Neue Therapie lässt Querschnittsgelähmte wieder laufen

Infolge einer Reizstromtherapie erhielten drei Probanden die Kontrolle über ihre Beinmuskulatur zurück.

Von Emily Mullin
Veröffentlicht am 6. Nov. 2018, 14:13 MEZ
Eine Fotomontage zeigt den Patienten David Mzee, der nach einer neuen Reizstromtherapie wieder laufen konnte.
Eine Fotomontage zeigt den Patienten David Mzee, der nach einer neuen Reizstromtherapie wieder laufen konnte.
Foto von Hillary Sanctuary, EPFL

Drei Männer, die von der Hüfte abwärts gelähmt waren, können dank einer neuen Reizstromtherapie wieder laufen. Vor etwas mehr als vier Jahren hatten sich alle drei Männer an der Wirbelsäule verletzt und die Kontrolle über ihre Beine größtenteils oder vollständig verloren.

Mit Hilfe eines ferngesteuerten Implantats, das elektrische Impulse aussendet, stimulierten Forscher in der Schweiz die Wirbelsäulen der Patienten. Binnen einer Woche nach Behandlungsbeginn konnten die Männer aufstehen und mit ihren Gehhilfen umherlaufen. Nach fünf Monaten Physiotherapie und Training mit der neuen Technologie konnten alle drei Patienten ihre Beinmuskulatur eigenständig kontrollieren und bis zu einer Stunde lang laufen, ohne Anzeichen von Muskelerschöpfung zu verspüren.

Die Ergebnisse, die im Oktober im Fachmagazin „Nature“ erschienen, folgten auf zwei Berichte aus dem Vormonat über ähnliche Therapien, die es Patienten mit schweren Rückenmarksverletzungen ermöglichten, zum ersten Mal seit Jahren wieder zu laufen. Ein Team der University of Louisville berichtete im September, dass zwei Patienten durch eine Neurostimulation der Wirbelsäule wieder selbstständig stehen und unter Zuhilfenahme von Gehhilfen laufen konnten. Eine weitere, am selben Tag veröffentlichte Studie von Forschern der Mayo Clinic zeigte, dass ähnliche Ergebnisse bei einem anderen Patienten erzielt wurden.

In diesen ersten beiden Fällen waren die Implantate auf ein bestimmtes Stimulationsmuster voreingestellt. Für die aktuellste Studie entwickelte der Hauptautor Grégoire Courtine, ein Neurologe der ETH Zürich, eine Smartphone-App, über die die Stimulation in Echtzeit mit einem Tablet kontrolliert werden konnte. Ein solches Gerät könnte es Patienten ermöglichen, ihre Therapie auch jenseits eines Forschungsszenarios von zu Hause aus zu kontrollieren, sagt Courtine.

Diese ersten Ergebnisse „stimmen uns sehr zuversichtlich, dass das eine echte Lösung ist und selbst Menschen mit einer vollständigen Lähmung so wieder laufen können“, sagt Chet Moritz, ein Professor für rehabilitative Medizin der University of Washington. Moritz schrieb in „Nature“ ein begleitendes Editorial zu der aktuellsten Studie.

Neue alte Verbindungen

Die meisten Menschen müssen übers Gehen gar nicht nachdenken. Unser Gehirn macht für uns die Arbeit und sendet Signale durch das Rückenmark zu unserer Beinmuskulatur. Bei Menschen mit schweren Rückenmarksverletzungen ist dieser Kommunikationskanal blockiert, da die Nerven dort geschädigt sind.

Wissenschaftler hatten jedoch darauf gehofft, dass man diese Nervenbahnen wieder reparieren könnte, indem man die neuronalen Verknüpfungen in der Wirbelsäule anspricht. Diese Verknüpfungen enthalten auch Verbindungen zu der Zielmuskulatur in den Beinen. Da ihre Signale durch Verletzungen blockiert werden, zielen einige Behandlungsformen darauf ab, die Nervenbahnen unterhalb der Verletzung zu stimulieren.

