Nach dem Schnee: Wie sich die Natur alte Skigebiete zurückholt

Der Schneemangel der vergangenen Jahre zwingt Betreiber von Skipisten zum Umdenken – oder Schließen. Wie die Natur die einst weißen Pisten zurückerobert und trotzdem von Menschen genutzt werden kann, zeigt ein Projekt zur Renaturierung im Allgäu.

Von Marina Weishaupt
Veröffentlicht am 26. Apr. 2024, 08:55 MESZ
Ein Skilift auf einer grünen Wiese.

Von der einstigen Trasse ist heute nichts mehr zu sehen – die Anlage inklusive Masten wurde im Zuge der Renaturierung abgebaut.

Foto von Stadt Immenstadt

Ski- und Snowboardfahren von Oktober bis April oder gar Mai: Noch ist das mancherorts in Europa möglich. Doch Forschende sind sich einig: die schneereichen Tage auf den Pisten der Alpen sind gezählt. Laut einer Studie der Universität Bayreuth werden diese bis 2071 um durchschnittlich 42 Prozent zurückgehen.

Für die niedriger gelegenen Berge im Allgäu war diese Entwicklung bereits vor Jahrzehnten abschätzbar. Vor 30 Jahren fällte die Verwaltung des beschaulichen Immenstadt deshalb eine Entscheidung, die auch heute noch als Wegweiser gilt: Sie gab das Skigebiet Gschwender Horn nach mehrjähriger Nutzung wieder an die Natur zurück. Ein vernünftiger, zukunftsweisender Schritt – der bis heute seinesgleichen sucht.

Abschied vom Wintersport: Das Pilotprojekt Gschwender Horn

Immenstadt Ende der Neunziger Jahre: Nach anfänglichem, mehrjährigem Erfolg muss ein lokaler Betreiber seine Pisten und Lifte entlang der Bergrücken des Gschwender Horns aufgeben. Der Grund: Zahlungsunfähigkeit – auch aufgrund immer schneeärmerer Winter. Die Zukunftsaussichten eines erneuten Skibetriebes in anderen Händen stehen schlecht. Doch was passiert mit der verlassenen Anlage und den still liegenden Flächen, südlich des Großen Alpsees?

Die Stadt steht vor einer schwierigen Entscheidung – und findet Kontakt zur Umweltstiftung der Versicherung Allianz. Die gemeinsame Idee einer kompletten, wissenschaftlich begleiteten und evaluierten Renaturierung entwickelt sich, basierend auf der Rückgabe des Skigebietes an die Natur. Neben viel Zuspruch sorgt dieser Plan in der Bevölkerung und in der Tourismusbranche jedoch zunächst für Kritik: Immenstadt signalisiere mit diesem Schritt, man könne im Oberallgäu nicht mehr Skifahren und schrecke potentielle Tourist*innen ab. Doch die Verantwortlichen gehen in den Dialog, halten mit logischen und zukunftsorientierten Argumenten dagegen – und verabschieden sich schließlich vom alpinen Wintersport.

Renaturierung eines Skigebietes – ein langwieriger Prozess

Mit der Bewilligung der Fördermittel von rund 800.000 DM – wovon die Allianz neben der EU, dem Freistaat Bayern und der Stadt selbst den größten Teil übernahm – wurde das Pilotprojekt Gschwender Horn ab 1994 tatkräftig angegangen. Von Anfang an dabei: Gerhard Honold. Als lokaler Förster war er am langwierigen Rückbau und der Renaturierung beteiligt: „Die ersten ein, zwei Jahre haben wir uns darauf konzentriert, die Anlagen abzubauen, das ganze Material zu entsorgen oder rechtliche Dinge zu klären, die ein solcher Prozess mit sich bringt.“

Links: Oben:

Die einstige Lifttrasse wurde vollständig entfernt.

