Kreidezeit zum Anfassen: Eine Fossilfundstelle reist nach Deutschland
Im Rahmen eines einzigartigen Projekts lässt das Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt ein über 40 Tonnen schweres Bonebed aus den USA einschiffen, um es live freizulegen.
In einer Glasvitrine mitten in Deutschland liegen die Überreste eines Dinosauriers in dramatisch verdrehter Pose. Der nach hinten gebogene Hals und die vom Rumpf abgespreizten Vordergliedmaßen erinnern ein wenig an die fast schwerelosen Bewegungen, mit denen urzeitliche Giganten wie die Ichthyosaurier einst durch die Meere glitten.
Doch die Riesenechse im Senckenberg Naturmuseum in Frankfurt am Main war ein Edmontosaurus und damit ein Landbewohner. Der tonnenschwere Pflanzenfresser – nennen wir ihn Edmond – stampfte gegen Ende der Kreidezeit durch die Weiten des heutigen Mittleren Westens der USA, bevor er auf bislang ungeklärte Weise starb.
Etwa 70 Millionen Jahre nach seinem Ableben wurde der versteinerte Kadaver, der durch glückliche Wetterumstände auf natürliche Weise mumifizierte, wiederentdeckt. Es war ein sensationeller Fund: Anders als bei den meisten anderen Fossilien war das Skelett nicht in einzelne Knochen zerfallen, sondern noch vollständig artikuliert, fast vollständig erhalten und in einer lebensnahen, dreidimensionalen Körperhaltung eingeschlossen worden. Viel bemerkenswerter waren jedoch die detaillierten Hautabdrücke rund um das Fossil, die ihm den Status einer Dinosauriermumie einbrachten.
Eine Schatzkammer der Paläontologie
Die Schichten der Lance-Formation in Wyoming, aus denen Edmonds Fossil stammt, bergen einen großen Reichtum an solchen paläontologischen Schätzen. Zwar gibt es etliche Einzelfunde von dort, aber wie genau die Welt dieser urzeitlichen Tiere eigentlich aussah, ist nach wie vor ein Rätsel.
In Partnerschaft mit dem Wyoming Dinosaur Center Thermopolis setzte das Senckenberg Naturmuseum mit Förderung der Lipoid-Stiftung deshalb ein weltweit einmaliges Projekt um.
Ein etwa 20 Quadratmeter großer Gesteinsblock der Lance-Formation, der reich an fossilen Knochen und anderen Zeugnissen der Urzeit ist, wurde ausgehoben, nach Frankfurt transportiert und dort vor dem Museum direkt vor den Augen der Besucher präpariert. National Geographic begleitete das Unterfangen von Beginn an und berichtete dabei nicht nur über die Bergung des Bonebeds und den Transport nach Frankfurt, sondern stellte auch die beteiligten Forscher vor und berichtete und regelmäßig über die Funde und den Verlauf der Freilegung.
Damit sollen der Öffentlichkeit nicht nur die paläontologische Forschung zum Greifen nahegebracht, sondern auch bisher ungeklärte wissenschaftliche Fragestellungen beantwortet werden: Wie sah das Ökosystem der Dinosaurier von Wyoming vor rund 70 Millionen Jahren aus, als die CO2-Konzentration in der Atmosphäre deutlich höher war als heutzutage? Wie lebten und starben die riesigen Tiere, wer fraß wen und welche Herausforderungen mussten sie in ihrem tagtäglichen Überlebenskampf bewältigen, bis das Zeitalter der Dinosaurier vor etwa 66 Millionen Jahre mit einem Schlag endete?
Urzeitliche Menagerie
Die ersten Arbeiten an dem Projekt begannen bereits 2018, als eine geeignete Entnahmestelle ausfindig gemacht wurde. Erste Proben wurden genommen und die Gesteinsabfolge dokumentiert. Bereits bei dieser Probenanalyse offenbarte sich die überwältigende Vielfalt an Funden, die hier im Boden lagern.
