Kohle - Wie lange noch?

Kohle ist der schmutzigste fossile Brennstoff, ihr Verbrauch nimmt weltweit zu – mit erschreckenden Folgen für Umwelt und Klima.

Von Michelle Nijhuis
Foto von Robb Kendrick

Auf saubere Art Energie aus Kohle zu gewinnen ist unmöglich.

Im US-Bundesstaat Virginia zum Beispiel wurden viele Berggipfel in den Appalachen brutal enthauptet, um an die darunter liegende Kohle zu gelangen. Das Wasser der Bäche dort ist sauer und orange verfärbt. In Deutschland müssen von Nordrhein-Westfalen über Sachsen bis Brandenburg ganze Dörfer den Schaufelradbaggern des Braunkohletagebaus weichen. In der Innenstadt von Peking ist die Luft oft dicker als in der Raucherlounge eines Flughafens. Die Luftverschmutzung in China ist zum größten Teil auf das Verfeuern von Kohle zurückzuführen – und gilt als Ursache für mehr als eine Million frühzeitige Todesfälle im Land. Hinzu kommen Tausende Bergleute, die jedes Jahr in den Minen ihr Leben lassen.

Neu sind diese Probleme nicht. Schon Ende des 17. Jahrhunderts, als in Großbritannien die ersten Kohlefeuer der Industriellen Revolution brannten, klagte der englische Schriftsteller John Evelyn über «Gestank und Düsternis» des Rauchs über London. Drei Jahrhunderte später, im Dezember 1952, senkte sich eine dichte Smogschicht über die britische Hauptstadt und blieb ein langes Wochenende hängen. Die Folge war eine Epidemie von Atemwegserkrankungen, an denen in den folgenden Monaten bis zu 12.000 Menschen starben.

Für die Wirtschaft fällt das unter die Rubrik „externe Effekte“ der Kohlenutzung: Diese ist profitabel, verursacht aber hohe Kosten für die Allgemeinheit. Sie ist unser schmutzigster und oft todbringender Energielieferant. Auf der anderen Seite ist sie aber auch am billigsten. Viele Länder sind auf absehbare Zeit auf sie angewiesen. Weil die Risiken der Kernenergie noch größer sind und weil noch nicht der gesamte Energiebedarf aus erneuerbaren Quellen wie Sonne, Wind und Biomasse gedeckt werden kann. Bis es so weit ist, versucht man, die Nutzung der Kohle wenigstens weniger umweltschädigend zu handhaben. Um einerseits lokal begrenzte Schäden für Mensch und Umwelt zu minimieren, aber auch, um radikale Veränderungen des Weltklimas möglichst hinauszuschieben.

An einem schwülheissen Tag im Juni vorigen Jahres hielt Amerikas Präsident Barack Obama die Rede über das Klima, vor der sich die amerikanische Kohle­ und Stromindustrie seit seinem Amtsantritt gefürchtet hatte und der Umweltschützer hoffnungsvoll entgegenfieberten. In Hemdsärmeln kündigte Obama Folgendes an: Im Juni 2014 werde die Umweltschutzbehörde EPA neue Richtlinien vorlegen, «die dafür sorgen, dass unsere Kraftwerke künftig nicht mehr unbegrenzt Kohlenstoff freisetzen dürfen». Die Vorschriften sollen das Luftreinhaltungsgesetz „Clean Air Act“ erweitern. Manchen Beobachter erinnerte seine Rede an den Aufruf des deutschen Politikers Willy Brandt, der 1961 mit der Forderung «Der Himmel über der Ruhr muss wieder blau werden» gegen den damaligen Kanzler Konrad Adenauer zur Bundestagswahl angetreten war. Er verlor – aber die Kohlekraftwerke wurden sauberer.

Global gesehen hatte das kaum Folgen. Im Jahr 2012 wurde weltweit die Rekordmenge von 34,5 Milliarden Tonnen Kohlendioxid aus fossilen Brennstoffen freigesetzt. Der größte Anteil kam aus der Kohle. In den USA hat billiges Erdgas jüngst die Nachfrage nach Kohle sinken lassen, überall sonst steigt der Verbrauch.