Rechts: Unten:

Auch die Betonsockel der Anlage wurden wieder komplett aus der Natur entnommen.

bilder von Stadt Immenstadt

Eine der ersten Konsequenzen war demnach der Rückbau der großen Liftanlagen. Dies geschah nicht nur oberflächlich – mit schwerem Gerät mussten auch tiefe Betonpfeiler vollständig aus der Natur entfernt werden. Honold war auch beim Rückbau der dazugehörigen Gebäude vor Ort: „Heute kann ich mich manchmal gar nicht mehr genau erinnern, wo diese tatsächlich standen – weil glücklicherweise nichts mehr davon zu sehen ist.“

Weiter sollte das ursprüngliche Aussehen der Kulturlandschaft möglichst wiederhergestellt werden. Dabei war es nie ein Anliegen, die kompletten Hänge wieder aufzuforsten. Denn die typischen freien Flächen im Allgäu eigneten sich laut Honold vor allem auch deshalb für den Skibetrieb, weil sie schon vor mindestens tausend Jahren gerodet und seit jeher traditionell genutzt wurden. Als Ziel hatte das Projekt viel eher, die in den 1960er Jahren eigens für das Skigebiet gerodeten Waldflächen wiederherzustellen. „Dort wurde Mischwald aufgeforstet. In den Bergen dauert es meist länger als im Flachland, aber inzwischen sind diese Bereiche schon recht gut zugewachsen“, sagt Gerhard Honold.

BELIEBT

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    Links: Oben:

    Schneisen durch den Wald: Am Gschwender Horn wurden diese wie auch in anderen Skigebieten eigens für den Transport von Wintersportler*innen angelegt.

    Rechts: Unten:

    Die Luftaufnahme aus dem Archiv der Stadt Immenstadt zeigt die Trassen deutlich. Beide sind auch heute, 30 Jahre später noch zu erkennen – aber durch Aufforstungsmaßnahmen deutlich geschrumpft.

    bilder von Stadt Immenstadt

    Wie Skigebiete die Natur nachhaltig schädigen

    Bei den offensichtlichen Schäden durch Entwaldung bleibt es jedoch meist nicht. „Beim Bau und Betrieb von Skigebieten können alle möglichen Beeinträchtigungen für die Natur entstehen – oftmals nimmt man diese halt in Kauf“, sagt Gerhard Honold. „Es ist nicht per se so, dass ein Skibetrieb alles kaputt macht, aber es entstehen zweifelsfrei Schäden. Maschinen verdichten den Boden, es werden Gebäude errichtet, hier und da tritt mal Öl aus und versickert tief in den Boden – es wird nunmal eine große Menge an Einheiten eingebracht, die die Natur stören.“

    Als Beispiel führt der Förster etwa Veränderungen auf der Grasnarbe auf: „Auf die sensible Vegetation, wie sie in den Bergen vorherrscht, kann sich das negativ auswirken und Pflanzengesellschaften verändern.“ Zudem setzen viel Betrieb und schweres Gerät der Vegetation zu. „Der Bodendruck einer Pistenraupe verteilt sich eigentlich auf eine große Fläche.” Gerade bei wenig Schnee könne diese dennoch Flurschäden verursachen. „Sehr sensible Pflanzenarten, die auf diese Böden spezialisiert sind – Orchideen beispielsweise – können nachhaltig geschädigt werden“, sagt Honold.

    “Ich will nicht gegen das Skifahren hetzen – aber man muss damit rechnen, dass dadurch nachhaltige Schäden entstehen.”

    von Gerhard Honold
    Förster der Stadt Immenstadt

    Zudem würden Skifahrer*innen heutzutage vermehrt einfache Pisten bevorzugen – Unebenheiten, wie kleine Erdhügel oder störende Pflanzen, werden zum Wohle des Skitourismus entfernt. Auch Zufahrtsstraßen müssten erst einmal gebaut werden.

    Der Auerhahn kehrt zurück: Die Natur erholt sich vom Skitourismus

    Dort, wo Pflanzen verschwinden, kommt folglich meist wertvoller Lebensraum abhanden. Am Beispiel des Gschwender Horns war es die Heimat der Raufußhühner. Gerade in Gebieten, die ohnehin das ganze Jahr über viel Tourismus erfahren, belastet ein solcher zusätzlicher Stress sensible Tierarten enorm. Um die Tierwelt zu entlasten, wurde auch die Umgebung rund um das ehemalige Skigebiet näher beleuchtet, in der es früher etwa durch Lärm zu Störungen kam.

    Auerhähne gelten als sehr störungsempfindlich. Am Gschwender Horn sieht man sie dank der Maßnahmen der letzten Jahrzehnte mittlerweile wieder deutlich häufiger. 

    Foto von Gerhard Honold

    „Auerhähne oder Birkhähne haben bestimmte Ansprüche an ihre Lebensräume. Beide sind sehr störungsempfindlich“, sagt Honold. Es könne trotzdem vorkommen, dass diese Tiere sich an einen größeren Skibetrieb gewöhnen. Zu Problemen kommt es laut dem Förster dann durch Individualsportler*innen, die abseits der Pisten in diese Lebensräume eindringen. „Da kann schon ein Mensch ausreichen, um die Tiere unter einem hohen Energieaufwand zur Flucht zu zwingen“, sagt Honold. „Im schlimmsten Fall führt das zum Tod.”