Neben zahlreichen gut erhaltenen Edmontosaurus-Knochen enthält die Fundstelle Überreste von Tyrannosauriern und Triceratops sowie von Krokodilen und Sumpfschildkröten. Auch Zähne kleiner Reptilien und früher Säugetiere lassen Rückschlüsse auf den Artenreichtum der Oberkreide zu. Da das Gebiet in der Kreidezeit im Einflussbereich eines Binnenmeeres lag, überraschen auch die Zahnfunde prähistorischer Haie in den Sedimenten nicht. Neben der tierischen Menagerie entdeckten die Forscher zudem Reste von Holzkohle und Blattfloren sowie Bernstein und Pollen.
Galerie: Die Ausgrabungsstätte
Diese hohe Konzentration an Funden ist den sandigen und tonigen Ablagerungen eines urzeitlichen Flusssystems zu verdanken, die sich im oberen Drittel der Lance-Formation sammelten. Sie ermöglicht die umfassende Rekonstruktion einer kreidezeitlichen Welt, die uns wie kaum ein anderes Erdzeitalter fasziniert.
Eine Fundstelle reist um die Welt
Wie aber gelangte das 20 Quadratmeter große und 40 bis 50 Tonnen schwere Bonebed von Wyoming nach Deutschland?
Die erste Phase begann Anfang Juni 2019. Zunächst wurde rund um die abgesteckte Fundstelle ein etwa ein Meter tiefer Graben gebaggert. Das Bonebed, das zu groß für einen Transport am Stück ist, wurde zur Stabilisierung mit Kunstharz präpariert, in Quadranten unterteilt und mit leistungsstarken Diamantkettensägen in Stücke geschnitten. Die so entstehenden Blöcke wurden im Anschluss für den Transport vorbereitet und gingen mit einem Containerschiff auf Reise in Richtung Deutschland. Im Herbst kam die wertvolle Fracht schließlich am Hamburger Hafen an und reiste von dort nach Frankfurt weiter.
Auch wenn solche Blockbergungen bei Ausgrabungen keine Seltenheit sind, ist dieser Fundstellentransport aufgrund der Größe des geborgenen Blocks ein bislang einzigartiges Unterfangen.
Vor dem Senckenberg Naturmuseum, das zu den größten Naturkundemuseen in ganz Europa zählt, wird die Fundstelle dann in einer extra dafür aufgebauten Einhausung – geschützt vor Wind und Wetter – seit April 2020 live freigelegt. An verschiedenen Stationen können Besucher mehr über das wissenschaftliche Arbeiten mit solchen Funden lernen, das kreidezeitliche Ökosystem und seine Bewohner entdecken und sich an einem eigenen Klopfplatz sogar selbst auf die Suche nach Fossilien begeben.
Die Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung, zu der neben drei Naturkundemuseen auch sieben Forschungsinstitute gehören, zählt heute zu den wichtigsten Forschungsinstitutionen, die sich mit der biologischen Vielfalt befassen. Mit dem aktuellen Bonebed-Grabungsprojekt kommt die Gesellschaft ihrer proklamierten Aufgabe nach, „Naturforschung zu betreiben und die Ergebnisse der Forschung durch Veröffentlichung, durch Lehre und durch ihre Naturmuseen der Allgemeinheit zugänglich zu machen“
Seit vielen Monaten entlocken Forscher den 2018 entnommenen Grabungsproben ihre Geheimnisse und setzen das Bild des prähistorischen Ökosystems wie ein Puzzle Stück für Stück zusammen. Im Bonebed haben die Forscher mittlerweile schon zahlreiche fossile Zähne und Knochen von Edmontosaurus und vielen anderen Dinosauriern entdeckt. Was genau sich noch alles im Inneren des Sedimentblocks noch verbirgt, darauf sind sie aber genauso gespannt wie die künftigen Museumsbesucher.
In seinem Schaukasten im Museum muss der einsame Edmond womöglich also nicht mehr allzu lange warten, bis er ein paar vertraute Gesichter wiedersieht.
Dieser Artikel wurde am 16.04.2021 aktualisiert, um den aktuellen Stand der Grabungen widerzuspiegeln.
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