Warum Hefe helfen könnte, die Evolution zu entschlüsseln

Wie entwickelten sich aus Einzellern komplexe mehrzellige Organismen? Seit fast einem Jahrzehnt wird dieser Frage im Rahmen einer Langzeitstudie mit Hefe nachgegangen – ein Ende der Forschung ist nicht in Sicht.

Im Rahmen einer neuen Forschungsreihe wurde beobachtet, wie aus wenigen Zellen mehr als 400.000 wurden: kleine Hefe-Cluster entwickelten sich zu großen Klumpen. Sie setzen sich aus mehrzelligen, verzweigten Gebilden zusammen.

Foto von Ozan Bozdag
Von Michael Greshko
Veröffentlicht am 22. Sept. 2021, 10:40 MESZ

Wohin wir auch blicken, wir sind umgeben von mehrzelligem Leben: von Pilzen und Bäumen in unseren Wäldern bis hin zu den Fischen und dem Seegras im Ozean. Doch derartig komplexe Organismen wie die heutigen Pflanzen, Tiere, Algen und Pilze existieren auf der Erde erst seit relativ kurzer Zeit. Der größte Teil der 3,5 Milliarden Jahre, in denen es nun Leben auf diesem Planeten gibt, stand unter der Vorherrschaft der Einzeller.

Es ist eine noch immer ungeklärte Frage, wie genau diese Einzeller sich zu dem entwickelten, was Charles Darwin als „endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen“ bezeichnete. Wie die ersten Zellen sich miteinander verbanden und wie sie lernten, als ein Organismus zusammenzuarbeiten, der aus Millionen, Milliarden oder Billionen von Zellen besteht – es ist ein Rätsel.

Bislang, denn ein bescheidener kleiner Pilz könnte nun die entscheidende Lösung liefern. Die Rede ist von Hefe. Um die möglichen Ursprünge mehrzelliger Strukturen zu erforschen, haben Forscher am Georgia Institute of Technology in Atlanta Experimente durchgeführt, in deren Rahmen sich mehrzellige Hefeklumpen entwickelten, die teilweise aus hunderttausenden Zellen bestanden – und damit die größten ihrer Art sind. Die Studie wurde der Zeitschrift „Nature“ angeboten und vorab im Internet veröffentlicht. Die Forschungen gehen jedoch weiter.

Durchschnittlich setzen sich die Hefeklumpen der Forschungsreihe, von denen manche Durchmesser von mehreren Millimetern erreichten, aus ungefähr 450.000 Zellen zusammen. Im Laufe ihrer Evolution verändert sich auch ihre Textur: Zu Beginn ist die Hefe hundertmal flüssiger als Gelatine, gegen Ende so hart wie Holz. Grund dafür ist das in sich verwobene Gerüst aus Zellen, aus denen die Klumpen aufgebaut sind. „Eine Überraschung jagt die nächste“, sagt der Co-Autor der Studie, Will Ratcliff, Evolutionsbiologe am Georgia Institute of Technology. „Das ist die coolste Studie, an der ich je gearbeitet habe.“

Die Hefe-Cluster der ersten Generation (links) waren so klein, dass sie in Flüssigkeit kaum zu erkennen waren. Nach 600 Tagen Evolution im Labor bildeten folgende Generationen (rechts) sichtbar größere Klumpen.

Foto von Ozan Bozdag und William C. Ratcliff

Die beeindruckende Transformation der Hefe im bisherigen Verlauf des Experiments ist auch ein Beleg dafür, wie stark natürliche Selektion die Entwicklung von Leben beeinflusst. Die Forschungsreihe ist auf eine Laufzeit von mehreren Jahren ausgelegt, sodass sie Forscher, die die Nachkommen der Ursprungshefe untersuchen, irgendwann in die Lage versetzen könnte, die Entstehung komplexer Organismen auf der Erde nachzuvollziehen.

Vielzeller brauchen Stabilität

Mehrzellige Organismen, die aus wenigen hundert Zellen bestehen und sich als Bälle oder in Schichten zusammenschließen, sind in der Geschichte der Evolution keine Seltenheit – die Wimperkugel, eine Grünalge, deren Kolonien hohle Kugeln bilden, ist nur ein Beispiel. Es existieren aber nur sechs Gruppen von Lebewesen, die aus komplexen mehrzelligen Strukturen bestehen: Pflanzen, Tiere und jeweils zwei Gruppen von Pilzen und Algen.

Das hohe Niveau dieser sechs Gruppen erreicht die Hefe am Institut in Atlanta nicht – auch deshalb, weil die Hefe-Cluster nur aus einer einzigen Zellenart bestehen. Für den Aufbau komplexer Organismen sind jedoch verschiedene nötig, die unterschiedliche Funktionen erfüllen. Möglicherweise repräsentieren die Laborpräparate aber die erste Stufe der Evolution der Vielzeller. Die Hauptaufgabe dieser ersten neuen Lebensformen bestand darin, herauszufinden, wie sich mehrere Zellen miteinander verbinden können, ohne dass das Gebilde wieder auseinanderfällt.

