Seltener Gendefekt sorgt für bedingungslose Nächstenliebe

Das Williams-Beuren-Syndrom tritt bei einem von 10.000 Menschen auf und wird mitunter als das Gegenteil von Autismus bezeichnet.

Von Simon Worrall
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:39 MEZ
Kind umarmt Person
Ein Kind mit dem Williams-Syndrom aufzuziehen, kann einige ungewöhnliche Herausforderungen mit sich bringen, wie zum Beispiel die Etablierung persönlicher Grenzen.
Foto von Joël Sartore, National Geographic Creative

Ein Kind, das es nicht sein lassen kann, Menschen zu umarmen, das keine Angst vor Fremden hat und das jeden Menschen gleichermaßen liebt – das hat seine guten Seiten, aber auch seine schlechten.

Menschen mit dem Williams-Beuren-Syndrom – eine seltene, genetische Besonderheit – stehen Problemen gegenüber, die genauso herausfordernd sein können wie bei Autisten. Manche haben mit Lernschwierigkeiten zu kämpfen, andere haben Probleme damit, Freundschaften zu knüpfen. Jennifer Latson erklärt in ihrem bewegenden Buch „The Boy Who Loved Too Much: A True Story Of Pathological Friendliness (dt. Der Junge, der zu viel liebte: Eine wahre Geschichte über pathologische Freundlichkeit), dass es auch für die Eltern dieser Kinder eine schwierige Situation ist.

Das Syndrom löst bei Betroffenen einen Überschuss an Oxytocin aus, das auch als Bindungshormon bezeichnet wird, und tritt bei etwa einem von 10.000 Menschen auf.

Von ihrem Zuhause in Texas aus erzählte uns Latson, wie ganz besonders ein Williams-Patient namens Eli D‘Angelo ihr Leben veränderte.

Die meisten unserer Leser haben schon von Autismus gehört. Aber ich vermute, dass nur wenige das Williams-Beuren-Syndrom kennen. Geben Sie uns bitte einen kurzen Überblick darüber.

Manchmal wird es auch als das Gegenteil von Autismus bezeichnet, obwohl es Überschneidungen gibt. Menschen mit dem Williams-Syndrom neigen dazu, jeden zu lieben und jedem zu vertrauen. Sie laufen zu Fremden und umarmen sie, was sie natürlich auch angreifbar macht.

[Das Syndrom] wurde in den 1960ern von John Williams in Neuseeland identifiziert. Er war ein Kardiologe, dem auffiel, dass viele seiner Patienten an supravalvulärer Aortenstenose [Anm.: Verengung der Hauptschlagader] litten. Das ist sehr selten, außer bei Menschen mit dem Williams-Syndrom.

Williams bemerkte auch, dass mehrere dieser Patienten ähnliche Persönlichkeiten und charakteristische Gesichtsmerkmale hatten. Die Betroffenen haben elfenhafte Gesichtszüge, weshalb die Störung auch zuerst Elfin-face-Syndrom genannt wurde. Sie haben ein schmales Kinn, auffällige Ohren, hohe Wangenknochen nach vorn gerichtete Nasenlöcher mit einer kugeligen Nasenspitze.

Das Syndrom wird durch einen sehr kleinen genetischen Stückverlust ausgelöst, der 26 bis 28 Gene auf dem 7. Chromosom umfasst. Es gibt einige ernstzunehmende Symptome wie kognitive Behinderungen, Herzkrankheiten und Probleme bei der Verdauung und beim Muskeltonus. Von der Entwicklungsperspektive her ähnelt es dem Down-Syndrom. Der durchschnittliche IQ liegt etwa bei 50.

In Ihrem Buch geht es um einen amerikanischen Jungen namens Eli D‘Angelo – ein Pseudonym, das seine Identität schützen soll. Erzählen Sie uns von ihm und davon, wie sich das Syndrom bei ihm ausdrückte.

Ich habe ihn kennen gelernt, als er zwölf war. Er war so herzlich und freundlich. Er hat mich mehrfach umarmt, als wir uns begegnet sind. Am Ende des Abends, als ich meinen Mantel anzog, sagte er: „Warte! Gehst du schon?“ In der Zeit, die ich dort verbracht habe, sind wir offensichtlich beste Freunde geworden. Er dachte, ich würde über Nacht bleiben oder für immer einziehen. [Lacht.]

Foto von Simon and Schuster

Menschen mit dem Williams-Syndrom sind oft nicht gut darin, soziale Stimuli zu lesen. Sie wissen nicht, wann man ein Gespräch beenden oder gehen will. Eli hatte auch Probleme damit, auf Konversationsebene eine Verbindung herzustellen. Er hatte ein festes Repertoire an Fragen, die er immer stellte. „Hast du einen Hund? Wo ist dein Papa? Hast du Kinder?“ Seine Interessen ähneln denen von Menschen mit Autismus. Er ist fasziniert von allem, das sich dreht: Deckenventilatoren, Windräder und vor allem Wischmopps. [Lacht.]

