Das Gedächtnis: So formen und vergessen wir Erinnerungen

Das Erinnern ist eine enorme Gedächtnisleistung, an der viele Teile des Gehirns gleichzeitig beteiligt sind. Manche Erinnerungen bleiben uns länger erhalten als andere.

Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 5. März 2019, 17:26 MEZ

Vom Moment unserer Geburt an wird unser Gehirn von gewaltigen Mengen an Informationen über uns selbst und unsere Umwelt bombardiert. Wie schaffen wir es da, all das, was wir gelernt und erlebt haben, zu behalten? Die Antwort liegt in unseren Erinnerungen.

Das Gedächtnis: ein Akteur mit vielen Komponenten

Egal, ob auf dem Friedhof oder einer anderen Gedenkstätte: Erinnerungen sind wichtig – sowohl für das Individuum, als auch für unsere Gesellschaft. Vor allem in Deutschland wird der Erinnerungskultur ein hoher Stellenwert zugeschrieben. Das kollektive Gedächtnis dient der Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsgestaltung zugleich.

Menschen können verschiedene Arten von Erinnerungen unterschiedlich lang behalten. Zudem nutzen Männer und Frauen unterschiedliche Hirnareale, um sich zu erinnern. Das Kurzzeitgedächtnis speichert Informationen nur für wenige Sekunden ab, während Erinnerungen im Langzeitgedächtnis viele Jahre lang erhalten bleiben können. Darüber hinaus verfügen wir über ein Arbeitsgedächtnis, das es uns ermöglicht, Informationen für eine bestimmte Zeitspanne im Kopf zu behalten. Wenn man beispielsweise eine Telefonnummer mehrfach wiederholt, um sie sich einzuprägen, nutzt man das Arbeitsgedächtnis.

Erinnerungen können aber auch thematisch oder nach dem Grad ihres bewussten Erlebens kategorisiert werden. Das deklarative Gedächtnis besteht aus Erinnerungen an jene Ereignisse, die wir bewusst wahrgenommen haben. Das können beispielsweise Fakten oder Allgemeinwissen sein – die Hauptstadt von Portugal (Lissabon) oder die Anzahl von Spielkarten in einem Standarddeck (52) –, aber auch vergangene Ereignisse wie eine Geburtstagsfeier.

Das prozedurale Gedächtnis baut sich hingegen unbewusst aus. Hier werden automatisierte Handlungsabläufe gespeichert. Wer beispielsweise ein Instrument spielt oder mit dem Auto oder Fahrrad fährt, bei dem sorgt das prozedurale Gedächtnis dafür, dass gewisse Abläufe zu regelrechten Automatismen werden. Zudem kann es auch die unbewussten Reaktionen des Körpers formen: die erhöhte Speichelproduktion beim Anblick leckerer Speisen oder die Anspannung beim Anblick von Dingen, vor denen man sich fürchtet.

Insgesamt lässt sich das deklarative Gedächtnis leichter formen als das prozedurale. Die Hauptstadt eines Landes kann man sich schnell einprägen, aber um ein Instrument zu erlernen, ist deutlich mehr Zeit nötig. Allerdings bleiben die Erinnerungen des prozeduralen Gedächtnisses leichter erhalten. Wenn man einmal gelernt hat, wie man Fahrrad fährt, vergisst man es nicht so schnell wieder.

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    Um zu verstehen, wie wir uns an Dinge erinnern, ist es enorm hilfreich sich anzusehen, wie wir Dinge vergessen. Aus diesem Grund erforschen Neurowissenschaftler Amnesie – den Verlust von Erinnerungen oder der Fähigkeit, Neues zu lernen. Für gewöhnlich resultiert eine Amnesie aus einem Hirntrauma, das beispielsweise durch eine Kopfverletzung, einen Schlaganfall, einen Hirntumor oder chronischen Alkoholismus zustande kommen kann.

    Es gibt zwei Hauptformen der Amnesie: Die erste ist die retrograde Amnesie, bei der sich Betroffene nicht mehr an Ereignisse erinnern können, die vor dem Trauma stattfanden. Bei der anterograden Amnesie können nach dem Trauma keine neuen Erinnerungen mehr gespeichert werden.

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    Die berühmteste Fallstudie zur anterograden Amnesie betraf Henry Molaison, der sich 1953 aufgrund schwerer epileptischer Anfälle einen Teil seines Gehirns entfernen ließ. Obwohl sich Molaison danach an vorherige Ereignisse erinnern konnte, konnte er keine neuen Erinnerungen mehr in seinem deklarativen Langzeitgedächtnis speichern. Die Leute, die über Jahrzehnte hinweg mit ihm arbeiteten, mussten sich bei jedem Besuch neu vorstellen.

