Rückkehr der Wildnis: Wie sich Europa durch Renaturierung verändert
Die Organisation Rewilding Europe setzt sich dafür ein, die Naturkräfte Europas und resiliente Ökosysteme wiederherzustellen. Doch wie erfolgreich ist dieser Ansatz, und warum ist er für die Zukunft des Kontinents so entscheidend?
Diese zunehmend lebensfähige Population von Wisenten in den südlichen Karpaten ist einer der vielen Erfolge von Rewilding Europe.
Renaturierung, auch bekannt als Rewilding (engl.), ist ein aufstrebendes Naturschutzkonzept, das darauf abzielt, natürliche Prozesse und Ökosysteme wiederherzustellen.
Im Gegensatz zu traditionellen Naturschutzmethoden, die oft auf den Erhalt schon bestehender Habitate abzielen, fokussiert sich die Renaturierung auf die Wiederherstellung dynamischer, selbstregulierender Ökosysteme.
Dazu gehören die Wiederansiedlung von fehlenden Schlüsselarten, das Entfernen von menschlichen Barrieren wie Dämmen und alten Zäune, sowie die Unterstützung natürlicher Prozesse wie Beweidung, Überschwemmungen und natürliche Waldregeneration.
Das sind die Vorteile von Renaturierung
Renaturierung bietet erhebliche Vorteile für die Biodiversität, die Klimaresilienz und die Lebensqualität lokaler Gemeinschaften. In Europa gewinnt das Rewilding-Konzept zunehmend an Bedeutung, da es als mögliche Lösung für diverse ökologische und sozioökonomische Herausforderungen gilt.
Die Organisation „Rewilding Europe“ hat die Mission, solche renaturierten Ökosysteme zu schaffen. Laurien Holtjer, Director of Engagement and Public Relations, erklärt zusammenfassend: „Rewilding Europe leistet Pionierarbeit bei der Landschaftsumgestaltung auf dem gesamten Kontinent, indem wir großflächig natürliche Prozesse wie natürliche Beweidung, frei fließende Flüsse und Waldregeneration wiederherstellen.“
Dabei würde der Natur der Raum gegeben, den sie braucht, und natürliche Prozesse – wie Überschwemmungen und das Nachwachsen von Wäldern – würden zugelassen. Bei Bedarf nähme man helfende Eingriffe vor: „Unser Ansatz besteht darin, der Natur zu helfen, sich selbst zu heilen.“
„Die Natur kann sich selbst helfen.“
Mit ihrer Arbeit überzeugt die Organisation die Kraft der Renaturierung und will dazu inspirieren, diesen Ansatz großflächig zu übernehmen. „Unser Ziel ist es, dass die Renaturierung auf dem gesamten Kontinent in großem Maßstab praktiziert wird und messbare Vorteile für Natur und Mensch bringt“, so Holtjer. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit sei der Aufbau naturbasierter Wirtschaftsformen, die in ländlichen Gebieten nachhaltige Arbeitsplätze und Einkommen schaffen. Durch die Unterstützung lokaler Unternehmen mit praktischem Fachwissen und finanziellen Mitteln helfe Rewilding Europe den Gemeinden, neue Geschäftsmöglichkeiten zu erschließen, die durch die wiederhergestellte Natur entstehen. „Wir stellen uns ein Europa vor, in dem Renaturierung weit verbreitet ist – in dem die Natur verbessert, die Vitalität des ländlichen Raums unterstützt und eine nachhaltige, naturreiche Zukunft für alle gefördert wird“, fasst die Direktorin zusammen.
In Gebieten von Rewilding Europe werden menschliche Barrieren wie Zäune oder Dämme entfernt, um der Natur Platz zu geben.
Europas Schlüsselregionen als Ausgangspunkt der Renaturierung
Die Arbeit von Rewilding Europe erstreckt sich dabei über zehn europäische „Schlüsselregionen“ – mit einer geplanten Erweiterung auf fünfzehn. „Jede Landschaft wird in einem kollaborativen Bottom-up-Prozess ausgewählt, der von lokalen Partner*innen vorangetrieben wird“, erklärte Holtjer.