Sie schreiben: „Eine der herzzerreißendsten Gefahren beim Aufziehen eines Kindes mit Williams ist, dass das Kind einen innigst und bedingungslos liebt, aber dass es dieselben Gefühle auch für seinen Busfahrer hegt.“ Wie ging Elis Mutter Gayle D‘Angelo (ebenfalls ein Pseudonym) damit um?

Es war ein schwerer Kampf. Seit Eli sieben ist, ist sie alleinerziehend. Und Elis Impulsivität schien so stark, dass er einfach nicht aufhören konnte, Menschen zu umarmen. Er wusste, dass das falsch war, und entschuldigte sich, wenn er die Arme ausstreckte, um eine Kellnerin oder einen Fremden zu umarmen. Er sagte „Entschuldige, Mama“, und machte es dann trotzdem.

Sie wollte ihn um jeden Preis beschützen. Sie wollte nicht, dass er ausgenutzt wurde, also ließ sie ihn kaum aus den Augen.

Sie hatte auch noch eine andere Befürchtung. Wenn er erwachsen würde und sich dann immer noch Leuten an den Hals warf und sie mit Zuneigung überschüttete, würde das bei einem erwachsenen Mann deutlich weniger liebenswert wirken als bei einem kleinen Jungen.

Das wurde speziell problematisch, als er 13 wurde. Eli hatte nicht diese ausgeprägte Selbstbewusstheit und die Verlegenheit, die viele von uns im Teenageralter haben. Er lief mit einer Erektion herum und begriff gar nicht, dass irgendwas daran ungewöhnlich war.

Das Williams-Syndrom entsteht durch einige fehlende Gene. Erzählen Sie uns von den neurowissenschaftlichen Experimenten zum Williams-Syndrom, die am Salk-Institut durchgeführt werden, und von der Rolle des Oxytocin.

Das ist faszinierend! Am Salk-Institut versucht man herauszufinden, welche Gene zu welchen Symptomen bei Williams beitragen. Die ursprüngliche Hypothese sah so aus, dass alle Symptome und Eigenschaften von dem Zusammenspiel zwischen mehreren Genen abhängen. Es gibt kein einzelnes Gen, das die Augenfarbe allein bestimmt – es sind diverse Gene, die zusammen interagieren. Nicht jeder Person mit dem William-Syndrom fehlen also exakt dieselben 26 bis 28 Gene, obwohl das bei 99,9 Prozent der Fall ist.

Sie haben zufällig ein Mädchen gefunden, das positiv auf das Williams-Syndrom getestet wurde und viele der typischen Symptome wie kognitive Behinderungen, Gesundheitsprobleme und die Gesichtsmerkmale aufwies. Aber sie hatte nicht die gleiche überbordend freundliche, extrovertierte Persönlichkeit. Also haben sie nachgeforscht und herausgefunden, dass ihr alle Williams-Gene bis auf eines fehlten, was mit der Eigenschaft der Freundlichkeit zusammenzuhängen schien. Das war bahnbrechend.

Die Forscher begriffen, dass es einen Zusammenhang zu den Oxytocin-Leveln gab. Sie wussten, dass Oxytocin bei sozialen und intimen Verhaltensweisen eine Rolle spielt, so zum Beispiel bei der Mutter-Kind-Bindung und bei romantischen Begegnungen. Und sie haben herausgefunden, dass Menschen mit Williams-Syndrom deutlich mehr Oxytocin haben als andere, und dass es in ihrem Gehirn stark schwankt. Das Ergebnis ist, dass sie den biologischen Impuls fühlen, die ganze Zeit zu lieben.

Eine der Überraschungen war für mich Ihre Theorie, dass Shakespeares Narrengestalten – und sogar die Feen und Elfen – am Williams-Syndrom gelitten haben könnten.

Vor der modernen Wissenschaft war das eine magischere Möglichkeit zu erklären, warum jemand so anders erschien. Man weiß, dass viele Narren an mittelalterlichen Höfen Behinderungen hatten, weil es historische Aufzeichnungen darüber gibt, dass jemand als Betreuungsperson für sie bezahlt wurde. Damals wusste man aber nicht, was das Williams-Syndrom ist. Man kann aber Folgendes annehmen: Wenn man jemanden nach einer Fähigkeit auswählt, ein guter Geschichtenerzähler, witzig und gut mit Wortspielen zu sein, dann würden diese Eigenschaften auf jemanden mit dem Williams-Syndrom zutreffen. Aber das ist natürlich nur eine begründete Vermutung.

Eine spannende Entdeckung ist, dass Williams-Betroffene – um Oliver Sacks zu zitieren – „eine hypermusikalische Art“ sind. Warum haben sie dieses besondere Verhältnis zu Musik und wie äußerte sich das in Elis Fall?

