Beinahe vergessen: Die Frau, die eine Leprabehandlung entwickelte
Alice Ball war noch keine 25 Jahre alt, als sie starb, aber ihre Forschung revolutionierte auf der ganzen Welt die Behandlung von Lepra.
Im Jahre 1916 hatte der Assistenzchirurg Harry T. Hollmann am Kalihi Hospital in Hawaii ein Problem, das er lösen musste.
Das Kalihi gehörte zu einer Handvoll von Einrichtungen in Hawaii, die Patienten mit der Hansen-Krankheit behandelten – auch bekannt als Lepra. Die Ausprägung dieser chronischen Infektionskrankheit kann stark variieren, angefangen bei kaum sichtbaren Läsionen der Haut bis hin zu regelrechten Entstellungen.
Das Bakterium, welches die Krankheit auslöst, wurde 1873 identifiziert. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte man einige Behandlungsmöglichkeiten entwickelt, die größtenteils auf Chaulmoogra-Öl basierten. Die Substanz wird aus den Samen eines tropischen immergrünen Baumes gewonnen. Das Öl wurde auf der Haut aufgetragen, geschluckt oder intravenös verabreicht. Bei den Patienten stellte sich dann zwar eine Besserung ein, die Ergebnisse variierten aber stark. Zudem gab es unangenehme Nebeneffekte wie Übelkeit und Abszesse unter der Haut.
Für eine bestmögliche Behandlung bräuchte man eine Lösung aus den aktiven Bestandteilen des Übels, die ohne Nebenwirkungen injiziert werden könnte. Also kontaktierte Hollmann eine Chemikerin vom College of Hawaii (heute die University of Hawaii), deren Arbeit ihn beeindruckt hatte.
Alice Augusta Ball sollte bald darauf Medizingeschichte schreiben, indem sie eine Behandlung für Lepra entwickelte, die über zwanzig Jahre lang genutzt wurde.
„Balls Entdeckung half sehr dabei, die Schmerzen der Patienten zu lindern“, sagt James P. Harnisch von der Hansen’s Disease Clinic am Harborview Medical Center in Seattle. Er ist auf Infektionskrankheiten und Dermatologie spezialisiert. „Dass sie damals als schwarze Frau so viel erreichte und solche Fortschritte auf diesem Gebiet machte, ist an und für sich schon bemerkenswert.“
Zur Chemikerin geboren
Ball wurde am 24. Juli 1892 in Seattle im US-Bundesstaat Washington als drittes von vier Kindern geboren. In ihrer Familie gab es mehrere Fotografen, darunter auch ihr Großvater J. P. Ball, Sr. Er war einer der ersten Afroamerikaner in den USA, der die Kunst der Daguerreotypie erlernte, der ersten erfolgreichen Form der Fotografie. Man kann sich gut vorstellen, wie Alice in ihrer Kindheit den komplexen Daguerreotypieprozess beobachtete und ein Interesse an Chemie entwickelte.
Im Jahr 1902 zog ihre Familie nach Honolulu in der Hoffnung, dass das mildere Klima den Gesundheitszustand ihres Großvaters verbessern würde. Allerdings starb er zwei Jahre später und die Familie zog nach Seattle zurück, wo Ball pharmazeutische Chemie und Pharmazie an der University of Washington studierte.
Nach ihrem Abschluss kehrte sie für weitere Studien nach Hawaii zurück, wo sie als erste Frau und erste Afroamerikanerin einen Master in Chemie vom College auf Hawaii erhielt. Das Thema ihrer Abschlussarbeit macht deutlich, warum Hollmann ausgerechnet ihre Hilfe suchte: Sie befasste sich mit der Identifizierung der aktiven Bestandteile einer anderen Pflanze, der Kava.
Beinahe vergessen
Allen Berichten zufolge arbeitete Ball unermüdlich, unterrichtete tagsüber und beschäftigte sich in jeder freien Minute mit dem Chaulmoogra-Problem. Nach nicht einmal einem Jahr hatte sie bereits eine Möglichkeit gefunden, eine auf Wasser basierende Lösung der aktiven Komponenten des Öls zu erzeugen, die mit nur minimalen Nebeneffekten injiziert werden konnte.
Bedauerlicherweise erhielt Ball keine Möglichkeit, ihre Ergebnisse zu publizieren. Kurz nach der Entdeckung erkrankte sie. Im Herbst 1916 kehrte sie nach Seattle zurück, wo sie am 31. Dezember im Alter von nur 24 Jahren starb. Ein Zeitungsartikel des „Honolulu Pacific Commercial Advertiser“ aus dem Jahre 1917 berichtete: „Während sie ihre Klasse im September 1916 unterrichtete, erlitt Miss Ball eine Chlorvergiftung.“ Damals waren Abzugshauben in Labore noch keine Pflicht.
Nach ihrem Tod führte der Präsident des Colleges, Arthur L. Dean, ihre Arbeit weiter, und schon bald gab es eine große Nachfrage an den Chaulmoogra-Injektionen, die weltweit zur Behandlung von Lepra eingesetzt wurden. Die Injektion wurde zum zuverlässigsten Weg, um die Krankheit unter Kontrolle zu bringen, bis in den 1940ern neue Medikamente entwickelt wurden.
Allerdings erwähnte Dean Balls Rolle bei der ursprünglichen Entdeckung nie. Womöglich wäre ihr Name in Vergessenheit geraten, wenn Hollmann im Jahre 1922 in einer medizinischen Fachzeitschrift nicht deutlich gemacht hätte, dass Ball die Chaulmoogra-Lösung entwickelt hatte, indem er sie als „Ball-Methode“ bezeichnete.
In den letzten 20 Jahren hat sie ihre längst überfällige Anerkennung endlich erhalten. Im Jahr 2000 brachte die University of Hawaii unter ihrem einzigen Chaulmoogra-Baum eine Gedenkplakette für Ball an, und Lt. Governor Mazie Hirono erklärte den 29. Februar zum Alice Ball Day. 2007 zeichnete der Verwaltungsrat der Universität sie postum mit einer Ehrenmedaille aus. Erst letztes Jahr wurde das Alice Augusta Ball-Stipendium der University of Hawaii in Manoa eingerichtet, welches Studenten der Chemie, Biochemie, Biologie oder Mikrobiologie zur Verfügung steht, „die jene Charaktereigenschaften verkörpern, die Ball in ihren Forschungen und Studien zeigte“.
Von der Behandlung zur Vorbeugung
Heutzutage ist Lepra mithilfe von Medikamenten und diversen Antibiotika vollständig heilbar.
Dennoch herrschen in der Öffentlichkeit noch immer falsche Vorstellungen über die Krankheit, erzählt Harnisch. Er und seine Angestellten am Harborview müssen ihren Patienten dabei helfen, diese Missverständnisse zu beseitigen.
„Manche Leute haben noch immer diese biblische Vorstellung von Lepra und dem damit verbundenen Stigma. Sie glauben mitunter, dass die Leute weggesperrt oder isoliert werden“, erzählt Harnisch. „Also sagen wir ihnen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen, dass es in Ordnung, ist Menschen anzufassen, Kinder zu haben und sich zu küssen. Etwa 95 Prozent aller Menschen auf der Welt haben eine Resistenz gegen die Bakterien. Es ist also wirklich enger Kontakt über einen langen Zeitraum nötig, um sich mit der Krankheit zu infizieren.“
Mit einem Impfstoff könnte man der Krankheit vorbeugen.
„Im Laufe der Jahre wurden viele Impfstoffe getestet und haben versagt. Im Moment befindet sich ein Impfstoff eines lokalen Biotechnologieunternehmens in Brasilien aber in seiner ersten Testphase und sieht vielversprechend aus“, sagt Harnisch.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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