Diese Partner*innen schlagen Gebiete mit hohem Potenzial für die Renaturierung vor. Danach werden gemeinsam Machbarkeitsstudien durchgeführt, um die zu erwartenden Auswirkungen zu bewerten. Die Organisation arbeite sowohl auf europäischer als auch auf lokaler Ebene eng mit Partner*innen zusammen, darunter NGOs, Regierungen und Gemeinden, sowie mit den Bereichen Landverwaltung, naturnaher Tourismus, Bildung und Aufbau lokaler Unternehmensnetzwerke.
Abschließend würde gemeinsam mit den Partner*innen entschieden werden, welche Gebiete sinnvoll erscheinen: „Wir konzentrieren uns auf Landschaften, in denen natürliche Prozesse in großem Maßstab wiederhergestellt werden können“, so Holtjer.
Erfolge von Rewilding Europe: Rückkehr der Wisente in den Karpaten
Zurückblickend können bereits einige erfolgreiche Projekte vorgewiesen werden. Als Beispiele für ihre Erfolge nennt Holtjer die Unterstützung einer zunehmend lebensfähigen Population von Wisenten in den südlichen Karpaten. Die Tiere sind laut einer Studie absolute „Klimahelden“: Sie sparen CO₂ ein und helfen der Natur, indem sie Flächen abgrasen und platt treten und so das Pflanzenwachstum stimulieren und das im Boden eingespeicherte CO₂ sichern. Ihre Ausscheidungen dienen als eine Art Düngermittel.
Daneben zählen die Beseitigung von Flussbarrieren zur Wiederherstellung frei fließender Wasserwege in Schweden, die Wiedereinführung der Przewalskipferde im Iberischen Hochland und die Erhöhung der Marsicano-Bären-Population im Zentralapennin zu den weiteren Erfolgen der Organisation. „All diese Bemühungen schaffen widerstandsfähige Ökosysteme, die sich auf natürliche Weise weiterentwickeln“, sagt Holtjer stolz.
Der Ansatz: Die Natur kann sich selbst helfen, wenn man ihr den Grundstein dafür legt.
Umdenken in Politik und Gesellschaft notwendig
All diese Renaturierungsprojekte bringen viel Gutes mit sich. Doch steht das Projekt auch vor zahlreichen Herausforderungen. „Zu den größten Hindernissen in Europa gehört die Abstimmung der Renaturierung mit bestehenden Finanzsystemen, wie z. B. Agrarsubventionen, und die Beeinflussung von Richtlinien, die oft der traditionellen Landnutzung Vorrang vor der ökologischen Erholung einräumen“, so Holtjer. Sie betont, dass ein Wandel in der Denkweise und Politik notwendig sei, damit die Renaturierung langfristig erfolgreich sein könne. „Ein Kernaspekt der Renaturierung ist, dass Menschen eine neue Perspektive einnehmen, die Natur führen lassen, Wildtiere akzeptieren und mit ihnen nachhaltig zusammenleben“, fasst sie zusammen.
Langfristige Ziele: Ausweitung der Projekte über den gesamten Kontinent
Auf lange Sicht hat Rewilding Europe große Pläne: „Unsere Vision ist es, ein wilderes, widerstandsfähigeres Europa zu schaffen, in dem sich die Natur auf Millionen von Hektar erholt.“
In naher Zukunft werden fünf weitere Landschaften in das Portfolio aufgenommen, die die wirkungsvollen Renaturierungsmaßnahmen demonstrieren sollen. Eine weitere langfristige Zielsetzung der Organisation ist es, die Netzwerke der wilden Landschaften auf den gesamten Kontinent auszuweiten, um eine ökologische Vielfalt zu gewährleisten. Die Renaturierung würde zunehmend als fruchtbare Lösung anerkannt werden. „Diese wachsende Unterstützung schafft einen fruchtbaren Boden zur Ausweitung der Renaturierung und für den Aufbau eines wirklich wilderen Europas.“
Mit einer klaren Strategie und beeindruckenden Erfolgen zeigt Rewilding Europe, wie Renaturierung weitreichende positive Auswirkungen auf Ökologie und Gesellschaft haben kann. Laurien Holtjer und ihr Team setzen alles daran, ein wilderes und nachhaltigeres Europa zu schaffen.
Lesen Sie mehr spannende Reportagen im NATIONAL GEOGRAPHIC MAGAZIN 11/24. Verpassen Sie keine Ausgabe mehr: Sichern Sie sich die nächsten 2 Ausgaben zum Sonderpreis!