Reise in unser Gehirn

Wie funktioniert unser Kopf? Wie entsteht das Denken? Warum können wir fühlen? Welche Erkenntnisse und Fragen Neurologen weltweit beschäftigen, zeigt diese aufregende Reise in unser Gehirn.

Von Carl Zimmer
Foto von Robert Clark

Van Wedeen streicht sich über den graumelierten Bart, beugt sich über den Computerbildschirm und scrollt durch eine Dateiliste. «Ich brauche noch einen Moment, bis ich Ihr Gehirn gefunden habe», sagt er.

Auf seiner Festplatte hat Wedeen Hunderte von Gehirnen gespeichert – höchst detaillierte 3­D­Bilder von Affen­, Ratten­ und Menschenhirnen. Auch meines. Wedeen hat mir angeboten, mich mitzunehmen auf eine Reise durch meinen eigenen Kopf. Wir würden «alle Touristenattraktionen» besuchen.

Ich bin jetzt zum zweiten Mal im Martinos Center for Biomedical Imaging, einem Forschungszentrum, das am Hafen von Boston in einer ehemaligen Fabrik für Schiffstaue untergebracht ist. Vor einigen Wochen habe ich mich Wedeen als neurowissenschaftliches Versuchskaninchen zur Verfügung gestellt. Ich legte mich in einem Scannerraum auf eine Tischplatte, bettete meinen Kopf in eine Plastikschale. Ein Radiologe stülpte mir einen weißen Kunststoffhelm über das Gesicht. Durch zwei Augenöffnungen konnte ich zusehen, wie er den Helm festschraubte, so dass die 96 eingebauten Miniantennen meinem Gehirn nahe genug kamen, um die elektromagnetischen Wellen aufzufangen, die es beim Denken aussendet. Als die Platte in das Zylindermaul des Scanners glitt, fühlte ich mich einen Moment lang wie der Held des Romans „Der Mann in der eisernen Maske“.

Dann begannen die Magnete um mich herum zu rumpeln. Eine Stunde lang lag ich unbeweglich mit geschlossenen Augen, bemüht, ruhig zu bleiben. Einfach war das nicht. Für eine bestmögliche Auflösung des Scanners haben Wedeen und seine Kollegen das Gerät so konstruiert, dass es einen Menschen sargähnlich umschließt. Um aufkommende Panik zu dämpfen, atmete ich ruhig und versetzte mich an Orte aus meiner Erinnerung, zum Beispiel auf den Schulweg meiner Tochter, und mir fiel ein, wie ich nach einem Blizzard zwischen den Schneehaufen dort mit ihr gegangen war.

Während ich so dalag, musste ich daran denken, dass alle Gedanken und Gefühle die Produkte des 1,4 Kilo schweren Gewebeklumpens sind, der hier gerade untersucht wurde: meine Angst, deren Impulse in einem mandelförmigen Gewebestück namens Mandelkern oder Amygdala zusammenlaufen; die Selbstberuhigung, die in den Regionen meines frontalen Stirnhirns in Gang gesetzt wird; meine Erinnerungen an den Schulweg mit meiner Tochter, gespeichert im Hippocampus, einer seepferdchenförmigen Falte aus Neuronen, Nervenzellen, die aktiv waren, als ich über die Schneewehen stieg und die Erinnerungen sich gebildet haben.

Dieser Selbstversuch ist Teil meines Unternehmens, eine der großen wissenschaftlichen Revolutionen unserer Zeit nachzuzeichnen: die erstaunlichen Fortschritte bei der Erforschung des Gehirns und seiner Funktionen.

KARTEN DES GEHIRNS SOLLEN WEGE WEISEN ZUR BEHANDLUNG VON DEMENZ UND DEPRESSIONEN.