Schon seit über einem Jahrhundert gibt es immer wieder Laborversuche, die die Evolution nachstellen sollen. Die berühmteste Forschungsarbeit auf diesem Gebiet stammt aus den Achtzigerjahren. Damals verfolgte eine Gruppe von Wissenschaftlern an der Michigan State University in East Lansing unter der Leitung des Biologen Richard Lenski die Evolution von Escherichia coli-Bakterien über 60.000 Generationen. Im Laufe des Experiments entwickelten die Laborbakterien die Fähigkeit, Citrat als Kohlenstoffquelle zu nutzen – etwas, das bei dem Wildtyp von E. coli so gut wie nie beobachtet werden kann.

Galerie: Die Revolution der Evolution

Richard Lenskis Forschung inspirierte Will Ratcliff dazu, die Ursprünge der Mehrzelligkeit bei Hefe in einem Beobachtungszeitraum von zehn Jahren zu untersuchen. Im Januar 2012 veröffentlichte er erste vielversprechende Ergebnisse: Einige Zellen der Hefe waren mutiert und hatten mit der Bildung schneeflockenartiger, mehrzelliger Strukturen begonnen. Tochter- und Elternzellen formten kleine verzweigte Gebilde, in denen sie fest miteinander verbunden waren. Sobald die Cluster jedoch eine Größe von mehreren Hundert Zellen erreicht hatten, wurde die Struktur spröde und zerbrach.

Die Schneeflockenstrukturen der Hefe sind nur ein Beispiel dafür, wie einfache Mehrzelligkeit entstehen kann. Das Leben kennt viele Wege. Andy Knoll, Paläontologe an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts, ist Experte für die Ursprünge der Mehrzelligkeit. Er hat an der an der Studie nicht mitgewirkt. Ihm zufolge ist die Frage nicht, ob mehrzellige Strukturen wachsen und wie sie aussehen, sondern wie diese Strukturen stabil bleiben – auch dann noch, wenn sie aus Hunderten, Tausenden oder noch mehr Zellen bestehen. Da die feste Verbindung einer großen Anzahl von Zellen ein wesentlicher Schritt bei der Entstehung komplexer mehrzelliger Organismen ist, war Will Ratcliffs nächstes Ziel, herauszufinden, wie er das Wachstum noch größerer Hefe-Cluster begünstigen konnte.

“[Es handelt] sich nicht um ein Versehen, sondern das Resultat natürlicher Auslese.”

von G. Ozan Bozdag, Postdoktorand

Natürliche Auslese

Um die Evolution in ihrem Labor voranzutreiben, züchteten die Wissenschaftler die Hefe in Inkubatoren, die ununterbrochen geschüttelt wurden. Der Inhalt blieb dadurch in Bewegung und wurde gut durchmischt. Täglich wurde ein zufälliges Zehntel der Hefeflüssigkeit entnommen und in ein eigenes Teströhrchen übertragen. Hier bekamen die Hefe-Cluster Zeit, an den Boden des Röhrchens zu sinken: Je größer die Cluster, desto schneller setzten sie sich ab. Aus dem tiefen Bodensatz, also den größten Clustern jeder Generation, wurde dann die nächste Generation gezüchtet – ein evolutionärer Prozess, der die Hefe dazu zwang, möglichst große Cluster zu bilden, um erfolgreich fortzubestehen.

Zwischen 2012 und 2016 machten Will Ratcliff und seine Kollegen keine Fortschritte. In den jeweils ersten Monaten einer Testreihe wurden die Hefe-Cluster zwar größer, bei einer Anzahl von 300 bis 400 Zellen stoppte das Wachstum jedoch jedes Mal. Will Ratcliff begann zu vermuten, dass das System sich in irgendeiner Weise selbst begrenzte.

Als der Postdoktorand G. Ozan Bozdag zu Ratcliffs Laborteam stieß, brachte er den entscheidenden Impuls. Er schlug vor, die Sauerstoffmenge zu regulieren, die der Hefe beim Wachsen zur Verfügung stand. Im Laufe der Evolutionsgeschichte hat sich der Sauerstoffgehalt in der Erdatmosphäre immer wieder dramatisch verändert und es ist nicht unwahrscheinlich, dass dies die Entwicklung mehrzelliger Organismen signifikant beeinflusst haben könnte. Da es also naheliegend war, diesen Faktor in das Hefe-Experiment einzubauen, verliefen die Versuche ab Ende 2016 dreigleisig.

Galerie: Mikroben – Unsere kleinen Freunde

Dabei ließen die Wissenschaftler je fünf gleiche Hefestämme bei hoher, mittlerer und ohne Sauerstoffzufuhr wachsen. Zunächst wiederholte sich das bekannte Bild: die Cluster wuchsen und stellten ab einer bestimmten Größe das Wachstum ein. Nach etwa 200 Tagen bildeten sich bei einem der Stämme, dem kein Sauerstoff zugeführt wurde, einige Cluster, die so groß waren, dass man sie mit bloßem Auge erkennen konnte. Mit etwas Verzögerung konnte dieselbe Entwicklung auch bei den anderen vier sauerstofffreien Proben beobachtet werden.

