Scott Kellys Jahr im Weltraum
Sich bei einem Weltraumspaziergang zu verlaufen, hat den Astronauten nicht gestört, andere Dinge aber schon.
Was ist das für ein Gefühl, in einer Rakete von der Erde abzuheben in dem Wissen, dass man ein Jahr lang seine Familie nicht sehen, den Wind nicht im Gesicht spüren und kein frisch gekochtes Essen essen wird?
Scott Kelly – der erste NASA-Astronaut, der fast ein ganzes Jahr auf der ISS verbracht hat – beschreibt in seinem neuen Buch „Endurance“, wie seltsam sich das angefühlt hat. Aber er betont auch den wissenschaftlichen Nutzen seines Weltraummarathons. Indem die Wissenschaftler Kelly mit seinem auf der Erde verbliebenen Zwillingsbruder Mark verglichen, konnte sie wertvolle Informationen über die körperlichen und psychologischen Langzeitwirkungen von Weltraumreisen gewinnen. Sollten wir jemals eine Reise zum Mars unternehmen, werden diese Informationen von unschätzbarem Wert sein.
Im Interview mit National Geographic erklärt Kelly, wie seine Reise zu den Sternen mit einem zufälligen Bücherfund begann, warum er glaubt, dass wir schon heute zum Mars reisen könnten, und wie er im Weltraum mit der Nachricht umging, dass seine Schwägerin Gabby Giffords angeschossen wurde.
Sie beschreiben in Ihrem Buch einen ganz verblüffenden Moment, als sie bei einem Weltraumspaziergang Ihre Orientierung verloren. Beschreiben Sie uns, wie sich das angefühlt hat.
Ich war auf meinem zweiten Weltraumspaziergang. Er war lang und erschöpfend und gegen Ende, als wir zurück zur Luftschleuse unterwegs waren, bat mich die Bodenstation, noch etwas Anderes zu tun und ein Ventil zu überprüfen. Obwohl ich erschöpft war, gab ich Bescheid, dass ich das machen könne. Man weiß ja nicht, was noch alles schiefgehen kann, also muss man sich der Situation gewachsen zeigen.
Ich machte mich auf den Weg zur Arbeitsstelle an der anderen Seite des Trägers – ein Bereich, in dem ich mich nicht auskannte – und ging einfach völlig im Weltall verloren, verlor die Orientierung und drehte mich kopfüber. Ich habe eine Weile gebraucht, um herauszufinden, wo ich war. Das ist nicht so, als hätte man sich verlaufen und könnte seinen Weg zurück nach Hause nicht finden. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass es irgendein Risiko gab. Aber es war trotzdem kein schönes Gefühl.
Schließlich ging die Sonne auf. [Lacht] Vorher konnte ich ein paar Lichter über mir sehen und dachte, das wäre der Himmel, aber der war es nicht. Es war die Erde. Als ich sie sehen konnte, begriff ich, dass ich gerade über den Mittleren Osten flog. Ich konnte den Persischen Golf sehen, der vom Weltall aus sehr deutlich zu erkennen ist, selbst nachts.
Sie erzählen das sehr nüchtern. Aber für die meisten von uns klingt die Vorstellung furchterregend, nachts über Kopf außerhalb eines Raumfahrzeugs zu schweben.
Ja, aber ich mach den Job seit fast 20 Jahren. Obwohl ich vorher nicht viele Weltraumspaziergänge gemacht hatte, war ich an das Leben in dieser riskanten Umgebung gewöhnt. Wenn man einen Durchschnittsmenschen in einen Raumanzug steckt und ihn ohne vorheriges Training oder Erfahrungen aus einer Raumstation wirft, wäre das, wie Sie sagten, furchterregend.
Beschreiben Sie, wie es so ist, sich außerhalb eines Raumschiffs aufzuhalten.
Eines der Dinge, die einem auffallen, sind die vielen Kratzer und in manchen Fällen sogar Löcher an Geländern und anderen Metallvorrichtungen an der Außenseite der Raumstation. Die Raumstation steckt eine Menge Schläge ein! Zum Glück haben wir gute Trümmerschilde und nichts hat je die Hülle durchschlagen, aber da draußen fliegt eine Menge Zeug rum. Und wenn einen etwas davon im Gesicht oder irgendwo am Anzug trifft, würde es schweren Schaden an einem selbst und dem Anzug anrichten, der mit 100 Prozent Sauerstoff gefüllt ist.
Der Blick auf die Erde von draußen ist unglaublich. Man hat das Gefühl, als würde man die ganze Erhabenheit des Planeten Erde erleben, und das ist einfach unglaublich. Diese Bilder der Sonnenauf- und -untergänge, der blauen Erde und der Stadtlichter in der Nacht, wie ich sie durch mein Helmvisier gesehen habe, sind etwas, das sich hoffentlich für den Rest meines Lebens in mein Gehirn eingebrannt hat.