Manche Neurowissenschaftler konzentrieren sich auf die Feinstruktur einzelner Nervenzellen. Andere verfolgen die biochemischen Abläufe im Gehirn und beobachten, wie dort Milliarden Neuronen viele tausend verschiedene Proteine erzeugen und für verschiedene Aufgaben einsetzen. Wieder andere, wie Wedeen, erstellen detaillierte Karten des Gehirns. Da ist zum Beispiel die weiße Substanz, ein Netz aus rund 160 000 Kilometern Nervenfasern. Sie verknüpfen die verschiedenen Bestandteile des Gehirns. Das Ergebnis ihres Zusammenspiels ist der Geist, alles, was wir denken, fühlen und wahrnehmen. Um diese Vorgänge besser zu verstehen, hatten zunächst die USA, dann auch Deutschland die Jahre von 2000 bis 2010 zur „Dekade der Hirnforschung“ erklärt. In ihrer Nachfolge fördert nun die Europäische Gemeinschaft seit 2013 mit vielen Millionen Euro das „Human Brain Project“.

Es dient nicht nur dazu, die Funktion und Leistungsfähigkeit des Gehirns zu untersuchen, sondern auch seine Krankheiten und Schwächen. Nach und nach werden Unterschiede im Gehirnaufbau gesunder Menschen und solcher mit Krankheiten wie Schizophrenie, Autismus und Alzheimer erkennbar. Wenn man das Gehirn immer genauer kartiert, wird man die Krankheiten künftig vielleicht früher erkennen und möglicherweise sogar erklären können, wie sie entstehen. Um sie dann mit größeren Erfolgsaussichten behandeln zu können.

Wedeen hat mittlerweile mein Hirn gefunden – genauer, das Bild, das der Scanner vor zwei Wochen vom Innern meines Kopfes gemacht hat. Er holt es auf den Monitor. Die von seinem Apparat kartierten Nervenfasern bilden Hunderttausende von Leitungsbahnen, die Informationen von einem Teil meines Gehirns zum anderen tragen. Wedeen hat jede dieser Bahnen mit einer anderen Regenbogenfarbe gefärbt, so dass mein Gehirn aussieht wie eine psychedelische Perserkatze mit buntem Fell.

Wedeen zeigt mir einige Areale, die für die Sprache und andere Formen des Denkens wichtig sind. Dann blendet er den größten Teil der Leitungsbahnen aus, so dass ich leichter erkennen kann, wie sie organisiert sind. Er verstärkt die Vergrößerung, und jetzt nimmt vor meinen Augen etwas Erstaunliches Gestalt an: Trotz ihrer atemraubenden Komplexität schneiden sich alle Leitungsbahnen im rechten Winkel, wie die Linien auf Millimeterpapier.

«Das sind alles Gitternetze», sagt Wedeen.

Als er vor zwei Jahren die Gitterstruktur des Gehirns entdeckte, waren manche Wissenschaftler skeptisch: Waren diese Gitter nicht nur Teil einer viel komplizierteren Anatomie? Doch Wedeen ist mehr denn je davon überzeugt, dass dieses Muster fundamental ist. Wo er auch sucht – im Gehirn von Menschen, Affen oder Ratten –, überall findet er das Gitter. Schon das Nervensystem der ältesten Würmer vor 500 Millionen Jahren war ein einfaches Gitternetz: Zwei Nervenstränge verliefen vom Kopf bis zum Schwanz, verbunden durch eine Art Leitersprossen aus Nervenfasern.

In den höher organisierten Tieren vermehrten sich die Nerven am Kopfende milliardenfach, aber ihre Gitterstruktur blieb erhalten. «Dass dahinter keine Gesetzmäßigkeiten stehen, ist ausgeschlossen», sagt Wedeen, während er das Bild meines Gehirns mustert.

Derzeit sammeln die Wissenschaftler so rasch so viele neue Erkenntnisse über das Gehirn, dass man leicht vergisst: Noch bis vor kurzem wussten wir weder, wie es funktioniert, noch, was es überhaupt ist. Die Ärzte der Antike glaubten, es bestehe aus Schleim. Der Naturforscher Aristoteles hielt es vor 2300 Jahren für einen Kühler, der das hitzige Herz abkühlt. Die Ärzte der Renaissance erklärten bis Mitte des 17. Jahrhunderts überzeugt, all unsere Wahrnehmungen, Gefühle, Überlegungen und Handlungen seien die Produkte „animalischer Geister“ – unerklärlicher Dämpfe, die durch Hohlräume in unserem Kopf wabern.

