Spektakuläre Unterwelt: Die Eishöhlen der Alpen

Die Eishöhlen in den Alpen zählen zu den großen Naturwundern der Erde. Doch die Klimaerwärmung bedroht diese spektakuläre Unterwelt.

Von Denise Hruby
Veröffentlicht am 10. Nov. 2022, 12:30 MEZ
Eiskogelhöhle mit faszinierenden Eisskulpturen

Eiskogelhöhle: Das Wasser, das in Eishöhlen wie dieser im Tennengebirge südlich von Salzburg einsickert, gefriert zu faszinierenden Strukturen: herabstürzende eisige Spitzen und Zacken, von unten aufsteigende Pyramiden. Manche davon sind Tausende Jahre alt.

Foto von Robbie Shone

Höhlen entstehen am häufigsten in Kalkstein und Dolomit, Gestein, das von saurem Regenwasser besonders löslich ist. Im Laufe Hunderttausender Jahre wäscht von der Oberfläche herabfließendes Wasser Gänge und Hohlräume aus, die mitunter groß genug sind, um Flüssen und Seen Raum zu bieten. Aus dem Wasser, das in die Höhlen tropft, lösen sich Mineralien und bilden Stalaktiten, die von der Decke hängen, und Stalagmiten, die aus dem Boden wachsen.

Niemand weiß genau, wie viele Eishöhlen es gibt, doch zweifellos sind sie in den Alpen zahlreicher als irgendwo sonst. Allein in Österreich hat man etwa 1200 entdeckt, im Nordosten Italiens gibt es mehrere Hundert weitere. In manchen Höhlen führt der Höhenunterschied zwischen Ein- und Ausgang zu einem starken Kamineffekt: Fallen im Winter die Außentemperaturen weit unter die im Höhleninneren, steigt die wärmere, leichtere Innenluft auf und entweicht durch die höher gelegenen Ausgänge. Kalte, frische Luft wird gleichzeitig in die tiefer gelegenen Eingänge gesogen. So kühlt die Höhle ab. Im Sommer kehrt sich der Luftstrom um. Durch den Kamineffekt bleiben die unteren Bereiche der Höhle das ganze Jahr über kühl.

Kamineffekt der Eishöhlen: Der Atem des Teufels?

Unsere abergläubischen Vorfahren mieden solche Orte, weil sie glaubten, die kalte Luft, die aus ihnen herauswehte, sei der Atem des Teufels. Andere waren pragmatisch und nutzten die Höhlen als Kühlräume und sogar zum Schlittschuhlaufen. Schon früher bewunderte man ihre Schönheit und fertigte Zeichnungen davon für frühe Wissenschaftszeitschriften an. Die Formationen, die in diesen alten Illustrationen dargestellt sind, wird man heute nicht mehr finden; zu viel Eis ist geschmolzen.

Eisgruben: Paläoklimatologe Tanguy Racine (r.) und seine Kollegin Cecilia Kan steigen eine 21 Meter hohe Eiswand hinab, um eine Probe zu ent - nehmen. Racine entdeckte, dass das Eis in der Nähe des Bodens dieser 100 Meter tiefen Höhle 5300 Jahre alt sein könnte.

Foto von Robbie Shone

Eishöhlen als Klimaarchiv

Damit verlieren wir nicht nur ein weiteres der großen Wunder unseres Planeten, sondern auch einen Schlüssel zu seiner Geschichte, sagt der Paläoklimatologe Aurel Persoiu vom rumänischen Emil-Racovita-Institut für Höhlenkunde. „Diese Eishöhlen sind wie ein Klimaarchiv“, sagt er – ähnlich wie Tiefseesedimente oder polares Eis. In der Scărișoara-Höhle im rumänischen Apuseni-Gebirge ist Persoiu einen 47 Meter tiefen Schacht hinuntergeklettert, um einen Eisblock zu erreichen, dessen Oberfläche etwa so groß ist wie ein halbes Fußballfeld.

Die Radiokarbondatierung von Fledermausguano oder Pflanzenmaterial, das im Eis eingeschlossen ist, gibt ihm Aufschluss darüber, wann das Eis im Zuge historischer Klimaveränderungen wuchs oder abnahm. Die ältesten Eisproben, die er entnommen hatte, waren mehr als 10000 Jahre alt. Chemische Analysen des Eises ergaben, dass der meiste Niederschlag in der Region bis vor etwa 5000 Jahren aus dem Atlantischen Ozean stammte und sich dann auf das östliche Mittelmeer verlagerte.

Heute sind in Scărișoara und anderen Eishöhlen in den Alpen große Veränderungen im Gange: Ihr Eis nimmt durch die Erwärmung der Luft und die zunehmenden Sommerniederschläge ab. „Es ist, als würde man warmes Wasser auf das Eis gießen“, sagt Persoiu. 2018 entdeckte er unweit von Scărișoara eine vielversprechende neue Höhle, die er zu untersuchen hoffte. „Als wir vier Jahre später zurückkamen, gab es dort kein Eis mehr“, sagt er. „Es war komplett geschmolzen.“

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Foto von National Geographic

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