„Die Nervenbahnen sind weitgehend noch intakt und funktionsfähig“, erklärt Chad Bouton, der Direktor des Zentrums für bioelektronische Medizin am Feinstein Institute for Medical Research in New York, der an der aktuellsten Studie nicht beteiligt war. „Wenn man sie stimuliert, kann man versuchen, eine Bewegung auszulösen.“

Im Rahmen von Courtines Studie wurden den drei Teilnehmern je 16 kleine Elektroden im unteren Bereich ihrer Wirbelsäule implantiert. Jede Elektrode wurde so platziert, dass sie eine bestimmte Muskelgruppe in den Beinen aktiviert. Im Bauchraum wurde ein kleines Gerät eingesetzt, welches die elektrischen Impulse generiert und mit dem alle Elektroden verbunden sind. Das Gerät wird von Medtronic hergestellt und wird bereits zur Hirnstimulation bei Parkinson-Patienten eingesetzt. Die drei Männer erhielten außerdem tragbare Sensoren – einen pro Fuß –, der zusätzliche Stimulation lieferte.

Überraschend war vor allem, dass zwei der drei Männer ihre Beinmuskulatur weiterhin kontrollieren konnten, nachdem die elektrischen Impulse wieder deaktiviert wurden. Das deutet darauf hin, dass die Stimulation die Verbindungen zwischen dem Gehirn und der Wirbelsäule umlenken könnte, wie Moritz sagt. Irgendwann könnte es möglich sein, die Nervenverbindungen soweit wiederherzustellen, dass keine Stimulation mehr nötig ist.

„Wir glauben, dass der Stimulator wie eine Art Hörgerät oder ein Verstärker für die Wirbelsäule fungiert“, so Moritz. „Er dreht die Lautstärke hoch, also die Erregbarkeit der Nervenverbindungen unterhalb der Verletzung.“

Mehr als laufen

Allerdings befindet sich die Anwendung von Neurostimulation bei Lähmungen noch in einer frühen Phase und die Wissenschaftler wissen noch nicht genau, wie sich die Bewegungsfähigkeit damit wiederherstellen lässt, sagt Kristin Zhou. Die Wissenschaftlerin der Mayo Clinic hat eine der Studien aus dem September verfasst.

„Man vermutet, dass ein Befehl für eine Bewegung vom Gehirn an die unteren Extremitäten geht und dass die Stimulation irgendwie dazu beiträgt, dass der Befehl ausgeführt werden kann“, sagt sie. Derzeit experimentieren Forscher bei der Stimulation mit verschiedenen Mustern, Intervallen und Intensitäten, um die besten Ergebnisse zu erzielen.

Courtine und sein Team benutzten das Tablet, um das Stimulationsmuster zu aktivieren und zu deaktivieren, je nachdem, wo sich die Füße des Patienten in Relation zum Boden gerade befanden. Sie vermuten, dass dieses wiederholte Auslösen der Stimulation in Echtzeit besser funktioniert als eine durchgehende Stimulation. In einer zweiten Studie, die Courtines Forschungsgruppe in „Nature Neuroscience“ veröffentlichte, zeigte sich, dass eine durchgehende Stimulation die Propriozeption des Probanden beeinträchtigen könnte – in dem Fall also sein Gefühl dafür, wo und in welcher Position sich seine Beine gerade befinden.

Auch wenn die Ergebnisse vielversprechend wirken, dürfe man Moritz zufolge nicht außer Acht lassen, dass Querschnittsgelähmte auch andere Bedürfnisse haben. Aus einer Umfrage von Professor Kim Anderson der Case Western Reserve University aus dem Jahr 2004 ging hervor, dass die Fähigkeiten zu laufen für Menschen mit Rückenmarksverletzungen erst auf Platz vier der Prioritätenliste steht. Wichtiger waren den Betroffenen ihre sexuelle Funktion, Kontrolle über Blase und Darm sowie die Fähigkeit, ihre Körperhaltung selbst zu kontrollieren.

Glücklicherweise gibt es Anzeichen dafür, dass Neurostimulation auch bei diesen Problemen Abhilfe schaffen könnte. Aktuell wird die Behandlung aber nur an wenigen ausgewählten Patienten unter dem Gesichtspunkt der Forschung angewendet. In Zukunft könnten solche Stimulatoren aber die kostengünstigste Methode zur Wiederherstellung der Muskelbewegung darstellen, sofern sie nach einer erfolgten Verletzung schnellstmöglich angewendet werden.

 

Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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