Das änderte sich mit dem Beginn der naturwissenschaftlichen Revolution. 1664 beschrieb der britische Arzt Thomas Willis die Anatomie des Gehirns. Er hatte erkannt, dass das puddingartige Gewebe der Ort ist, der unsere geistige Welt entstehen lässt. Um herauszufinden, wie es funktioniert, sezierte er das Gehirn von Schafen, Hunden und verstorbenen Menschen.

Ein weiteres Jahrhundert verging, ehe die Wissenschaftler begriffen, dass das Gehirn ein elektrisches Organ ist. Durch das Nervensystem wandern keine animalischen Geister, sondern Spannungsspitzen. Im 19. Jahrhundert hielt der italienische Arzt Camillo Golgi das Gehirn noch für ein nahtlos verknüpftes Netz. Erst der spanische Pathologe Santiago Ramón y Cajal erkannte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass jedes Neuron eine eigene, von allen anderen abgegrenzte Zelle ist. Er hatte eine Methode erfunden, einzelne Neuronen zu färben und ihre verzweigten Äste sichtbar zu machen. Das Ende jeder Nervenfaser, des Axons, ist von den Dendriten der nächsten Nervenzelle durch schmale Spalten, die Synapsen, getrennt. Später entdeckte man, dass die Axone einen Cocktail aus chemischen Substanzen in die Synapsen ausschütten und damit im Nachbarneuron ein Signal auslösen.

Einer der Nachfolger Cajals ist der Neurowissenschaftler Jeff Lichtman an der Harvard- Universität. Statt von Hand gefärbte Neuronen mit Feder und Tinte zu zeichnen, erzeugt er höchst detaillierte, dreidimensionale Bilder von Nervenzellen und ihren Fortsätzen. Von der Darstellung der Feinstruktur erhoffen sich die Forscher endlich Antworten auf einige ganz grundsätzliche Fragen nach dem Wesen des Gehirns. Jedes Neuron hat durchschnittlich 10.000 Synapsen. Gibt es in ihren Kontakten zu anderen Neuronen eine Ordnung, oder geschieht das zufällig? Verknüpfen sich die Zellen mit bestimmten Neuronentypen eher als mit anderen?

Um seine Bilder zu erstellen, steckt Lichtman kleine Stücke eines präparierten Mäusegehirns in die neuroanatomische Version einer Aufschnittmaschine. Sie schneidet dünne Scheiben ab, tausend davon ergeben zusammen die Dicke eines menschlichen Haars. Mit dem Elektronenmikroskop macht er von jedem Dünnschnitt ein Foto, dann ordnet der Computer die Aufnahmen zu einem Stapel. Das in Scheiben geschnittene Gehirn wird so als dreidimensionales Modell wieder zusammengesetzt – ein Labyrinth aus Fasern und Zellen, das die Wissenschaftler nun erkunden. Auf dem Monitor sieht es aus, als würden sie mit einem U-Boot durch einen Wald aus Seetang fahren.

Es gibt nur ein Problem: die schiere Menge der Daten. Das größte Hirnvolumen, das Lichtman und seine Kollegen bisher nachbauen konnten, ist ungefähr so groß wie ein Salzkorn. Aber schon die Daten dieses winzigen Modells umfassen 100 Terabyte, so viel wie 25.000 Spielfilme, gespeichert in HD-Qualität.

Jetzt folgt der schwierige Teil: die Suche nach Ordnung in diesem scheinbar chaotischen Datenwust. Narayanan Kasthuri, ein Mitarbeiter Lichtmans, machte sich kürzlich daran, sämtliche Details in einem Stückchen Maushirn zu analysieren, das ein Hunderttausendstel von der Größe eines Salzkorns hat. Sein Ziel: Jede einzelne Nervenfaser zu identifizieren, deren Fortsätze durch diese Region verlaufen.

DIE URSACHEN VIELER KRANKHEITEN LIEGEN VERMUTLICH IN DEN GENEN DES GEHIRNS.