Auch in Deutschland wieder. Zwar wird hierzulande mittlerweile ein Viertel des elektrischen Stroms aus erneuerbaren Quellen wie Sonne und Wind gewonnen, der Anteil von Braun­ und Steinkohle ist aber seit 2010 auf mehr als 45 Prozent angestiegen. Weltweit werden in den nächsten Jahren einige hundert Millionen Menschen mehr als heute mit Strom versorgt werden, und wenn die derzeitige Entwicklung anhält, wird man diesen Strom zum größten Teil mit Kohle erzeugen – trotz aller absehbaren Gefahren durch die globale Erwärmung.

Wie schnell das Polareis taut, wie hoch der Meeresspiegel steigt, wie heiß die Hitzewellen werden: All das hängt auch davon ab, wie die Welt mit der Kohle umgeht. Allen voran die größten Verbraucher, China und die USA.

BELIEBT

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    «Wir müssen mit Nachdruck auf alternative Energien und mehr Effizienz drängen», sagt Sally Benson von der Stanford­Universität. «Und wir müssen dafür sorgen, dass weniger CO2 aus der Kohlenutzung in die Atmosphäre gelangt.» Die Expertin für Energie und Rohstoffe forscht über die unterirdische Speicherung von Kohlendioxid. «Wenn wir die Probleme lösen wollen, die das Kohlendioxid uns bereitet», sagt sie, «darf es nicht mehr darum gehen, welche Methode besser ist. Wir brauchen alle, die es gibt.»

    Am Ohio in Virginia liegt das Kraftwerk Mountaineer Plant. Es wird vom Unternehmen American Electric Power (AEP) betrieben und verfeuert Stunde um Stunde mehr als 450.000 Kilogramm Kohle aus den Appalachen. Ein Teil kommt über ein Förderband aus einem Berg- werk gleich auf der anderen Straßenseite.

    Im Kraftwerk werden die golfballgroßen Kohlen zu feinem Pulver zermahlen und dann in den Brenner eines der größten Heißwasserboiler der Welt geblasen – der Stahltank könnte die Freiheitsstatue samt hochgereckter Fackel aufnehmen. Die drei Dampfturbinen liefern rund um die Uhr Strom für 1,3 Millionen Abnehmer in sieben Bundesstaaten. Der durchschnittliche Haushalt zahlt rund zehn US-Cent pro Kilowattstunde oder 113 Dollar (85 Euro) im Monat für den Betrieb von Kühlschränken, Waschmaschinen, Wäschetrocknern, Flachbildfernsehern, Smartphones und Beleuchtung. Charlie Powell, der Kraftwerksdirektor, pflegt zu sagen: «Auch Umweltschützer legen Wert darauf, dass das Licht bei ihnen nie ausgeht.»

    Aber weder die Kunden noch das Unternehmen zahlen auch nur einen Cent für das Recht, aus dem 305 Meter hohen Schornstein des Kraftwerks jeden Tag sechs bis sieben Millionen Tonnen Kohlendioxid in die Atmosphäre zu blasen. Und da liegt das Problem. Kohlenstoff wird unbegrenzt freigesetzt, weil die Luftverschmutzung in den meisten Ländern der Erde nichts kostet. In den Vereinigten Staaten gibt es bisher kein Gesetz dagegen. In Europa ist die Situation kaum besser. Zwar müssen Unternehmen hier offiziell Lizenzen für die Emission von CO2 kaufen, allerdings sind diese so kostengünstig, dass es die Firmen deutlich billiger kommt, für die Zertifikate zu bezahlen als in klimaschonende Technologie zu investieren.

    Weil es in den USA aber im Jahr 2009 schon einmal so ausgesehen hatte, als gäbe es bald eine Vorschrift gegen eine unbegrenzte CO2-Emission, hatte AEP damals bereits technische Gegenmaßnahmen eingeleitet – mit einem Pilotversuch zur unterirdischen Speicherung von Kohlendioxid.

    Vom Prinzip her ist der Betrieb eines Kohlekraftwerks ja eine einfache Sache, wie Direktor Powell sagt: «Wir verbrennen Kohle, machen Dampf und treiben damit Turbinen an.» Die Versuchsanlage zur Vermeidung von CO2- Emissionen macht es komplizierter. AEP schloss an sein Kraftwerk eine chemische Fabrik an. Dort wurden rund 1,5 Prozent des Rauchs gekühlt und durch eine Ammoniumcarbonatlösung geleitet, die das CO2 absorbiert. Anschließend wurde das CO2 verdichtet und in eine poröse Sandsteinformation gepresst, 1.500 Meter unter den Ufern des Ohio. Fachleute reden von CCS: Carbon dioxide capture and storage – Auffangen und Speichern von Kohlendioxid.

