Schutzlose Schutzgebiete: Wirtschaftliche Aktivitäten gefährden die Artenvielfalt in Nord- und Ostsee

Obwohl große Teile der Nord- und Ostsee als Meeresschutzgebiet ausgewiesen sind, werden sie intensiv für Schifffahrt, Fischerei und Kiesabbau genutzt. Ein Paradoxon, das den Lebensraum vieler Tiere bedroht.

Von Anna-Kathrin Hentsch
Veröffentlicht am 30. Juni 2020, 11:20 MESZ
Schweinswal Schutzgebiet Nordsee

Kleine Tümmler in Deutschlands Meeren: Der Schweinswal lebt in allen Meeren der nördlichen Hemisphäre, meist nicht mehr als 10 km vom Festland entfernt. 

Foto von Willi Rolfes

Im Sommer wie Winter locken die Nord- und Ostsee Besucher auf der Suche nach Erholung an den Strand und in die Natur. Doch während die Menschen an Land die Ruhe genießen, haben die Meeresbewohner vor der Küste keine ruhige Minute – und das selbst wenn  sie in einem ausgewiesenen Meeresschutzgebiet leben. Deutschland hat etwa 45 Prozent seiner Nord- und Ostsee unter den Schutz von Natura 2000 gestellt, einem Schutzgebietsnetz nach FFH- und Vogelschutz-Richtlinie. „Hier sollen seltene Lebensräume wie zum Beispiel Seegraswiesen, Sandbänke oder Riffe, aber auch Verbreitungsschwerpunkte von Schweinswalen, Seehunden oder Meeresvögeln vor menschlichen Aktivitäten und deren schädlichen Auswirkungen geschützt werden“, erklärt Dr. Kim Detloff, Meeresbiologe und Leiter für Meeresschutz beim NABU. Als gemeinsame Antwort Europas soll Natura 2000 dem Verlust biologischer Vielfalt entgegenwirken. „Das ist dringend notwendig, denn Nord- und Ostsee geht es schlecht, wie auch der letzte Bericht zur Lage der Natur zeigte. Etwa ein Drittel der Arten stehen auf der Roten Liste. Die Meere vor unserer Haustür sind an ihrer Belastungsgrenze. Und Meeresschutzgebiete bilden hier das Gerüst des Arten- und Lebensraumschutzes.“

Interessenskonflikte behindern den Meeresschutz

Doch selbst in den Natura-2000-Schutzgebieten gelingt es nicht, das Ökosystem Meer vor den schädlichen Folgen wirtschaftlicher Aktivitäten zu schützen. Denn die Bereiche werden nach wie vor intensiv für die Schifffahrt, Fischerei, den Kiesabbau genutzt. Genau darin liegt auch für Dr. Detloff die Krux: „Die Meere wirken so endlos und unverwundbar. Sie begeistern uns im Urlaub oder beim Wassersport. Doch wie es tatsächlich um sie steht, sehen wir erst auf dem zweiten Blick.“

Die Nord- und Ostsee gehören zu den am intensivsten genutzten Meeren der Welt, für Dr. Detloff vergleichbar mit Industrieparks zu Land: „Überall fahren Schiffe, graben Bagger nach Sedimenten, werden Offshore-Windparks oder Ölplattformen gebaut und Fangflotten jagen allgegenwärtig nach dem letzten Fisch, wobei die Grundschleppnetze die sensiblen Lebensgemeinschaften am Meeresboden zerstören. Es gibt kaum mehr eine Ecke, wo sich das marine Ökosystem ungestört entwickeln kann, keine Refugien für seltene und bedrohte Arten.“ Obwohl Meeresschutzgebiete eigentlich genau das leisten sollen, scheitern Versuche der effektiven Umsetzung sowie Schutzmaßnahmen am Widerstand der Politik und sektoralen Wirtschaftsinteressen. „Der vielzitierte Ausgleich zwischen Schutz und Nutzung der Meere ist noch weit entfernt. Tatsächlich ungenutzte Bereiche haben wir in der Praxis leider nicht. Und so ist die flächendeckende Übernutzung der Meere der Grund für den Rückgang sehr vieler Arten. Gleichzeitig verliert das Gesamtökosystem Meer seine Resilienz gegenüber den notwendigen Anpassungen in Zeiten der Klimakrise. Durch die Vielzahl an Stressoren ist es kumulativ überlastet.“

Kurioser Fisch: Der Seehase ist in der Ostsee zuhause. Weil er kein guter Schwimmer ist, saugt er sich am Meeresgrund fest. Zum Laichen kommt er in flache Gewässer. Sein Rogen wird häufig schwarz eingefärbt und als „Deutscher Kaviar“ verkauft.