Kasthuri fand 1000 Axone und etwa 80 Dendriten, von denen in seiner Probe jede über ungefähr 600 Schaltstellen mit anderen Neuronen verbunden war. «Das Gehirn ist noch viel komplexer, als wir bisher angenommen haben», sagt Lichtman. Zusammen mit Kasthuri entdeckte er aber auch, dass die Kontakte nicht zufällig geknüpft werden: Jedes Neuron ist auf vielfältige Weise fast ausschließlich mit jeweils nur einem anderen Neuron verbunden. Kontakte zu den anderen Zellen, die dicht gepackt darum herum liegen, kommen kaum vor.

Ob das aber nun die Regel ist oder nur für dieses spezielle mikrometerwinzige Stück Mäusehirn gilt, kann Lichtman noch nicht sagen. Auch wenn er und seine Kollegen das Verfahren demnächst mit größerem Aufwand vorantreiben wollen, werden sie noch zwei Jahre brauchen, um die Scanaufnahme aller 70 Millionen Neuronen im Gehirn einer Maus fertigzustellen. «Und wann», frage ich, «werden wir so eine Aufnahme des ganzen menschlichen Gehirns sehen, mit all seinen 100 Milliarden Neuronen und 100 Billionen Synapsen?»

«Darüber denke ich nicht nach», sagt Lichtman lachend. «Das wäre zu schmerzlich.»

Wenn das dreidimensionale Mäusegehirn vorliegt, wird man daraus vieles lernen können. Dennoch bleibt es nur eine sehr detaillierte Nachbildung. Die Neuronen auf den Bildern sind hohle Modelle. Echte Nervenzellen sind voll mit DNA, Proteinen und anderen Molekülen. Jeder Neuronentyp nutzt andere Gene zum Aufbau des molekularen Apparats, den er für seine Tätigkeit braucht. Lichtempfindliche Neuronen im Auge produzieren beispielsweise Proteine, die Photonen einfangen; Neuronen in der sogenannten Substantia nigra erzeugen Dopamin, ein Protein, das uns ein Gefühl der Belohnung vermittelt.

Nur mit Kenntnis der Wirkung dieser Proteine wird man verstehen können, wie das Gehirn funktioniert – und warum zuweilen eben nicht. Bei der Parkinson-Krankheit produzieren die Neuronen der Substantia nigra aus bisher nicht geklärten Gründen zu wenig Dopamin. Für die Alzheimer-Krankheit sind Ablagerungen von Proteinen typisch, aber darüber, wie diese Proteinhaufen die typische Demenz verursachen, besteht in der Wissenschaft bislang ebenfalls keine Einigkeit.

Hier hilft möglicherweise ein Atlas des Molekülapparats im Gehirn weiter. Experten kennen ihn als „Allen Brain Atlas“, weil er vom Allen-Institut für Hirnforschung im amerikanischen Seattle erstellt wurde. Hier zeichneten die Wissenschaftler von gespendeten Gehirnen kürzlich verstorbener Menschen zunächst mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) jeweils eine Art dreidimensionale Straßenkarte. Dann schnitten sie die Gehirne in mikroskopisch dünne Scheibchen, behandelten sie mit Chemikalien und machten so die aktiven Gene in den Neuronen sichtbar.

Bisher haben Forscher die Gehirne von sechs Menschen kartiert und in jedem davon an 700 Stellen die Aktivität von 20.000 Genen erfasst. Die Auswertung dieser Daten hat gerade erst begonnen. Wie man heute schätzt, sind rund 84 Prozent aller Gene, die unsere DNA enthält, im Gehirn eines Erwachsenen irgendwann aktiv. Organe wie Herz oder Bauchspeicheldrüse brauchen für ihre Tätigkeit deutlich weniger Gene. Und an jeder der 700 untersuchten Stellen schalten die Neuronen ihre Gene in anderer Kombination an und ab.

In einer ersten Studie verglichen die Wissenschaftler in zwei Gehirnregionen 1000 Gene, die für die Funktion der Neuronen wichtig sind. Bei allen Menschen waren gleiche Gene praktisch in den gleichen Hirnarealen aktiv. Es sieht so aus, als gäbe es im Gehirn eine fein strukturierte Landschaft, in der verschiedene Genkombinationen an speziellen Stellen bestimmte Aufgaben erledigen. Die Ursachen vieler rätselhafter Gehirnkrankheiten dürften in der Art und Weise liegen, wie die Gene hier funktionieren – oder eben nicht.

UM INS GEHIRN ZU SCHAUEN, MACHEN ES FORSCHER DURCHSICHTIG WIE EINE GLASMURMEL.

Alle Informationen des „Allen Brain Atlas“ sind im Internet zugänglich, so dass auch andere Wissenschaftler die Daten für ihre eigenen Projekte und Fragen analysieren können. Ein Team in Brasilien erforscht damit zum Beispiel das Fahr-Syndrom, eine Art Gefäßverkalkung im Gehirn, die Demenz verursacht. Einige Fälle des Fahr-Syndroms schienen mit einer Mutation in einem bestimmten Gen – genannt SLC20A2 – in Verbindung zustehen. Tatsächlich zeigte der Allen-Atlas, dass SLC20A2 gerade in den Regionen, in denen die Krankheit auftritt, besonders aktiv ist.

Andere forscher machen das Gehirn unsichtbar, um es besser studieren zu können. Erfinder dieser revolutionären Methode ist der Neurowissenschaftler und Psychiater Karl Deisseroth von der Stanford-Universität.

Auf einem Labortisch in seinem Institut stehen ein halbes Dutzend Kolben in einem Ständer. Die Assistentin Jenelle Wallace hält mir einen vor die Augen. Darin liegt das Gehirn einer Maus, es ist etwa so groß wie eine Weinbeere. Eigentlich sehe ich aber weniger das Gehirn als durch es hindurch. Es ist fast so transparent wie eine Glasmurmel.

Normalerweise ist weder das Gehirn von Mäusen noch das von Menschen durchsichtig: Seine Zellen sind von Fett, Gefäßen und anderen Geweben umgeben. Deshalb musste einst Cajal die Neuronen färben, um sie zu sehen, deshalb schneiden die meisten Forscher das Gehirn in dünne Scheibchen, um Einblicke in seine Struktur zu erhalten. Dagegen hat ein komplettes, durchsichtiges Gehirn den Vorteil, dass man Aufbau und Verbindungen im intakten Organ sehen und darstellen kann.

Dazu entwickelte Deisseroth mit seinem Mitarbeiter Kwanghun Chun ein Verfahren, Fett und andere undurchsichtige Substanzen im Gehirn gegen transparente Moleküle auszutauschen. Das nun durchsichtige Hirn behandeln sie mit leuchtenden chemischen Markierungen, die sich nur an bestimmte Proteine heften, oder die nur eine bestimmte Leitungsbahn zwischen den Neuronen weit voneinander entfernter Gehirnregionen nachzeichnen. Sie können auch eine Gruppe von Chemikalien später wieder auswaschen und andere zugeben, die Lage und Struktur von Neuronen eines anderen Typs sichtbar machen. So entwirren sie den Gordischen Knoten der Neuronenschaltkreise Stück für Stück, ohne ihn zerschneiden zu müssen.

Ein „durchschautes Mausgehirn“ kann bereits viel über die Hirnfunktionen beim Menschen aussagen, immerhin haben beide ein Stück Evolution gemeinsam. Dennoch will Deisseroth irgendwann auch das Gehirn eines Menschen durchsichtig machen – obwohl es 3000-mal so groß ist wie das einer Maus.

Eines Tages soll dieses Verfahren Menschen wie denen nützen, die Deisseroth in seiner psychiatrischen Praxis behandelt: Es könnte verborgene Aspekte von Krankheiten wie Autismus und Depressionen offenlegen. «Doch bis wir darauf eine Therapie aufbauen können, ist es noch einen langer Weg», sagt er.

Denn auch ein transparentes Gehirn ist immer noch ein totes Gehirn. Um am lebenden Objekt forschen zu können, sind ganz andere Hilfsmittel nötig. Zum Beispiel die Scanner, mit denen Wedeen die Muster in der weißen Gehirnsubstanz nachzeichnet. Die funktionale Magnetresonanztomografie (fMRT) zeigt, welche Regionen im Gehirn bei geistiger Tätigkeit aktiv sind. In den vergangenen Jahrzehnten sind auf diese Weise verschiedene Neuronen-Verbünde identifiziert worden, die an bestimmten Denkvorgängen mitwirken, sei es bei der Erkennung von Gesichtern, dem guten Gefühl angesichts einer frischen Tasse Kaffee oder bei der Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis.