    Es funktionierte. Binnen zwei Jahren wurden bei AEP mehr als 37.000 Tonnen reines Kohlendioxid aus den Kraftwerksabgasen abgeschieden und gespeichert. Das belastet heute nicht die Atmosphäre, sondern lagert unter der Erde – zum größten Teil: Jedes Jahr entweichen 0,25 Prozent des Gases durch Lecks.

    AEP sah den Versuch als Erfolg und kündigte an, künftig sogar ein Viertel aller Emissionen aus dem Kraftwerk abzuscheiden – rund 1,5 Millionen Tonnen CO2 im Jahr. 334 Millionen Dollar sollten dafür investiert werden, das US- Energieministerium hatte noch einmal den gleichen Betrag zugesagt. Die Abmachung stand allerdings unter dem Vorbehalt, dass sich die Investition für AEP rechnen müsse. Doch dann lehnte der amerikanische Senat das notwendige Klimaschutzgesetz ab. Staatliche Aufsichtsbehörden beschieden dem Kraftwerksbetreiber zudem, er dürfe seine Kunden nicht für die Mehrkosten einer Technologie zur Kasse bitten, die gesetzlich nicht vorgeschrieben sei. Darauf- hin stellte AEP das Projekt 2011 ein.

    Die Anlage war zwar klein, aber weltweit die erste, mit der CO2 aus den Abgasen eines Kohlekraftwerks abgeschieden und weggespeichert wurde. Sogar aus Indien und China waren Interessenten gekommen, um sich das Verfahren erklären zu lassen. «Wir haben bewiesen, dass es funktioniert», sagt Powell. «Aber wirtschaftlich lohnt es sich noch nicht.» Dazu braucht man Gesetze, wie die Obama-Regierung sie für dieses Jahr versprochen hat. Auch technisch sind noch Verbesserungen notwendig.

    CO2 aufzufangen und zu speichern sei nur Phantasie, sagen Kritiker.

    Rund 6,5 Milliarden Dollar hat das US-Energieministerium in den vergangenen 30 Jahren für die Erforschung und Erprobung des Verfahrens ausgegeben. Die Ölindustrie presst seit mehr als 40 Jahren komprimiertes CO2 in erschöpfte Ölfelder, um die letzten Tropfen aus dem Gestein an die Oberfläche zu befördern. Auf diese Weise gelangen zum Beispiel große Mengen von CO2 aus den USA in den Untergrund kanadischer Ölfelder.

    Mehr als 20 Millionen Tonnen Kohlendioxid sind seit dem Jahr 2000 allein aus einer Fabrik in North Dakota, die Kohle in Erdgas umwandelt, über Rohrleitungen 320 Kilometer weit nach Norden in die kanadische Provinz Saskatchewan geleitet worden. Dort presst das kanadische Ölunternehmen Cenovus Energy das CO2 tief in ein weitläufiges Ölfördergebiet, das seine Blütezeit vor mehr als 50 Jahren hatte. Jede Tonne CO2 löst zwei bis drei Barrel Öl aus dem Trägergestein. Anschließend wird das Gas in die Lagerstätte zurückgepumpt.

    Dort, rund 1500 Meter unter der Erde, sammelt es sich unter undurchlässigen Schiefer- und Salzschichten.

    Doch wie lange bleibt es dort? Das ist die Frage, die man sich auch in großen Kohleförderländern wie Deutschland stellt, wo über die CCS-Technik ebenfalls kontrovers diskutiert wird. Kritiker nennen drei Hauptargumente: das Risiko, dass schlagartig eine große Menge CO2 frei wird; die schleichende Ausgasung; und die Gefahr von Erdbeben.

    Sollte auf engem Raum plötzlich viel CO2 an die Oberfläche austreten, kann das für Menschen und Tiere tödlich sein. Bisher sind aber weder in Kanada noch anderswo auf der Welt solche Ausbrüche vorgekommen. Wissenschaftler halten die Gefahr eines katastrophalen Austritts für äußerst gering.

    Die Emissionen von 1000 Jahren sollen dauerhaft unterirdisch gespeichert werden.