Foto von Wolf Wichmann

Fehlendes Schutzgebietsmanagement

Laut NABU fehlt bis heute ein regulierendes Schutzgebietsmanagement, werden Maßnahmen in der Umsetzung verzögert. Um die Zuständigkeit der Umsetzung zu klären, muss man das Küstenmeer (12 Seemeilenzone) unter Verwaltung der Länder und die Ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ, 12-200 Seemeilenzone) unter Verwaltung des Bundes unterscheiden. In der AWZ gibt es zehn Natura-2000-Gebiete, die 2017 zu sechs Naturschutzgebieten zusammengelegt wurden. Doch die Interessen der maritimen Wirtschaft, gestützt von weiten Teilen der Politik, haben sich weitreichende gesetzliche Ausnahmen, selbst im Bundesnaturschutzgesetz, gesichert. „So können wir sie heute nicht einfach verbieten. Das betrifft beispielsweise den Rohstoffabbau oder die Energiegewinnung, die im §57 BNatSchG weitreichende Ausnahmegenehmigungen haben. Die Fischerei und Schifffahrt kann Deutschland ebenfalls nur sehr begrenzt national regulieren, da sie europäisch oder global geregelt werden, über die Internationale Seeschifffahrtsorganisation IMO oder die Gemeinsame Fischereipolitik der EU (GFP),“ beschreibt Dr. Detloff die Hintergründe der mangelnden Umsetzung. „Und so ist es letztendlich eine historisch gewachsene Kleinstaaterei von Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten im Meeresschutz, die im deutschen Föderalismus anfängt und bei  den Vereinten Nationen endet, die bisher verhindert, dass wir echte Schutzgebiete haben, die ihren Zielen gerecht werden“.

Die Nord- und Ostsee gleichen Industrieparks, wie hier im Offshore-Windpark in Emden.

Foto von Gritte, Unsplash.com

Der romantisch-verklärten Vorstellung von einem Meeresschutzgebiete als ein Stück unberührte Natur voll vielfältiger Lebensgemeinschaften, in dem schadende Wirtschaftsinteressen zurückstehen müssen, steht die wachstumsgetriebene Realität gegenüber. „Fast alles, was außerhalb von Schutzgebieten erlaubt ist, findet auch in ihnen statt. Man kann sich fragen, ob der Begriff Schutzgebiet überhaupt angemessen ist. Denn wir haben keine fischereifreien Zonen und bauen Gaspipelines durch Schutzgebiete oder legen Verkehrstrennungsgebiete – die Autobahnen der Schifffahrt – mitten durch.“

Naturschutz Land vs. Meer

Doch warum wird ein Naturschutzgebiet an Land anders behandelt als eines im Meer? Der Aufschrei wäre groß, wenn der Nationalpark Bayrischer Wald einfach umgepflügt und abholzt würde. Ein vergleichbares Szenario, findet der Leiter für Meeresschutz: „Letztendlich machen Grundschleppnetze im Nationalpark Wattenmeer nichts anderes. Nur sehen wir es nicht, es ist historisch und gesellschaftlich akzeptiert. Und der Grund dafür, dass wir heute keine Sandkorallen und Seefedern und kaum mehr Rochen im Wattenmeer haben. Die Idee von Schutzgebieten ist immer noch richtig, doch wir stecken bei der Ausweisung fest und haben nicht den Willen, echte Maßnahmen durchzusetzen, die unsere Aktivitäten lenken und regulieren. So entstand der Begriff der ‚Paper Parks‘ – Schutzgebiete, die zwar auf dem Papier existieren, ihrem Zweck aber nicht gerecht werden können“. Wenn Deutschland politisch glaubwürdig bleiben will, muss sich das laut Meinung des Meeresbiologen, ändern. „Bisher stehen die Umweltministerien in Bund und Ländern auf verlorenem Posten. Sie sind unterfinanziert, personell schlecht ausgestattet und in der politischen Entscheidungskette der Ressorts in der Regel immer nur zweiter Sieger. Der Naturschutz hat solange seine Berechtigung, wie er wirtschaftliche Entwicklung und Wachstum nicht stört. Das hat mit Nachhaltigkeit aber nichts zu tun, denn wir sägen an dem Ast auf dem wir sitzen. Überall erleben wir, dass Arten zurückgehen und ihr Fehlen auch negative wirtschaftliche Folgen hat.“ So muss die Fischerei stark subventioniert werden, da das Befischen überfischter Bestände zu aufwändig und nicht mehr wirtschaftlich ist. Auch im Kampf gegen die Klimakrise fehlen die natürlichen Klimafunktionen der Meere. „Mangrovengürtel sind natürlicher Klima- und Küstenschutz. Seegraswiesen oder Salzwiesen und -marschen sind effektive Kohlenstoffsenken. Die Meere haben in den vergangenen Jahrzehnten 1/3 des vom Menschen verursachten CO2 gebunden. Die Ökosystemleistungen für uns Menschen sind so groß und vielfältig, dass es an Selbstzerstörung grenzt, die Ozeane so schlecht zu behandeln“.