Doch so beeindruckend die bunten und komplizierten fMRT-Bilder auch sind, es handelt sich immer noch um ziemlich grobe Darstellungen. Selbst wenn man mittlerweile einzelne Nervenzellen bei der Erzeugung und dem Austausch von Signalen beobachten kann, ist immer noch unklar, wie das Gehirn daraus das Bild eines Sonnenuntergangs in unserem Kopf entstehen lässt, den Duft von frischem Brot hervorruft – oder die Erinnerung an den Schulweg mit meiner Tochter vor vielen Jahren.

WENN DIE MODELLE STIMMEN, KÖNNEN DIE FORSCHER BUCHSTÄBLICH DIE GEDANKEN DER MAUS LESEN.

«Das sind Vorgänge in der Großhirnrinde, und was da vor sich geht, können wir oft noch nicht beantworten», sagt Clay Reid, ein früherer Kollege von Jeff Lichtman. Vor zwei Jahren wechselte Reid von der Harvard-Universität an das Allen Institute in Seattle. Hier will er herausfinden, wie eine große Zahl von Neuronen gemeinsam eine komplexe Aufgabe bewältigen. Dazu hat er sich eine Reihe von Experimenten ausgedacht. Er nennt das Projekt MindScope – übersetzt etwa „in den Geist blicken“.

Die Funktion, die Reid vorrangig entschlüsseln will, ist das Sehen. Er geht hier neue Wege. Andere Neurowissenschaftler stecken etwa bei einer Maus eine Elektrode in ein Gehirnareal, das am Sehen beteiligt ist. Sie zeichnen dann auf, ob Neuronen Impulse abgeben, wenn das Tier ein bestimmtes Bild sieht. So konnte man Regionen ausmachen, die an bestimmten Aspekten des Sehens mitwirken, zum Beispiel am Erkennen von Objektgrenzen oder von Helligkeitsunterschieden. Man weiß aber nicht, wie alle diese Regionen zusammenarbeiten; wie die Millionen Neuronen in den Seharealen des Mäusegehirns die Informationen zum Bild einer Katze zusammensetzen.

Reid und seine Kollegen wollen diese Fragen mit gentechnisch veränderten Mäusen beantworten. Die Neuronen dieser Mäuse senden Lichtblitze aus, wenn sie aktiv werden. Diese Blitze kann man messen, sie spiegeln die Aktivität der Nervenzellen wider, wenn die Maus ein bestimmtes Objekt sieht, sei es eine Katze oder ein Stück Käse. Mit diesen Daten konstruieren die Wissenschaftler dann mathematische Modelle des Sehens. Wenn die Modelle stimmen, werden die Forscher buchstäblich die Gedanken der Maus lesen können. Reid ist zuversichtlich: «Ich glaube, wir schaffen das.»

Dem letzten Ziel der Neurowissenschaften wäre man dann wieder einen Schritt näher gekommen: zu verstehen, wie das Gehirn ein Bild der Welt aufbereitet, wie es unser Fühlen und Handeln steuert. Bislang ist das nur eine große Vision, und noch haben die neuen Erkenntnisse kaum Auswirkungen auf die Methoden, mit denen Ärzte Patienten mit Hirnschäden behandeln. Eine Forschungsrichtung gibt es allerdings, die schon heute das Leben von Menschen verändert: die Zusammenschaltung von Gehirn und Maschine.

Cathy Hutchinson war 43 Jahre alt, als sie einen schweren Schlaganfall erlitt. Sie konnte danach weder sprechen noch sich bewegen. Sie lag im Massachusetts General Hospital in ihrem Bett und verfolgte die Gespräche der Ärzte, die sich fragten, ob sie hirntot sei oder vielleicht doch noch etwas wahrnehme. Erst als ihre Schwester sie fragte, ob sie sie verstehe, gelang es Hutchinson, ihre Augen zu bewegen

«Mann, war ich froh», erzählt sie mir 17 Jahre später, «denn alle um mich herum haben von mir geredet, als ob ich im Sterben läge».