Auf Ihrer ersten Reise ereignete sich ein anderes dramatisches Ereignis, das in dem Fall aber mit der Politik auf der Erde zu tun hatte. Erzählen Sie uns von dem Moment, als Sie hörten, dass Ihre Schwägerin Gabrielle Giffords angeschossen wurde. In Hinblick auf diese Erfahrung und den jüngsten Ereignissen in Las Vegas, was denken Sie da über die Reglementierung des Waffenbesitzes?
Als Gabby am 8. Januar 2011 angeschossen wurde, hatte ich gerade etwa die Hälfte meines ersten sechsmonatigen Fluges hinter mir. Ich habe einen Anruf vom Boden bekommen, in dem ich informiert wurde, dass sie die Verbindung vom Boden zur Station auf privat umstellen würden. Das bedeutet, sie wollen nicht, dass irgendwer hört, was sie einem sagen. Die Leiterin des Astronautenbüros kam ans Telefon und sagte: „Ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll, also sage ich es einfach. Ihre Schwägerin Gabby wurde angeschossen und eine Reihe von Leuten wurde getötet.“
Ich war auf der Raumstation und hatte keine Möglichkeit, nach Hause zu kommen. Ich versuchte einfach mein Bestes, um meinen Bruder und seine Familie und meine Familie am Telefon zu unterstützen. Aber schließlich begriff ich, dass ich mich auf meinen Job konzentrieren musste, auf das, was ich kontrollieren konnte, und dass ich das Chaos da unten auf der Erde mit meiner Schwägerin ignorieren musste. In irgendwelchen Nachrichten hieß es sogar, dass sie gestorben war. Aber später habe ich mit einem guten Freund gesprochen, der sagte, dass sie am Leben war.
Seitdem sind Gabby und mein Bruder große Verfechter einer sinnvollen Gesetzgebung, die dafür sorgt, dass Menschen, die keine Waffen haben sollten, auch keine bekommen. Genau wie ich glauben sie an den zweiten Zusatzartikel unserer Verfassung. Unser Land wurde auf diesem Prinzip erbaut. Aber wir haben in den USA eindeutig ein Problem mit Waffengewalt, und es gibt eine Menge, das wir tun können. Ein guter Ausgangspunkt wäre eine Rechtsprechung, die Menschen vor anderen Menschen beschützt, die keine Schusswaffen haben sollten.
Kleine Jungs und Mädchen sagen oft, dass sie Astronauten werden wollen, wenn sie erwachsen sind. In ihrem Hintergund – schlechte Schulnoten, gewalttätiger Vater, Arbeiterviertel – gab es wenig, das darauf hindeutete, dass Sie das Zeug dazu hätten. Wie und warum hatten Sie dennoch Erfolg damit?
Das war, wie Sie sagten, in der Tat nichts, das für mich möglich schien. Wenn Sie irgendeinen meiner Lehrer in der Schule gefragt hätten, ob sie dachten, dass ich eines Tages mal ein Astronaut sein würde, hätten sie vermutlich gelacht! Und das hätte ich auch. [Lacht] Es war definitiv etwas, das mich interessiert hat, so wie das eben viele Kinder interessiert, wenn sie jung sind und große Träume haben. Aber erst auf dem College, als ich mich akademisch noch immer schwertat, ging ich durch Zufall in einen Buchladen und kaufte das Buch „Die Helden der Nation“. Aus irgendeinem Grund konnte ich mich damit identifizieren und beschloss, dass es das war, was ich tun wollte.
Ich wollte ein Marineflieger werden und auf einem Schiff landen, weil ich dachte, dass das die schwierigste Art des Fliegens sei. Ich hatte damit absolut Recht. Das Buch war der Funke, den ich brauchte, um mich in eine positive Richtung zu bewegen. Das war nicht einfach, besonders am Anfang, als ich mir beibringen musste, wie ich ein guter Student sein und lernen konnte. Aber mit der Zeit lernte ich, wie ich meinen Mangel an Aufmerksamkeit ausgleichen konnte.
Das ist ein großer Schritt, wenn man darüber nachdenkt. Ein Kind liest ein Buch und beschließt, Astronaut zu werden. Aber in Wahrheit waren es eine Reihe ganz kleiner, aber positiver Schritte, die schließlich zu einem großen Schritt wurden.
Die Titel ihres Buches nimmt Bezug auf den Polarforscher Ernest Shackleton. Welche physischen und psychologischen Ähnlichkeiten zwischen Ihrer Reise in dem Weltraum und seiner antarktischen Odyssee sehen Sie?
Die Ausdauer, die nötig ist, um eine einjährige Mission mit derselben Energie und demselben Enthusiasmus, die man am Anfang hatte, bis zum Schluss durchzuziehen, ähnelt der Philosophie, die meiner Vorstellung nach wohl Shackleton hatte.
