Wenn die Evolution „rückwärts“ läuft
Schleimaale, Pinguine und Blattläuse sind faszinierende Beispiele für die regressive Evolution, bei der sich bestimmte Merkmale wieder zurückbilden.

Wer in das Gesicht eines Schleimaals blickt, wird keine Augen finden, die zurückstarren. Die Tiere sind fast blind und orientieren sich am Meeresboden hauptsächlich über ihren Tast- und Geruchssinn.
Ein 300 Millionen Jahre altes Fossil eines Schleimaals offenbarte jedoch, dass die Tiere früher über gut funktionierende Augen verfügten – aber die Evolution hat sie ihnen weggenommen.

Diese Entdeckung zwang viele Forscher vor wenigen Jahren dazu, ihre Theorien zur Entwicklung des Auges zu überdenken. Heute lebende Schleimaale unterscheiden sich bemerkenswert wenig von ihren prähistorischen Vorfahren. Deshalb glaubten Wissenschaftler lange Zeit, dass die heutigen blinden Schleimaale eine Art Zwischenstufe darstellten: Eine Übergangsform zwischen den primitiven Lichtrezeptoren, die viele wirbellose Tiere haben, und den komplexen Augen der Wirbeltiere.
Aber als die Paläobiologin Sarah Gabbott von der britischen University of Leicester ihr Elektronenmikroskop 2016 auf das Schleimaalfossil richtete, entdeckte sie Überreste von pigmentierten Strukturen in seinen Augen. Diese Strukturen hätten es dem Tier ermöglicht, Formen und Bilder auszumachen, berichteten Gabbott und ihre Kollegen in einer Studie, die in „Proceedings of the Royal Society B“ erschien.
„Ich war total aufgeregt, als ich sah, dass die Augen aus hunderten und aberhunderten winzigen runden und elliptischen Strukturen bestanden“, sagte Gabbott.
Bei heutigen Schleimaalen fehlen diese Strukturen. Stattdessen „haben sie diese seltsamen leeren Flecken, wo sich ihre Augen befinden sollten“.
Das ungewöhnlich gut erhaltene Retinalgewebe des Schleimaalfossils lässt vermuten, dass der Sehsinn der Tiere eine Art evolutionären Rückwärtsgang eingelegt hat – ein Prozess, der als reduktive oder regressive Evolution bezeichnet wird. Viele Menschen assoziieren Evolution eher mit Akkumulation: Dinge werden mehr und besser. Genauso gut können sich Fähigkeiten und Körperteile aber auch zurückbilden oder verloren gehen, wenn ihre Kosten ihren Nutzen übersteigen. Und Augen, so scheint es, sind ziemlich teuer.
Galerie: Die Revolution der Evolution

Viele Tierarten, die in Höhlen leben – darunter Fische, Krebse und Salamander – sind im Laufe der Zeit blind geworden und haben zurückgebildete Augen. Eine Studie über mehrere Fischarten, die in Höhlen leben, zeigte 2015, dass 5 bis 17 Prozent des gesamten Energieverbrauchs der Tiere auf die Augen und die Verarbeitung der visuellen Informationen im Gehirn entfallen. Eine weitere Studie aus demselben Jahr kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Echte Salmler der Art Astyanax mexicanus, die in hellen Gewässern leben, verwenden im Gegensatz zu ihren in Höhlen lebenden Verwandten 15 Prozent ihrer Energie auf ihren Sehsinn.
Forscher sind sich noch immer nicht einig darüber, ob der Energieverbrauch oder zufällige Mutationen den Verlust der Sehkraft lenken. Vermutlich wirken beide Prozesse simultan. Allerdings sind Augen dabei kein Einzelfall. Es gibt noch mehr Beispiele für regressive Evolution.
Pinguine verloren ihre Flugfähigkeit
Die Vorfahren der Pinguine konnten fliegen. Nach dem Verschwinden der großen Dinosaurier büßten sie diese Fähigkeit jedoch schnell ein. Der älteste bekannte Pinguin – ein etwa 60 Millionen Jahre altes Fossil – war bereits ein flugunfähiger Schwimmer mit Stummelflügeln. Heutige Pinguine haben noch immer einige charakteristische Eigenschaften ihrer flugfähigen Vorgänger: Flügelknochen, einen flachen, keilförmigen Brustbeinkamm, der Ansatzstellen für die Flugmuskulatur bietet, und Federn. Mit dem Verlust ihrer Flugfähigkeit konnten sich Pinguine besser an ihren Lebensraum anpassen, weil sie größer und schwerer werden konnten.
„Ich betrachte das als großen Durchbruch in der Evolution der Pinguine“, sagt Daniel Ksepka, ein Wirbeltierpaläontologe und Evolutionsbiologe am Bruce Museum in Connecticut. Die flugunfähigen Pinguine konnten größere Muskeln ausbilden, um im Wasser zu schwimmen. Ihre dichteren Knochen verringerten den Auftrieb und gaben mehr Stabilität, und ihre kürzeren, steifen Flügel ermöglichten kräftige Schwimmzüge mit weniger Widerstand. „Weil sie größer wurden, konnten sie effektiver Wärme speichern, länger und tiefer tauchen und damit auch Jagd auf größere Beute machen“, sagt Ksepka.