In einen dunkelgrünen Jogginganzug gekleidet, sitzt Cathy in einem Rollstuhl in ihrem Wohnzimmer. Sie ist immer noch fast vollständig gelähmt, sprechen kann sie nicht, nur den Kopf etwas bewegen. Um zu kommunizieren, blickt sie auf Buchstaben, die auf einem Monitor erscheinen. Eine Kamera verfolgt die Bewegungen einer winzigen Metallscheibe, die in der Mitte ihrer Brillengläser angebracht ist, ein Computer bildet Wörter aus den Buchstaben, auf die sie blickt.

Bei Hutchinson ist der motorische Cortex, eine Region im Gehirn, mit der wir unseren Muskeln befehlen, sich zu bewegen, noch intakt. Doch die Leitungsbahnen zu den Muskeln sind seit dem Hirninfarkt unterbrochen. Hier setzt der Neurowissenschaftler John Donoghue an. An der Brown­Universität im US­Bundesstaat Rhode Island sucht er nach einer Methode, wie gelähmte Menschen die Signale ihres motorischen Cortex nutzen können. Seine Idee: Sie sollten allein durch ihre Gedanken auf einem Computer schreiben oder eine Maschine bedienen. Dazu entwickelte er eine Apparatur, die er zunächst in das Gehirn von Affen einpflanzte. Als nach jahrelangen Versuchen klar war, dass das Gerät keinen Schaden anrichtet, suchte Donoghue nach freiwilligen menschlichen Patienten. Einer von ihnen war Cathy Hutchinson.

Im Jahr 2005 bohrten Chirurgen des Rhode Island Hospital ihr ein Loch in den Schädel und pflanzten den Sensor von Donoghues Gerät ein. Er ist ungefähr so groß wie ein Marienkäfer und enthält hundert winzige Nadeln. Sie stecken nun im motorischen Cortex von Hutchinson und nehmen die Signale der umliegenden Neuronen auf. Feine Drähte leiten sie durch das Loch im Schädel zu einem Verbindungsstück auf der Kopfhaut. Von dort führt ein Kabel zu einem Computer in Hutchinsons Zimmer. Der Rechner lernte ziemlich rasch, die Signale des motorischen Cortex zu interpretieren und einen Zeiger entsprechend über den Bildschirm zu bewegen. Nun konnte Hutchinson wieder mit anderen Menschen „sprechen“.

Zwei Jahre später koppelten die Wissenschaftler einen Roboterarm an den Computer und verfeinerten das Programm. Schon nach wenigen Trainingseinheiten konnte die Patientin mit der Kraft ihrer Gedanken den Arm vorwärts und rückwärts bewegen, heben und senken, die Roboterfinger öffnen oder zur Faust schließen. Für Donoghue wird der Tag unvergesslich bleiben, als Cathy Hutchinson erstmals nach einem Glas Latte Macchiato griff und zum Trinken an die Lippen führte. «Es fühlte sich ganz natürlich an», erinnert sie sich.

Leistungsfähige, einfach zu bedienende Mensch-Maschine-Schnittstellen sind keine Sciene-Fiction mehr. In North Carolina experimentiert Miguel Nicolelis an der Duke-Universität mit Außenskeletten, die am Körper festgegurtet werden. Signale aus dem Gehirn steuern die Gliedmaßen. Affen hat er bereits beigebracht, allein durch Denken an bestimmte Bewegungen solche Ganzkörper-Prothesen zu bedienen. Die Affen waren gesund, aber durch Belohnungen darauf trainiert, nicht die eigenen Arme und Beine zu benutzen. Jetzt übt Nicolelis mit einem querschnittsgelähmten Menschen. Er soll bei der kommenden Fußball-Weltmeisterschaft in Nicolelis’ Heimatland Brasilien den ersten Anstoß ausführen.

«Irgendwann werden Gehirnimplantate eben- so verbreitet sein wie implantierte Herzen», sagt Nicolelis. «Daran habe ich keinen Zweifel.»

(NG, Heft 2 / 2014, Seite(n) 32 bis 55)

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