    Der Auerhahn sei schon immer da gewesen, allerdings ging der Bestand in den letzten 100 Jahren sehr stark zurück. „Ich habe mir damals schon geschworen, dass ich nicht der letzte sein will, der den letzten Auerhahn dort erlebt. Wir haben den Bestand von damals zumindest weitgehend erhalten – das ist schon ein Erfolg“, sagt Honold.

    Im Zuge des Projektes wurden deshalb ausgewiesene Ruhezonen eingerichtet, aus denen sich Menschen im besten Fall fernhalten sollen. Beliebte Wanderwege wurden dementsprechend umgeleitet, so sollen Wintersportler*innen, Wanderfreudige oder Pilzsammler*innen durch freiwillige Lenkungsmaßnahmen aus den Rückzugsbereichen der Tiere ferngehalten werden. Konzepte wie „Dein Freiraum, mein Lebensraum“ gingen daraus hervor und machen Besuchenden klar, dass sie die Bergwelt mit der heimischen Tierwelt teilen – nicht umgekehrt. Die meisten Menschen bemerken diese Maßnahmen aufgrund des weiterhin bestehenden Erlebnis am Berg laut Honold gar nicht erst und helfen unbewusst mit.

    Tourismus neu gedacht: Immenstadt setzt auf ganzjährige Nutzung

    Neben der Renaturierung kam es am Gschwender Horn auch zu einem Wechsel in der Nutzung des Berges. „Anstatt sich stur auf den Skisport zu konzentrieren, bei dem im Sommer ungenutzte Anlagen herumstehen, haben wir ganzjährige Möglichkeiten für den Tourismus geschaffen“, sagt Gerhard Honold. Im Sommer wie im Winter kann der Berg etwa zu Fuß in Wanderschuhen oder mit Schneeschuhen begangen werden. 

    Renaturiert und dennoch nutzbar: Wo der Berg einst durch Schlepplifttrassen erschlossen war, müssen Wintersportler*innen heute ihre eigene Körperkraft aufwenden, um zum Gipfel zu gelangen.

    Foto von Stadt Immenstadt

    Die Übernachtungszahlen und die deutlich diversifizierten Gäste in und rund um Immenstadt sprechen für den Erfolg des Konzepts: „Es gibt viele Alternativen, die naturverträglicher sind und den Leuten eine Auswahl erlauben – sowohl im Winter als auch im Sommer.“ Das Angebot wird zudem stets weiterentwickelt. 2024 soll Abseits der Ruhezonen im ehemaligen Skiabfahrtsbereich in Absprache mit dem Naturschutz ein Mountainbike-Trail entstehen.

    Unterdessen wird anderswo am alpinen Wintersport festgehalten. Die meisten Betriebe in Lagen zwischen 750 und 1.500 Meter, die unbedingt erhalten wurden, gibt es laut Honold heute nicht mehr. Zwar würden einige kleinere Lifte mit minimaler Beschneiung noch ganz gut funktionieren, jedoch befinden sich viele in finanziellen Schwierigkeiten oder können nur mühsam und mit Finanzspritzen von allen möglichen Seiten am Leben gehalten werden. „Das Wasser für künstliche Beschneiung muss ja irgendwo herkommen. Es muss jeder selbst wissen, ob man sich dies zu Zeiten des Klimawandels noch erlauben darf. Oder ob man sagt: Das tun wir uns und der Natur nicht mehr an“, sagt Honold.

    Dass das Gschwender Horn ein Paradebeispiel sein muss – und es in dieser Form, mit diesem Gesamtkonzept in keinem weiteren Fall nachgeahmt wurde, findet Honold äußerst schade. Die letzte Wintersaison hätte außerdem nicht besser zeigen können, wie richtig diese Entscheidung, speziell für Immenstadt, war. „Heuer hätte man vielleicht fünf Tage Skifahren können, nirgendwo im Allgäu war dies über viele Wochen möglich“, sagt Honold. Die Prophezeiungen vor der Jahrtausendwende bestätigen sich. Immenstadt hat sich unterdessen sehr viel Geld gespart – und ging als klarer Gewinner hervor.

     

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