Schlangen verloren ihre Beine
Es gibt genügend Belege dafür, dass Schlangen früher Gliedmaßen hatten. Allerdings sind sich Forscher noch immer nicht einig darüber, ob die Vorfahren der heutigen Schlangen an Land oder im Wasser lebten. 2015 lieferte eine Studie in „Science Advances“ überzeugende Hinweise darauf, dass die Protoschlangen mit den Beinen wohl Landbewohner waren. Mit detaillierten CT-Scans verglichen Forscher virtuelle 3D-Modelle der Innenohren von Schlangen, die im Wasser, an Land oder in unterirdischen Höhlen lebten, sowie von Echsen und prähistorischen Verwandten der Tiere.
Das Team fand bei den Fossilien spezialisierte Strukturen, die denen heutiger Schlangen ähneln. Damit nehmen sie niederfrequente Vibrationen im Boden wahr, die Raub- und Beutetiere durch ihre Bewegungen erzeugen. Die Vermutung liegt also nahe, dass sich Schlangen aus einem tunnelgrabenden Vorgänger entwickelten. Ihre Beine bildeten sich dann mit der Zeit zurück, damit sie sich besser durch den Boden schlängeln konnten.

Blattläuse verloren ihr Ausscheidungsorgan
Die meisten Insekten verfügen über sogenannte Malpighische Gefäße, die als Ausscheidungsorgan fungieren, bei der Regulierung des Wasserhaushaltes helfen, den Körper entgiften und das Immunsystem unterstützen. Bei Blattläusen fehlt dieser Apparat. Das Ausscheidungssystem der Blattläuse wurde noch nicht eingehend erforscht, aber bisherige Studien deuten darauf hin, dass die Läuse ähnliche Gene haben wie Insekten mit Malpighischen Gefäßen – nur das Gefäßsystem fehlt ihnen mittlerweile. Ein möglicher Grund dafür ist, dass Blattläuse sich hauptsächlich von Blattsäften ernähren. Diese Flüssigkeit ist in ihrer Zusammensetzung ziemlich gleichförmig und besteht aus einfachen Molekülen. Womöglich benötigen Blattläuse dieses spezialisierte Organ daher einfach nicht.

Vögel verloren ihre Zähne
Vögel stammen von Dinosauriern ab, und prähistorische Arten wie der Archaeopteryx – das bekannteste Bindeglied zwischen Vögeln und Sauriern – hatten noch eindrucksvolle Klauen und Zähne. Die heutigen Raubvögel sind im Gegensatz dazu zahnlos. Wirklich sicher sind sich Forscher nicht, weshalb sie ihre Zähne eingebüßt haben. Eine Theorie lautet, dass die Beißwerkzeuge mit der Zeit kleiner und schließlich durch Schnäbel ersetzt wurden, um an Gewicht zu sparen. Eine Studie aus dem Jahr 2014, die in „Science“ erschien widerspricht dem jedoch: Sie zeigte, dass der Verlust der Zähne und die Ausbildung von Schnäbeln etwa zeitgleich erfolgte.
Was auch immer der Grund für Rückbildung der Zähne sein mag – verschiedene Forschungsansätze haben gezeigt, dass dafür nur eine kleine genetische Änderung nötig ist. Für eine Studie, die 2015 in „Evolution“ veröffentlicht wurde, nahmen Forscher ein paar wenige Änderungen in der Genexpression von Hühnerembryos vor. Das Resultat war, dass den Embryos Zähne wuchsen und ihre Gesichter deutlich mehr an ihre Dinosauriervorfahren erinnerten.
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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