Flexible Schutzsysteme sind nötig

Die europäische Meeresstrategie-Richtlinie (MSRL) soll helfen, das zu ändern und Europas Meere bis 2020 in einen guten Zustand navigieren,  indem Schutz und Nutzung in Einklang gebracht werden. Dieses Ziel wurde verfehlt und Deutschland selbst muss dies im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft bis Ende 2020 verkünden – eine undankbare Aufgabe. Die Basis der MSRL bildet ein komplexes Bewertungssystem, das unter Berücksichtigung zahlreicher Indikatoren, Merkmale und Belastungsfaktoren alle Eigenschaften des Ökosystems Meer charakterisiert. „Die MSRL füllt so auch die Lücken zwischen den Schutzgebieten, und sie bildet den politischen Rahmen um die verschiedenen Instrumente des Meeresschutzes, so Dr. Detloff. „Denn ganz allein helfen Meeresschutzgebiete auch nicht, wenn wir generell nicht schonender und nachhaltiger wirtschaften. Viele Arten im Meer leben mobil in einem dreidimensionalen Raum. Sie wandern zwischen Lebensräumen mit unterschiedlicher Funktionalität: Nahrungssuche, Fortpflanzung, Jungenaufzucht, Rast, etc. Diese richten sich nach Strömungsverhältnissen oder Nahrungsverfügbarkeit, nicht nach Schutzgebietsgrenzen. Deshalb brauchen wir im Meeresschutz flexible, dynamische Systeme.“ Doch auch die MSRL greift auf Schutzgebiete zurück, um Dichtezentren zu schützen und Referenzflächen zu schaffen, um den angestrebten guten Umweltzustand zu erreichen oder überhaupt erst einmal wissenschaftlich zu verstehen.

Prioritäre Maßnahmen

Um die Meere besser zu schützen, müssten laut NABU prioritär ungenutzte Zonen geschaffen werden, die Fischerei reformiert und die Nährstoffe, die aus der Landwirtschaft in die Nord- und Ostsee gelangen, eingedämmt werden. „Und wir müssen den Mut haben, aktiv Verlorenes durch Restorationsmaßnahmen, Aufforstung von Seegraswiesen, Renaturierung der Riffe zurückzuholen, um die Meere divers und resilient zu halten“.

Doch auch jede/r Einzelne kann zum Schutz der Nord- und Ostsee beitragen, erklärt der Experte: „So trivial es klingt, Meeresschutz fängt tatsächlich zu Hause an, obwohl natürlich die politischen Weichen dafür noch entscheidender sind. Beim Fischkonsum sollte ich hinterfragen, woher kommt der Fisch, wie wurde er gefangen, ist der Bestand gesund, die Art bedroht? Fischführer der Umweltverbände oder anerkannte Siegel können helfen. Mein Konsum- und Abfallverhalten bestimmt den Ressourcenverbrauch und kann helfen, die massiven Kunststoffvermüllung der Meere zu reduzieren. In Sachen Urlaubsplanung sollte man sich fragen, wie verreise ich eigentlich, was ist mein eigener ökologischer Fußabdruck. Wie und wo mache ich Urlaub, sollte ich tatsächlich auf ein Kreuzfahrtschiff gehen oder einen lauten Jetski mieten, oder sind die Segelreise und das Kanu nicht für die Natur und mich die bessere Wahl?“. Denn dann bietet das Meer allen Erholung – den Besuchern wie den Bewohnern.

 

Dr. Kim Detloff ein Kind der Küste und hat sich früh vom Meer begeistern lassen. Als die Meeresbiologie als Berufswunsch dazukam, wurde schnell klar, dass er sich für den Schutz der Meere einsetzen will. Die grenzenlose Vielfalt im Meer, jede Art mit ihrer eigenen Geschichte und ihrer eigenen Nische in diesem Ökoysystem zu erhalten, treibt ihn an. Und motiviert ihn, trotz der großen Widerstände mit denen er sich täglich beschäftigt. Wer virtuell in die Ostsee abtauchen will, dem empfielt er OstseeLife des NABU.

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