Es gab eine Studie der Vanderbilt Universität, an der Eli teilgenommen hat. Sie sollte klären, ob Menschen mit Williams eher dazu neigen, ein absolutes Gehör zu haben oder musikalische Savants zu sein. Manche sagen, dass Menschen mit Williams mit größerer Wahrscheinlichkeit musikalisch begabt sind als durchschnittliche Menschen, aber andere widersprechen dem. Es ist nicht ganz eindeutig. Aber es ist klar, dass Menschen mit Williams von Musik angetrieben werden. Sie reagieren sehr stark gefühlsbetont auf ein trauriges Lied und fangen an zu weinen. Bei einem fröhlichen Song tanzen sie.

Das trifft auch auf Eli zu. Wann immer er nicht redet, sing oder summt er oder macht irgendwas Rhythmisches mit seinen Händen. Sein Musikgeschmack scheint vom Drama der Musik abhängig. Er ist ein großer Fan von Meatloaf, Pavarotti und Lady Gaga.

Ich war auch fasziniert von dem kulturübergreifenden Vergleich des Syndroms. Erzählen Sie uns etwas über die Forschungen von Carol Zitzer-Comfort in Japan und den USA.

Sie hat festgestellt, dass sich Williams in verschiedenen Kulturen immer auf dieselbe Art äußert, aber dass die Reaktion der Menschen sich unterscheidet. In den USA, wo wir Extrovertiertheit, Herzlichkeit und physische Nähe schätzen, ist es kein so großes Problem. In Japan gilt es als sehr unhöflich und aufdringlich, zu einem Fremden zu gehen und ihn zu umarmen. Daher bezeichneten Eltern in Japan das Syndrom auch eher als sehr problematisch. Menschen mit Williams werden [in Japan] auch eher eingewiesen als in den USA.

Man kann das Williams-Syndrom nicht durch pränatale Tests erkennen. Könnte sich das ändern? Und wie gehen werdende Eltern aktuell mit dieser Möglichkeit um?

Es ist nicht so, dass man es in pränatalen Tests nicht erkennen könnte. Es wäre nur einfach sehr teuer, da man aktuell nicht bis zu diesem Grad der Seltenheit nachforscht. Ich denke, dass sich das ändern wird, da sich die Technologie weiterentwickelt und es billiger und einfacher sein wird, einen Test für alle genetischen Störungen zu machen. Womöglich passiert das noch im Laufe unseres eigenen Lebens.

Manche sprechen sogar davon, Menschen mit Williams sterilisieren zu lassen – nicht die Regierung, sondern einige Eltern, mit denen ich gesprochen habe. Von einem Reproduktionsstandpunkt aus betrachtet ist Williams eine zufällige Mutation. Zwei normale Menschen haben also eine Chance von 1:10.000, ein Kind mit Williams zu zeugen. Wenn man aber selbst Williams hat, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 1:2. Für viele Eltern mit kognitiv stark behinderten Kindern stellte sich die Frage, was passieren würde, wenn diese Kinder ihre eigenen Kinder nicht selbst aufziehen könnten. Für jemanden mit Williams ist es sehr stressig, eine Schwangerschaft durchzumachen. Aber es ist ein heikles Thema, da wir eine schlimme Vergangenheit der erzwungenen Sterilisation für Menschen mit Behinderungen und Geisteskrankheiten haben. Menschen mit Williams haben jedes Recht, selbst über ihren Körper zu bestimmen.

Sie schreiben: „Trotz ihrer Nachteile verdeutlichen Menschen mit Williams einige der besten Eigenschaften der Menschheit.“ Führen Sie das aus und erklären Sie, wie Ihre Zeit mit Eli Ihre eigene Sicht auf die Welt verändert hat.

Eine Studie aus dem Jahr 2010 hat gezeigt, dass Menschen mit Williams keine Verzerrungseffekte basierend auf Hautfarbe und Ethnie haben, während alle anderen Gruppen eine implizite Präferenz für ihre eigene Ethnie zeigten. Das ist durch die Evolution ein Teil von uns. Wenn man in der Vergangenheit kein Mitglied des Stammes war, wurde man sehr wahrscheinlich als Bedrohung eingestuft.

Es ist erstaunlich zu sehen, wie Menschen mit Williams allen anderen mit dem grundsätzlichen Glauben an das Gute in ihnen begegnen. Für mich persönlich als introvertierten Menschen, der neuen Personen gegenüber misstrauischer ist als der Durchschnitt, war es unangenehm, Eli dabei zuzusehen, wie er so offen auf Leute zuging. Ich dachte „Oh mein Gott, du gehst so ein Risiko ein, du bist in so großer Gefahr!“ Aber in 99 Prozent der Fälle reagiert die Person positiv. Ihm dabei zuzusehen, wie er Risiken einging, die ich nie eingehen würde, und dann zu sehen, wie es gut ausging – das hat mich sehr verändert.

Es ist nicht so, als hätte ich neue Tricks gelernt, um Freunde zu finden und Leute zu beeinflussen. Aber ich habe gelernt, dass man offener und verletzlicher sein kann. Und dass man dadurch etwas gewinnen kann.

Das Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.

Simon Worrall auf Twitter folgen.

BELIEBT

    mehr anzeigen
    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved