leitender Wissenschaftler des OMG-Projekts. „Wir haben herausgefunden, dass das nicht stimmt.“

Auch andere arktische Gletscher könnten ein ähnliches Wachstum zeigen. Das deute darauf hin, dass das saisonale Wachsen und Schrumpfen der Gletscher in einer Welt, die sich stetig erwärmt, komplizierter und schwieriger vorherzusehen ist als angenommen, meint Willis.

Ein wichtiger Faktor ist aber, dass dabei nicht nur die wärmere Luft eine Rolle spielt. „Auch das Wasser erwärmt sich“, so Willis. „Die Meere spielen für das Schmelzen des grönländischen Eises eine wichtige Rolle.“

„Das alles deutet darauf hin, wie empfindlich Gletscher auf steigende Meerestemperaturen reagieren“, sagt der Hauptautor der Studie Ala Khazendar, ein Glaziologe des OMG-Projekts.

Warum wächst der Jakobshavn-Gletscher? Die Forscher verweisen auf einen Zufluss von ungewöhnlich kaltem Wasser aus dem Nordatlantik in die arktischen Gewässer. Die Folgen machen sich besonders in der Diskobucht bemerkbar, deren Wasser auch den Ilulissat-Eisfjord speist, in dem sich der Gletscher befindet. In einer Tiefe von 250 Metern sind die Temperaturen seit 2014 um zwei Grad Celsius gesunken. Durch dieses kalte Wasser konnte der Gletscher sein Abschmelzen verlangsamen und sogar ein wenig Eis hinzugewinnen.

Dieser Zustrom von kaltem Wasser ist kein isoliertes Ereignis. Der Atlantik durchläuft einen natürlichen Zyklus, in dem sich kühleres und wärmeres Wasser etwa alle 20 Jahre abwechseln. Derzeit dringt kälteres Wasser immer weiter an der Westküste Grönlands vor. Aber diese Phase wird sich irgendwann wieder umkehren – dann kehrt das warme Wasser zurück.

Insgesamt geht die Gletscherschmelze also weiter und auch der Eisschild schrumpft beständig. Dennoch zeigen diese Zyklen, dass die Auswirkungen des Klimawandels nicht zwingend geradlinig verlaufen. Auch für die über 200 grönländischen Gletscher könnte die Lage daher komplizierter sein als angenommen.

Komplexe Interaktionen

Gletscher wie der Jakobshavn reichen bis aufs Meer hinaus, was erklärt, wie die Wassertemperaturen sich auf ihre Größe und ihre Bewegungen auswirken können. Womöglich bedeutet das aber auch, dass sie insgesamt langsamer schrumpfen als gedacht.

Zwischen 2000 und 2010 verlor der Jakobshavn-Gletscher mehr Bruchstücke aus festem Eis als jeder andere Bereich des Grönländischen Eisschilds – insgesamt eine Menge, die einem globalen Meeresspiegelanstieg von fast einem Millimeter entspricht. Das grönländische Eis macht zehn Prozent der weltweiten Süßwasserreserven aus. Wenn die Insel komplett abtauen würde, würde der Meeresspiegel um mehr als siebeneinhalb Meter ansteigen.

Willis zufolge hatten Experten angenommen, dass der Gletscherschwund größtenteils vom Meeresboden gesteuert wird, da sich das Eis an unterirdischen Erhebungen verkeilen kann, wodurch die Bewegung des Gletschers behindert wird. „Aber wir haben herausgefunden, dass man auch darauf achten muss, was das Meer treibt“, sagt er. Wenn das Eis an der Oberfläche schmilzt, bahnt sich das Wasser einen Tunnel durch den Eisschild und kommt am Grund des Gletschers wieder heraus.

Durch die Durchmischung von Süß- und Salzwasser unterhalb des Gletschers wird das Abschmelzen beschleunigt und es kommt häufiger zu Kalbungen. Der Jakobshavn-Gletscher mag also aktuell wachsen, aber der Eisschild schrumpft nach wie vor rapide und trägt zum Anstieg des Meeresspiegels bei.

„Das sind die Auswirkungen der sich erwärmenden Meere“, sagt Khazendar.

In Anbetracht der Tatsache, dass sich die Welt noch weiter erwärmen wird, sieht es für den Gletscher in Zukunft trotz aktuellem Zugewinn schlecht aus, denn der Eisverlust in den Warmphasen wird größer sein als das Wachstum in den Kaltphasen. 

Ein Schritt vorwärts, zwei zurück

„Mehr als 90 Prozent der Wärme, die durch die Treibhausgase zurückgehalten wird, heizt die Meere auf“, erklärt Willis. „Wir wissen also, dass diese Abkühlung auf lange Sicht vorübergehen wird. Wenn das geschieht, wird der Gletscher noch schneller als zuvor schrumpfen.“

OMG begann 2016 damit, das saisonale Wachsen und Schrumpfen des Eises zu überwachen. Mit den Daten sollte der globale Anstieg des Meeres genauer vorhergesagt werden. Jetzt wollen die Forscher des Projekts Willis’ Hypothese prüfen. Dazu fliegt das Team beispielsweise über die Gletscher hinweg und vermisst die Eisdecke mit Hilfe von Radarscans, welche die Eisdicke bis auf einen Meter genau erfassen können. Ein Großteil der Klimaforschung beschränkt sich nach wie vor auf die Luft und die Atmosphäre. OMG, welches mit Hilfe von Sendern an Narwalen auch die Meerestiefe und -temperatur misst, erforscht hingegen direkt das Wasser und die Gletscher.

Im Laufe des Jahres wird die NASA-Mission GRACE-FO welche die Bewegungen der irdischen Wassermassen aufzeichnet, offenbaren, wie viel Masse Grönland in den letzten zwei Jahren verloren hat. Willis zufolge „kann uns das dabei helfen zu erfahren, ob dieser Effekt noch weiter verbreitet ist und das Massengleichgewicht positiv beeinflussen könnte. [...] Wir wissen nicht, wie wir die Ergebnisse vom Jakobshavn im grönländischen Gesamtkontext einordnen sollen, bis wir diese zusätzlichen Daten haben.“

„Ich denke, dass das so im Grunde stimmt“, sagt David Holland, ein Professor der New York University, der an der Studie nicht beteiligt war, aber zwölf Jahre lang die Interaktionen zwischen dem Meer und dem Jakobshavn-Gletscher erforscht hat. Auch er vermutet, dass diese Wechselwirkung von der Arktis bis zu Antarktis weit verbreitet sein könnte.

„Im Sommer kann man sehen, wie der Jakobshavn wächst, anstatt zu schrumpfen“, fährt Holland fort. „Ich denke, die Frage ist eher: Warum tut der Gletscher, was er tut? Meiner Meinung nach ist das Meer der dominante Faktor, der das kontrolliert.“

Einige von Hollands Fachkollegen sind sich da nicht so sicher. „Ich muss schon sagen, dass mich diese Beobachtung ein bisschen überrascht hat“, gibt Martin Truffer von der University of Alaska zu, der Gletscherbewegungen mit Hilfe von Bodenradarscans misst.

Truffer glaubt, dass eine Erwärmung der Luft zum Gletscherwachstum beiträgt. „Dabei ist wichtig zu wissen, dass diese Gletscher viel schneller auf kurzfristige Temperaturveränderungen reagieren können. Wir dachten früher, dass solche Eisschilde nur sehr langsam reagieren. Aber das hier zeigt, dass Gletscher sehr schnell auf das Klima reagieren können“, erzählt er. „Es bleibt abzuwarten, ob sich das ausbreitet oder nicht.“

Laut Truffer hängt die Ausbreitung dieses Effekts auch von den Wassertemperaturen ab, die Willis zufolge allerdings erst im Laufe der kommenden Monaten durch die GRACE-Mission zur Verfügung gestellt werden.

Die Temperatur der Luft ist dabei vermutlich wichtig, ebenso wie eventueller Schneefall, fügt Willis hinzu. „Wärmere Luft wird zu stärkerem Abschmelzen und mehr Eisverlust führen“, sagt er. „Kältere Luft könnte einen geringeren Eisverlust zur Folge haben. Aber wir wissen, dass das, was wir gesehen haben, vom Meer verursacht wurde, da die Verzögerung [des Abschmelzens] und der Eiszuwachs sich dort konzentrieren, wo das Eis auf Wasser trifft. Der Zuwachs wird immer geringer, je weiter man landeinwärts kommt.“

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Das Wechselspiel zwischen wärmeren Meeresströmungen und Gletschern, die ins Meer hineinreichen, zeigt in der Antarktis bereits seine Wirkung. Dort sind aktuell zehn Prozent der Küstengletscher im Rückgang befindlich. Zwischen 1991 und 2016 erwärmte sich das Meer pro Jahr im Schnitt um 60 Prozent stärker als vom Weltklimarat prognostiziert.

Die Folgen dessen sind auch in der menschlichen Sphäre zu spüren, angefangen bei der Rohstoffgewinnung und Schifffahrtswegen über die Fischerei bis hin zu strategischen Überlegungen und Gebietsansprüchen von Russland bis nach China.

Wenn Gletscher wie der Jakobshavn weniger Eis verlieren, könnte das bedeuten, dass weniger gefährliche Eisberge nach Süden in den Atlantik treiben, wo sie Schifffahrtsrouten kreuzen. Oder es könnte bedeuten, dass durch Eisabgänge unter Wasser mehr Eisschollen entstehen. Vom Jakobshavn-Gletscher brechen jedes Jahr etwa 20 Milliarden Tonnen Eis ab und treiben aufs Meer hinaus – mehr als irgendwo sonst auf der Welt, mit Ausnahme der Antarktis, wo der Labradorstrom die Eisberge über weite Strecken transportiert. Allein 2017 trieben mehr als 1.000 Eisberge unterhalb des 48. nördlichen Breitengrades über das Meer. Dort stellen sie eine besonders große Gefahr für den Schiffsverkehr dar. Auch der Eisberg, der 1912 die Titanic versenkte, war so ein Eisgigant.

Khazendar will zudem ganz klar betonen, dass der Jakobshavn-Gletscher nach wie vor zum globalen Anstieg des Meeresspiegels beiträgt. „Der hört nicht auf.“

Als wäre das Zusammenspiel von Luft, Meer und Eis noch nicht komplex genug, zeigten Forschungen, dass der Niederschlag in Grönland von 1979 bis 2012 zugenommen hat und zu plötzlichen Schmelzphasen führte. Es gibt auch Belege dafür, dass die wärmeren Temperaturen die Schneegrenze auf der Insel verschoben haben. Dadurch hatte mehr Eis direkten Kontakt zur Luft und schmolz ebenfalls.

Willis zufolge schließen sich diese Erkenntnisse und die Ergebnisse seiner jüngsten Studie nicht gegenseitig aus. Und auch, wenn die Daten recht eindeutig zeigen, dass der Jakobshavn-Gletscher gewachsen ist, lässt sich nicht genau sagen, wie viel und warum. „Es gibt eine ganze Reihe an möglichen Erklärungen“, sagt Willis.

„Das Überraschende ist aber das Meer. Es hat den Rückgang dieses Gletschers im Grunde umgedreht. Wir hätten nicht gedacht, dass das Meer dabei so eine wichtige Rolle spielen könnte.“

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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