    Indem Forscher Menschen wie Molaison und Tiere mit unterschiedlichen Arten von Hirnschäden untersuchen, können sie nachvollziehen, wie verschiedene Arten von Erinnerungen im Gehirn entstehen. Aktuell scheint es so, als würden sich Kurzzeit- und Langzeiterinnerungen nicht auf exakt die gleiche Weise bilden, ebenso wie deklarative und prozedurale Erinnerungen.

    Außerdem gibt es im Gehirn keinen einzelnen Ort, an dem alle Erinnerungen gespeichert werden. Verschiedene Bereiche bilden und speichern verschiedene Arten von Erinnerungen, und bei jeder davon können unterschiedliche Prozesse am Werk sein. Emotionale Reaktionen wie Angst hängen beispielsweise eng mit jener Hirnregion zusammen, die als Amygdala bezeichnet wird. Erinnerungen an erlernte Fähigkeiten werden wiederum mit dem Striatum assoziiert. Der Hippocampus spielt eine entscheidende Rolle beim Entstehen, Speichern und Abrufen deklarativer Erinnerungen. Der Temporallappen – jene Hirnregion, von der sich Molaison ein Stück entfernen ließ – ist für die Bildung und das Abrufen von Erinnerungen ausschlaggebend.

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    Erinnerungen: Bilden, speichern, abrufen

    Seit den 1940ern vermuten Wissenschaftler, dass Erinnerungen in Neuronengruppen gespeichert werden, die man auch als Zellverbände bezeichnet. Diese vernetzten Zellen feuern gemeinsam in Reaktion auf einen Stimulus, beispielsweise das Gesicht eines Freundes oder der Geruch von frisch gebackenem Brot. Je öfter die Neuronen gemeinsam feuern, desto stärker wird ihre Verbindung zueinander. Wenn die Zellen dann in Zukunft von einem Stimulus getriggert werden, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass der gesamte Zellverband reagiert. Die kollektive Aktivität der Nerven transkribiert dann das, was wir als Erinnerung erleben. Noch wissen die Forscher nicht genau, wie dieser Prozess im Detail funktioniert.

    Damit aus einer Kurzzeiterinnerung eine Langzeiterinnerung wird, muss sie gestärkt werden, um langfristig gespeichert zu werden. Diese Konsolidierung wird vermutlich durch mehrere Prozesse erreicht. Bei der Langzeit-Potenzierung werden einzelne synaptische Verbindungen abgewandelt. Durch diese langfristige Veränderung der Verschaltungen zwischen den Synapsen können Erinnerungen stabilisiert werden. Bei allen Tieren, die über ein Langzeitgedächtnis verfügen, ist auch diese grundlegende Zellmaschinerie vorhanden.

    Wissenschaftler konnten sich die Details der Langzeit-Potenzierung durch Studien an Kalifornischen Seehasen erschließen. Allerdings müssen nicht zwingend alle Langzeiterinnerungen als Kurzzeiterinnerungen beginnen.

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    Das Gedächtnis will erforscht werden

    Wenn wir eine Erinnerung abrufen, kommunizieren unterschiedliche Teile unseres Gehirns miteinander, darunter auch Regionen in der Großhirnrinde, die für die Informationsverarbeitung zuständig sind; Regionen, die unsere Sinneseindrücke verarbeiten; und der mediale Teil des Temporallappens, der bei der Koordination des Prozesses behilflich zu sein scheint. Eine aktuelle Studie untersuchte das Abrufen neu entstandener Erinnerungen beim Menschen: Die Forscher fanden heraus, dass sich im Moment des Erinnerns die Wellen der Nervenaktivität im medialen Temporallappen mit den Wellen in der Großhirnrinde synchronisieren.

    Dennoch bleiben viele Geheimnisse des Gedächtnisses noch ungelüftet. Wie genau werden Erinnerungen innerhalb von neuronalen Gruppen kodiert? Wie weit sind jene Nervenzellen über das Gehirn verteilt, die eine bestimmte Erinnerung kodieren? Inwiefern entspricht unsere Hirnaktivität unserem Erleben von Erinnerungen? Diese Forschungsbereiche könnten eines Tages neue Einblicke in die Funktionen des Gehirns und die Behandlung von Amnesien liefern.

    Aktuelle Forschungen haben beispielsweise gezeigt, dass manche Erinnerungen bei jedem Abrufen erneut konsolidiert werden müssen. Das würde bedeuten, dass der Akt des Erinnerns eine bestimmte Erinnerung zeitweise formbar machen würde – sie könnte dann je nach Bedarf gestärkt, geschwächt oder sonst wie verändert werden. Während einer solchen Rekonsolidierung könnten Erinnerungen also leichter gezielt behandelt werden, was auch bei der Behandlung von psychischen Erkrankungen wie einer Posttraumatischen Belastungsstörung genutzt werden könnte.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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