Ein Bett in der Bucht
Mit eigens entwickelten Riffs und viel Brutpflege versuchen Meeresbiologen, vor Borkum die europäische Auster wieder anzusiedeln.
Das Habitat der Auster ist ein Hotspot der Artenvielfalt. Austern sind überaus reinlich: Jede einzelne filtert 240 Liter Wasser pro Tag.
25 Seemeilen vor der Nordseeinsel Borkum geht die Multrasalvor 4 vor Anker. Der Horizont ist wolkenverhangen, Regenschauer prasseln gegen die Fenster der Brücke. Konzentriert verfolgen Bernadette Pogoda und Tanja Hausen das Geschehen an Deck. Über viele Monate haben die Meeresbiologinnen vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) gemeinsam mit einem internationalen Team auf diese Mission hingearbeitet. In den kommenden Tagen wird dem Meer etwas zurückgegeben, das einst durch Menschenhand verschwand.
Auf Kommando des ersten Offiziers hievt der lange Arm des Schiffskrans ein tonnenschweres, mit Kalksteinbrocken befülltes Netz in die Höhe. Langsam schwenkt der Kranführer die Steine über die Reling, versenkt das enorme Bündel und entleert es auf den Boden der Nordsee. Es ist die Grundsteinlegung für die Rückkehr einer ehemals heimischen Art: der Europäischen Auster (Ostrea edulis).
Die Europäische Auster ist hierzulande seit 70 Jahren ausgestorben
Einst von Norwegen bis nach Nordafrika weit verbreitet, ist sie längst eine stark gefährdete Art. „Noch vor hundert Jahren bedeckte die Europäische Auster rund 20 Prozent der deutschen Bucht“, erklärt Projektleiterin Bernadette Pogoda. „Seit 70 Jahren gilt sie hierzulande als funktionell ausgestorben.“ Das liegt auch an ihrer Beliebtheit. Das nahrhafte Fleisch der Europäischen Auster genossen Menschen schon zur Steinzeit. Später schlürften Römer, Wikinger, angeblich auch Shakespeare die Delikatesse. Überfischung machte dem Zwitterwesen, das sein Geschlecht wechseln kann, schließlich den Garaus.
Im Meeresschutzgebiet Borkum Riffgrund plant das Bundesamt für Naturschutz (BfN) nun die Wiederansiedlung der Auster. Wie dies am besten gelingt, wollen Forscher des AWI anhand von zwei Pilotriffs untersuchen. Statt um Kulinarik dreht sich bei der Renaturierung alles um den Meeresnaturschutz, denn der ökologische Nutzen der rund 15 Zentimeter großen Europäischen Auster ist enorm. „Sie bildet biogene Riffe mit vielen weiteren Arten“, erklärt Pogoda, „etwa mit Moostierchen, Schwämmen oder Seeanemonen. Fische können darin laichen oder Jungfische sich verstecken.“
Ihr Habitat ist ein Hotspot der Artenvielfalt.
Riffe stellen zudem einen natürlichen Küstenschutz dar – und nicht zuletzt ist sie eine Reinigungsmaschine. „Die Austern ernähren sich filtrierend von Mikroalgen. Eine einzige ausgewachsene Auster filtert am Tag bis zu 240 Liter“, sagt Pogoda. Die Forscherin steht vor einem der acht 500-Liter-Kübel an Deck, in denen die rund 200 000 Jungaustern lagern. In netzartigen Säckchen baumeln sie im sprudelnden Nordseewasser, einzeln oder angedockt an alte Austernschalen. In einer anderen Variante haften sie an kleinen Sandsteinriffen. Durch die verschiedenen Methoden wollen die Forscher herausfinden, wie sich die nur wenige Millimeter großen Babyaustern am besten entwickeln – und Riffe entstehen. Lange hatte das Team nach einem geeigneten Standort für das Pilotriff gesucht. Im Meeresschutzgebiet vor Borkum fand man ideale Bedingungen.
Ein Quartett von Berufstauchern soll die Grundlage für die neue Heimat schaffen. Jutesäcke voll alter Austernschalen, durchlöcherte Körbe und diverse Kalksteinhaufen werden dafür am Meeresgrund befestigt – das Bett für die Babyaustern. Über Funk sind die Taucher mit Einsatzleiter Daniel Klatt verbunden. An der Reling steht ein Mann zum Wechsel bereit, um das nur einstündige Zeitfenster des Stauwassers perfekt auszunutzen. Erst nach der nächsten Tide wird der folgende Tauchgang möglich sein, sonst würde die Strömung Taucher und Material fortreißen.
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„Wir haben heute beste Bedingungen“, sagt Klatt, „gute Sicht, und das Meer ist ruhig.“ Noch am selben Tag ist ein Markierungsstein samt Boje gesetzt, sind erste Tampen ums Riff gespannt, damit Forschungstaucher sich bei späteren Probenentnahmen in der Tiefe orientieren können. An Tag drei kann das erste Versuchsriff mit Jungaustern bestückt werden. Die Taucher verteilen 40 mit Saataustern befüllte Jutenetze in der Tiefe – teils auf dem Kalksteinfeld, teils direkt auf dem Meeresgrund.
Fünf Jahre lang wird das Projektteam die Entwicklung des Versuchsriffs verfolgen. „Nächstes Jahr werden wir die ersten Proben nehmen und die Muscheln auf ihr Gewicht und andere Parameter untersuchen“, sagt Pogoda. „Ein voller Erfolg wäre es, wenn die Austern gut wachsen, sich reproduzieren und eine Lebensgemeinschaft mit hoher Biodiversität entsteht.“ Gelänge dies großflächig, kann sich die heimische Auster bald ihr Refugium in der deutschen Bucht zurückerobern.
Dörte Nohrden lebt in Hamburg und ist gerne in nördlichen Gefilden und am Meer auf Recherche unterwegs.
Dieser Artikel erschien in voller Länge in der Mai 2021-Ausgabe des deutschen NATIONAL GEOGRAPHIC Magazins. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!