Biologging: Wie Tiere zu Sensoren des Planeten werden

Tiere wissen unendlich viel über den Zustand der Erde. Das Icarus-Projekt will dieses Wissen zugänglich machen - um Tieren eine Stimme zu geben und sie als Frühwarnsysteme einzusetzen.

Von Martin Wikelski und Uschi Müller
Veröffentlicht am 13. Dez. 2022, 13:38 MEZ
Schwarmintelligenz: Was wir von Tieren lernen können

Schwarmintelligenz verstehen: Dank Biologging ist es heute möglich, Informationen von weltweit verteilten Tieren zusammenzufassen und daraus Schlüsse zu ziehen.

Foto von Dr. Georg Wietschorke auf Pixabay

Jeder, der seinen Hund gut kennt, seine Katze, seinen Papagei, seinen Kanarienvogel, oder auch die Schlangen- oder Froschliebhaber unter uns wissen, dass Tiere Informationen besitzen, die uns Menschen nicht zur Verfügung stehen. Wenn wir mit traditionellen Bauern reden, ganz egal wo auf der Welt, dann wird immer klar, dass sie von ihren Tieren lernen und im Normalfall versuchen, das Leben für die Tiere so gut wie möglich einzurichten. Nur so profitieren beide, die Bauern und deren Tiere. Während der industriellen Revolution, die vor vielleicht 200 Jahren angefangen hat, haben wir Menschen – zuerst in den westlichen Kulturen, aber dann quasi als Exportprodukt über die ganze Welt – das traditionelle Wissen im Umgang mit den Tieren größtenteils verloren. Zum ersten Mal kamen neue technische Systeme auf, die überall und mit einfacher Sensorik die Umwelt vermessen konnten.

Heute sind wir damit in der Lage, Daten zu erfassen: Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Wind und Wetter sowie die Grünheit oder die Produktivität der Landschaft. Trotz dieses enormen Wissens sind wir vom Insektensterben, dem Verschwinden der Vögel und anderen weitreichenden Problemen, die unsere Lebensgrundlagen betreffen, komplett überrascht.

Biologging macht Meinungsabfrage bei Tieren möglich

Die Auswirkungen dieses seit Langem andauernden und seit einigen Jahren sehr beschleunigten Artensterbens, des massiven Verlustes der Artenvielfalt, sind so gravierend für die Menschheit und unseren Planeten als Ganzes, dass es jetzt allerhöchste Zeit ist, den Tieren eine Stimme im „Parlament der Erde“ zu geben. Es wird Zeit, diese verschiedensten Tierarten, besonders die sensibelsten und schlauesten Individuen ihrer Art, wie bei einem Meinungsforschungsinstitut abzufragen: Wie geht es euch gerade? Was denkt ihr über den Zustand der Welt? Wo können wir etwas verbessern?

Dafür müssten Tiere eine Möglichkeit erhalten, ihre Gefühlswelt und ihre Gedanken so auszudrücken, dass wir Menschen es verstehen können. Da wir die Sprache der wenigsten Tiere im Detail verstehen beziehungsweise in den wenigsten Fällen ihre Lautäußerungen aufzeichnen können, wenn sie sich nicht gerade in unmittelbarer Nähe von Menschen aufhalten, bleibt uns im Moment lediglich die Möglichkeit, die Bewegungen und das Verhalten der Tiere zu interpretieren.

Und hier spielt die Biologging-Revolution des 21. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle, auf die wir mit unserem Projekt „Icarus“ aufsetzen. In den 1960er-Jahren kamen Genies wie der Amerikaner Bill Cochran auf die Idee, wilden Tieren kleine, scheinbar nicht störende Geräte mitzugeben, die diese Informationen an die Menschen übertragen: Was macht das Tier? Wie entscheidet es sich? Wie ist die Umwelt dort, wo das Tier sich aufhält? Was machen die anderen Tiere rundherum? Wo lebt das Tier gerne, oder wo stirbt dieses Tier? Und warum stirbt es? Die Anwendung und Entwicklung dieser Technologien dauerte, doch heute ist es erstmals in der Geschichte der Menschheit möglich, Informationen von weltweit verteilten Tieren zusammenzufassen und daraus Schlüsse zu ziehen. Bei „Icarus“ nutzten wir etwa auch die Raumstation ISS, welche die Signale der besenderten Tiere – seien es Schmetterlinge oder Giraffen – empfing und an unsere Datenbanken weiterleitete.

Schwarmintelligenz: Sind Tiere die intelligentesten Sensoren des Planeten?

Mittlerweile bereiten wir neue Satellitenempfänger vor, die ab Herbst 2023 im globalen Einsatz sein werden. Intuitiv haben die Menschen immer schon gewusst, dass Tiere andere Zugänge zur Wirklichkeit, eine Art „sechsten Sinn“ haben. Lange galt das als esoterischer Unsinn. Heute ist klar: Der sechste Sinn der Tiere ist eine physikalische Notwendigkeit und folgt einem physikalischen Gesetz, das Humboldt zum ersten Mal formuliert hat: Die Interaktion der einzelnen Teilchen (also der individuellen Tiere verschiedener Arten) erzeugt eine neue Systemeigenschaft, die bei Betrachtung eines einzelnen Teilchens nicht sichtbar ist.

Es ergibt sich also, wie in der Physik und der Chemie, auf der Ebene der Interaktion der Tiere eine neue Wahrnehmung für die Vorgänge in der Natur, die ein einzelnes Tier-Individuum nicht haben kann. Das System intelligenter Sensoren erzeugt neue Messeigenschaften, die einzelne Sensoren nicht haben. Ein einzelnes Handy in einem Auto kann keinen Verkehrsfluss erkennen. Sobald mehrere Handys in verschiedenen Autos zusammengeschaltet werden, kann man die Zeit voraussagen, die man brauchen wird, um nach Hause oder zur Arbeit zu kommen. Man nennt dies eine emergente, eine „herausspringende“ Systemeigenschaft der Vernetzung von Sensoren. Nichts anderes ist der sechste Sinn der Tiere: eine Vernetzung intelligenter Sensoren, und zwar der intelligentesten, die es je auf diesem Planeten gegeben hat: die Tiere.

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Foto von National Geographic

Dieser Artikel erschien in voller Länge im NATIONAL GEOGRAPHIC Magazin 12/22. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!

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