Aber für ihn dauerte das deutlich länger als ein Jahr, viel länger als mein Aufenthalt im Weltraum. Trotz der Isolation war meine Erfahrung nichts, das man einfach mit dem täglichen Überlebenskampf dieser Typen vergleichen kann.
Was war für Sie am schwersten?
Von meiner Familie und meinen Freunden getrennt zu sein und zu wissen, dass ich nicht bei ihnen sein könnte, wenn irgendwas passieren würde. Man ist von der Außenwelt und der Natur abgeschnitten und ist zum Beispiel nicht in der Sonne und spürt den Wind nicht im Gesicht. Es gibt keine große Auswahl bei dem, was man jeden Tag tun kann. Man muss über einen sehr langen Zeitraum hinweg einem streng kontrollierten Zeitplan folgen, was ebenfalls eine Herausforderung ist.
Ich würde nie so weit gehen, zu behaupten, dass es ebenso herausfordernd war wie das, mit dem Shackleton und seine Männer fertig werden mussten. Aber es war dennoch eine Ausdauermission.
Ihr Zwillingsbruder Mark ist ebenfalls ein Astronaut. Erzählen Sie uns von der Zwillingsstudie und was sie über die Physiologie von Weltraumreisen offenbart hat.
Die Grundidee bei der Zwillingsstudie war, dass man diese zwei Typen hat, die genetisch fast identisch sind. Von meinem Bruder hatten sie außerdem ebenfalls eine Menge Daten, die bis ins Jahr 1995 zurückreichten, da er genau so lang wie ich Astronaut war. Es war also eine einzigartige Gelegenheit, mich im Weltraum auf einer genetischen und biochemischen Ebene mit ihm am Boden zu vergleichen. Dabei wurden Aspekte unserer Physiologie und unserer Psyche analysiert.
Das gab ein paar interessante Ergebnisse. Ich war beispielsweise erstaunt zu erfahren, dass meine Telomere – der Teil unserer Chromosomen, der mit dem Alter kürzer wird und zerfranst – im Weltraum besser wurden im Vergleich zu seinen am Boden. Die Hypothese war eigentlich, dass das Gegenteil passieren würde: Seine sollten besser werden, da ich in einer Umgebung mit Strahlung lebte. Unser Mikrobiom, die Zellen in unserem Verdauungssystem, verändert sich im Weltraum ebenfalls.
Tages Menschen zum Roten Planeten reisen werden? Und was hat Ihr Jahr im Weltraum Sie über die Herausforderungen gelehrt, die uns bevorstehen?
Absolut! Wir könnten schon jetzt zum Mars fliegen, wenn wir das Geld und die politische Unterstützung hätten. Eines der Probleme, das wir lösen müssen, ist die Strahlung. Wenn man sich vom Magnetfeld der Erde entfernt, verliert man einen großen Teil des Strahlenschutzes unseres Planeten. Es gibt Lösungsmöglichkeiten, zum Beispiel das Abschirmen mit Wasser oder die Erzeugung eines Magnetfelds um das Raumschiff herum. Aber es ist nicht einfach.
Ein anderes großes Problem ist Kohlendioxid. Unsere Fähigkeit, die CO2-Konzentration auf Erdniveau zu halten, ist im Weltraum eine große technologische Herausforderung. Dafür muss unsere Hardware das CO2 auf eine effiziente Weise aus der Luft filtern, und das ist eine Herausforderung, da unsere Hardware dafür längere Zeit laufen muss. Das [CO2] verursacht Kopfschmerzen und Verstopfung. Wenn die Konzentration zu hoch wird, kann man sich manchmal nicht mehr richtig konzentrieren. Das müssen wir lösen, wenn wir zum Mars wollen.
Gegen Ende Ihres Buches listen Sie ein paar Dinge auf, die Sie während Ihres Jahres im Weltraum gelernt haben. Geben Sie uns ein paar Beispiele.
Das Wichtigste, was ich als Teil des Space Station-Programms gelernt habe, ist, dass wir alles erreichen können, wenn Länder auf kooperative Weise zusammenarbeiten und wir unsere besten Leute und Ressourcen für etwas aufwenden. Wenn wir eines Tages beschließen, zum Mars zu reisen, dann können wir das und andere schwierige Dinge schaffen. Wir können alles schaffen, wenn wir es uns in den Kopf setzen.
Ein anderes wichtiges Thema des Buches ist, dass man sich schwer damit tun kann, seinen Weg zu finden. Aber wenn man etwas findet, für das man brennt, irgendein Funke, der einen fest entschlossen einem Ziel entgegenstreben lässt, dann kann selbst jemand wie ich, der als Kind ADS hatte, erfolgreich sein.
Dieses Interview wurde zugunsten von Länge und Deutlichkeit redigiert.