    Mehr Sorgen machen sie sich um kleinere Lecks, aus denen ständig CO2 entweicht. Ein Prozent Ausgasung pro Jahr klingt nicht beunruhigend. Es würde aber bedeuten, dass spätestens nach 100 Jahren alles abgeschiedene CO2 schließlich doch wieder in die Atmosphäre gelangt und die globale Erwärmung forciert. Außerdem könnte das Einbringen von Kohlendioxid in porösem, brüchigem Gestein kleine Erdbeben auslösen. Die Beben selbst müssten nicht einmal Schäden anrichten, sie könnten aber die abschirmenden Deckschichten im Gestein aufbrechen, so dass doch wieder CO2 in großen Mengen austreten könnte.

    Mark Zoback und Steven Gorelick, zwei Geophysiker von der Stanford­Universität, halten die Kohlendioxidspeicherung deswegen für «ein äußerst teures und gefährliches Verfahren». Sie plädieren dafür, das CO2 nicht an Land, sondern unter dem Meeresgrund zu speichern, beispielsweise im Sleipner­Gasfeld in der Nordsee: Dort pumpt der norwegische Ölkonzern Statoil seit mittlerweile 17 Jahren rund eine Million Tonnen CO2 jährlich in eine salzhaltige Sandsteinschicht fast 1000 Meter unter dem Meeresboden. Anzeichen für Erdbeben oder undichte Stellen gibt es nicht.

    Europäische Wissenschaftler nehmen an, dass man unter der Nordsee die Emissionen sämtlicher Kraftwerke Europas aus 100 Jahren speichern könnte. Die Salzwasser führenden Tiefenschichten unter den Vereinigten Staaten sollen nach Angaben des US­Energieministeriums sogar 1000 Jahre lang die Emissionen aller Kraftwerke in den USA aufnehmen können. Auf eine Frage gibt es allerdings noch keine Antwort: Wer übernimmt die Kosten?

    Das CO2, das Statoil ins Sleipner­Feld pumpt, stammt nicht aus Verbrennungsprozessen, sondern ist als Verunreinigung im Erdgas enthalten, das der Konzern am Meeresboden fördert. Ehe Statoil seinen Kunden das Gas liefern kann, muss das CO2 abgetrennt werden. Früher wurde es einfach in die Luft geblasen. Aber Norwegen führte schon 1991 eine Emissionssteuer ein – heute liegt sie bei etwa 50 Euro je Tonne. Das CO2 unter dem Meeresboden zu lagern kostet Statoil dagegen nur rund 13 Euro. Im Sleipner­Feld ist die Speicherung von Kohlendioxid also viel billiger als die Emission. Und das Geschäft mit Erdgas ist hochprofitabel.

    Bei Kohlekraftwerken sieht die Sache anders aus. Das CO2 ist nur einer der Bestandteile einer komplexen Mischung aus Rauchgasen, und für die Kraftwerksbetreiber besteht kein finanzieller Anreiz, es aufzufangen. Wie die Ingenieure bei der Pilotanlage am Mountaineer­Kraftwerk lernen mussten, ist die Abscheidung der teuerste Teil bei jedem Speicherungsprojekt. Wollte man den gesamten Kohlenstoff eines Kohlekraftwerks auffangen, müsste man dazu bis zu 30 Prozent der produzierten Energie aufwenden.

    Billiger würde es, wenn man die Kohle vor dem Verfeuern in Gas umwandelte. Die Stromerzeugung wäre effizienter, und die Abtrennung des Kohlendioxids würde einfacher. Im US-Bundesstaat Mississippi wird derzeit ein Kohlekraftwerk gebaut, das von vornherein für die Abscheidung des CO2 geplant wurde und mit aus Kohle gewonnenem Gas arbeiten soll.

    Ob in den USA die Kohle aber noch eine Zukunft hat, ist derzeit offen. Jahrhundertealte Kohlebergwerke werden geschlossen, weil amerikanische Kraftwerke zunehmend auf Erdgas umgestellt werden. Die Gaspreise in den Vereinigten Staaten sind niedrig wie kaum je zuvor, Investitionen in die Weiterentwicklung der Kohletechnologie wirken dort fehlgeleitet. Ganz anders sieht es im chinesischen Yulin aus.

    Yulin liegt in der inneren Mongolei, 800 Kilometer von Peking entfernt. Rostbraune Sanddünen umrahmen Ansammlungen neuer, noch unbewohnter Wohnblocks, der Wind fegt feinen Staub durch die Straßen. Yulin hat drei Millionen Einwohner; was fehlt, sind Regen und Schatten. Im Sommer ist es heiß, im Winter eiskalt. Doch die Region ist reich an Bodenschätzen, einige der größten Kohlelagerstätten Chinas liegen hier. Für die Bewohner von Yulin ist die Kohle der Treibstoff des Fortschritts.

    Hohe Schornsteine ragen aus der Sandebene rund um die Stadt, gigantische Fabriken mit angeschlossenen Schlafsälen für die werkseigenen Arbeiter reichen kilometerweit in die Wüste hinein. In den neuen Kohlekraftwerken arbeiten vor allem junge Männer und Frauen. Kohle liefert in China rund 80 Prozent der elektrischen Energie, aber sie wird darüber hinaus vielfältig genutzt, ist Grundstoff für Industriechemikalien, Flüssigbrennstoffe und Plastikprodukte.

    Brennstoff von gestern? In China sieht man die Kohle ganz anders.

    Daher ist China auch das Land mit den meisten Kohlendioxidemissionen weltweit – jedenfalls, was den Gesamtausstoß angeht. Rechnet man die Emissionen allerdings pro Einwohner, rangieren Länder wie die USA, Australien und Deutschland immer noch mit Abstand vor China. Während Deutschland aber Strom im Überfluss produziert und Kohlekraftwerke vom Netz nehmen könnte, steht das in China nicht zur Debatte, der Kohleverbrauch steigt. Die ökologischen Kosten will man aber nicht länger ignorieren. Deborah Seligsohn, eine Expertin für Umweltpolitik an der Universität San Diego in Kalifornien, beobachtet die Entwicklung in China seit fast zwanzig Jahren. Sie meint: «Noch vor zehn Jahren war die Umwelt kein Thema. Heute ist es ganz vorn mit dabei.»

    Öffentliche Klagen über die schlechte Luftqualität, ein wachsendes Bewusstsein für die Gefahren des Klimawandels und die Forderung nach Versorgungssicherheit haben dazu geführt, dass China viele Milliarden Dollar in erneuerbare Energien investiert. Das Land ist der weltweit führende Hersteller von Windrädern und Solarzellen. Zwischen den Schornsteinen rund um Yulin glitzern riesige Solarparks in der Sonne. Aber mit dem gleichen Aufwand werden Projekte vorangetrieben, Strom effizienter aus Kohle zu erzeugen und Kohlendioxid einfacher und billiger aus den Abgasen abzuscheiden.

    Das lockt sowohl Investitionen als auch Experten aus dem Ausland. Bei der staatlichen Shenhua Group, dem größten Kohlekonzern der Welt, leitete bis vor kurzem ein Amerikaner das Institut für saubere, kohlendioxidarme Energie: J. Michael Davis, ein Mann, der unter US- Präsident George H. W. Bush stellvertretender Minister für Naturschutz und erneuerbare Energien war und früher dem Verband der Solarindustrie in den USA vorstand. Nach China ging Davis, wie er sagt, wegen des «glaubwürdigen Engagements» der dortigen Regierung zur Verbesserung der Luftqualität und der Verringerung der CO2-Emissionen: «Wer in diesem Bereich viel erreichen will, muss dorthin gehen, wo die meisten Emissionen verursacht werden.»

    Ein anderer Auslandsamerikaner in Peking ist Will Latta, der Gründer des Unternehmens LP Amina, eines multinationalen Konzerns zur Entwicklung von Umwelttechnologien. Latta arbeitet eng mit chinesischen Kraftwerksbetreibern zusammen. «In China sagen sie ganz offen: Kohle ist nun einmal billig, wir haben sie reichlich, und bis es konkurrenzfähige Alternativen gibt, werden noch Jahrzehnte vergehen», erzählt er. «Gleichzeitig ist ihnen klar, dass ihr Verhalten nicht nachhaltig ist. Also investieren sie viel in saubere Technologie.» In Tianjin, 140 Kilometer von Peking entfernt, soll 2016 das erste chinesische Kohlekraftwerk eröffnet werden, das von Anfang an mit Blick auf die Abscheidung von CO2 geplant wurde. 80 Prozent der Emissionen sollen auffangen werden.

    Im Herbst 2013, als Kohleverbrauch und Emissionen global auf einen neuen Rekord zusteuerten, gab der Weltklimarat IPCC seinen neusten Bericht heraus. Er enthält erstmals eine Schätzung, wieviel CO2 auf der Erde maximal freigesetzt werden darf, ohne dass die Temperaturen weltweit um mehr als zwei Grad ansteigen. Oberhalb dieser Schwelle rechnen viele Wissenschaftler mit katastrophalen Schäden durch Extremwetter und den Anstieg des Meeresspiegels. Nach Ansicht des Weltklimarates haben wir bereits mehr als die Hälfte unseres Emissionsbudgets von einer Billion Tonnen freigesetzt. Den Rest würden wir in weniger als 30 Jahren in die Atmosphäre einbringen, wenn wir weitermachten wie bisher.

    Die Technik der Kohlendioxidabscheidung allein kann diese Gefahr nicht bannen. Um auch nur ein Zehntel der aktuellen globalen Emissionen aufzufangen und zu speichern, müsste man vom Volumen her ebenso viel CO2 unter die Erde pumpen, wie man derzeit weltweit Erdöl fördert. Dazu müsste man noch sehr viele Pipelines und Pumpstationen bauen.

    Das erste Kraftwerk der USA, das CO2 zum Teil abscheidet und auffängt, ist im Bau.

    Das gleiche Ergebnis – zehn Prozent Emissionsminderung – wäre zu erreichen, wenn man Kohlekraftwerke auf einer Fläche von der Größe Sachsen­Anhalts durch Solarzellen ersetzte. Utopisch, solange ein Projekt wie Desertec nicht realisiert wird. Die Idee dabei ist, Solarkraftwerke in der leeren, aber sonnenreichen Sahara zu errichten und den Strom von dort in die Industrieländer zu leiten. Wie es aussieht, wird man die Summe aller technischen Maßnahmen brauchen, um die CO2­Emissionen global wirksam zu begrenzen, um sie in den nächsten 30 bis 40 Jahren um rund 80 Prozent zu reduzieren.

    In den USA soll das erste Kraftwerk, das von vornherein für die Abscheidung von CO2 konzipiert wurde, Ende dieses Jahres den Betrieb aufnehmen. Es wird, so der Plan, mehr als die Hälfte seiner Kohlendioxid­Emissionen auffangen und in nahe gelegene Ölfelder leiten. Das Projekt wurde gegen Kritik von zwei Seiten durchgesetzt: Umweltschützer warnten vor möglichen Risiken, eine andere Gruppe bemängelte unnötige Staatsausgaben, weil das Energieministerium einen Teil der Baukosten Bau übernahm. Die Unternehmensführung hält dagegen: Man werde die Kosten für die Entwicklung der neuen Technologie wieder hereinholen. Zum einen, indem man Lignit verfeuere – eine billige, minderwertige Kohlesorte, die in der Region in großen Mengen vorkommt. Zum anderen, indem man das abgeschiedene CO2 als Rohstoff an andere Industriezweige verkaufe.

    Eine Chance, sich weltweit durchzusetzen, hat die CCS­Technik aber wohl erst, wenn Regie­ rungen die Voraussetzungen dafür schaffen. Dadurch, dass Unternehmen spürbare Preise für Emissionszertifikate zahlen müssen. Oder da­ durch, dass per Gesetz eine Höchstmenge für Emissionen festgesetzt wird.

    Dass dies funktionieren kann, belegt ein anderes Beispiel der Luftreinhaltung. In den neunziger Jahren hatte die Umweltschutzbehörde der USA ebenfalls auf der Grundlage des Clean Air Act die Gesamtmenge des Schwefeldioxidausstoßes von Kraftwerken gedeckelt. Schon damals erhielten die Verursacher Emissionszertifikate, mit denen sie Verschmutzungsrechte kaufen und verkaufen konnten. Die Energiebranche hatte zwar gewohnt reflexartig vor katastrophalen wirtschaftlichen Folgen gewarnt. Tatsächlich aber führte die Maßnahme sehr schnell zu innovativen, kostengünstigen technischen Reinigungsverfahren, die Luft wurde sauberer. Experten sehen heute das technische Niveau der Abscheidung von CO2 auf ungefähr der gleichen Stufe wie die Schwefeldioxidfilterung vor 30 Jahren. Mit dem notwendigen politischen und finanziellen Druck sollte sich beim Kohlendioxid wiederholen lassen, was mit Schwefeldioxid auch möglich war.

    Die Verbrennung von Kohle wird dann immer noch keine saubere Sache sein – aber weniger schmutzig als heute. Und der Klimawandel würde weniger rasch voranschreiten, als wenn wir Kohle weiter auf die dreckige Art verfeuern.

    (NG, Heft 4 / 2014, Seite(n) 112 bis 139)

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