G. Ozan Bozdag vermutete zunächst einen Zufall. Doch nachdem das Experiment mehrere Male mit demselben Ergebnis wiederholt worden war, war er sicher, dass es „sich nicht um ein Versehen handelte, sondern das Resultat natürlicher Auslese.“

Nach 600 Tagen waren die Hefe-Cluster ohne Sauerstoff auf eine Größe von durchschnittlich 450.000 Zellen angewachsen. Daraus ergibt sich die überraschende Schlussfolgerung, dass Sauerstoff zu Beginn der Entwicklung mehrzelligen Lebens das Wachstum mancher Organismen behindert haben könnte.

3D-Modell: der Blick ins Innere

Im weiteren Verlauf des Experiments änderten die Zellen in den größten Clustern ihre Form. Anders als ihre fast kugelförmigen Vorfahren waren sie nun länglich, was dazu führte, dass die Kontaktflächen zwischen den weiterentwickelten Zellen größer waren. Auf diese Weise waren benachbarten Zellen fester miteinander verbunden, was vermutlich die Stabilität der Clusterzweige verstärkte.

Ein Aspekt, der die Forscher sehr überraschte, war eine Veränderung in der Textur: Die Cluster der neuesten Generation waren so hart wie Holz. Seyed Alireza Zamani-Dahaj, ehemaliger Postdoktorand an der Georgia Tech und Co-Autor der Studie, untersuchte daraufhin eine Probe der Hefe mit einem leistungsstarken Rasterelektronenmikroskop an der University of Illinois Urbana-Champaign. Hierfür goss er die Hefe-Cluster in Harz und schnitt das Präparat mit einer extrem feinen Diamantklinge in dünne Scheiben.

Unter dem Mikroskop wird die Entwicklung der Größe der Hefeklumpen deutlich sichtbar. Innerhalb von 3.000 Generationen ist das Volumen der Cluster ungefähr um den Faktor 20.000 gewachsen: von kleinen Clustern (oben rechts) zu großen Klumpen (Mitte).

Foto von Ozan Bozdag

Es verging ein halbes Jahr, bis er den umfangreichen Stapel zweidimensionaler Bilder in ein 3D-Modell des Clusters übertragen hatte. Das Modell zeigte, dass die verzweigten Zellen des Clusters äußerst stark miteinander verwoben waren, sodass die Gesamtstruktur auch dann noch intakt blieb, wenn einzelne Zweige beschädigt wurden.

Überlebenswichtige Mutationen

Obwohl die Evolution der Hefe-Cluster ein aufregender neuer Ansatzpunkt bei der Erforschung der Ursprünge komplexen Lebens darstellt, handelt es sich bei den Forschungsreihen keinesfalls um eine exakte Simulation der Entstehung von mehrzelligem Leben auf der Erde. Die Ursprungszelle, aus der sich vor Milliarden Jahren erste komplexe vielzellige Strukturen und später Pflanzen und Tiere entwickelt haben, war im Vergleich zur Hefe – die an sich schon ein hoch entwickelter Pilz ist – vermutlich sehr viel einfacher aufgebaut.

Außerdem ist der Stoffwechsel der modernen Hefe nicht zwangsläufig mit dem der frühesten Vielzeller zu vergleichen. Laut Andy Knoll von der Harvard University brauchten die Vorgänger der modernen gärenden Hefe vermutlich durchaus Sauerstoff zum Überleben. Die Fähigkeit zur Fermentation entwickelten nachfolgende Hefegenerationen wahrscheinlich mit dem Aufkommen blühender Pflanzen und damit der Entstehung von Früchten mit hohem Zuckergehalt.

Je länger die Forschungsreihe fortgeführt wird, desto größer werde ihre Bedeutung, sagt Tiffany Taylor, Evolutionsbiologin an der University of Bath in England, die an der Studie nicht mitgewirkt hat. Ihr zufolge wäre es sinnvoll, sie möglicherweise über Jahrzehnte weiterzuführen, ähnlich wie die Experimente Richard Lenskis mit E. coli. Nur dann könne der Punkt erreicht werden, an dem die Hefe sich in eine wirklich unerwartete Richtung entwickele.

Je größer die Hefe-Cluster, desto problematischer wird die Versorgung der Zellen in ihrem Inneren. Um zu vermeiden, dass sie aushungern und absterben, wäre es möglich, dass die Klumpen mutieren und Poren oder Kanäle formen, über die Nährstoffe in den Kern gelangen können. Möglicherweise beginnen sie aber auch, unterschiedliche Arten von Zellen zu bilden, die spezifische Aufgaben erfüllen – so wie es bei echten mehrzelligen Organismen der Fall ist. Will Ratcliff und G. Ozan Bozdag wissen nicht, wie die Evolution der Hefe voranschreiten wird. Nur indem sie das Experiment für den Rest ihrer Karrieren fortführen und die Hefe über Jahrzehnte beobachten, werden sie vielleicht ihre Neugier stillen können.

„Es gibt nicht viele Menschen, die bereit sind, ein Evolutionsexperiment über 30 Jahre zu begleiten“, sagt Will Ratcliff. „Lässt man sich aber darauf ein, wird man reich belohnt.“

Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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