Hefemangel? Gibt es nicht.
Brot, Bier, Käse – wir verdanken der Hefe viel. Die Einzeller sind aber nicht nur kulinarische Lebensretter, sondern faszinierend vielfältig, allgegenwärtig – und potenziell unsterblich?
Die Bläschen in diesem Sauerteig sind Anzeichen für Leben – und ein Hinweis auf das chaotische Zusammenspiel von Hefezellen und Bakterien.
Das hier ist eine Geschichte für Quarantänezeiten. Eine Geschichte über enorm winzige Organismen, die uns einen wertvollen Dienst erweisen, indem sie in ungebackenen Teig rülpsen. Wenn alles gut geht, kommt dabei am Ende leckeres Brot heraus. Wenn es schlecht läuft, ist das Ergebnis schlechtes Brot oder eine schleimige Masse, die man wegwirft, um von vorn zu beginnen. So läuft das mit der Hefe, die in ihrer vertrautesten, abgepackten Form vor einigen Wochen aus den Supermarktregalen verschwand – zusammen mit Toilettenpaper und Desinfektionsmittel. „Die ging weg wie nichts“, sagt Kyle Oney, der Besitzer eines Supermarkts in Bishop, Kalifornien. „20 Minuten, nachdem wir sie eingeräumt hatten, war sie schon ausverkauft.“
Der Ansturm auf die Backhefe hat die Hersteller kalt erwischt: „Ich arbeite seit 23 Jahren in dieser Firma und habe sowas noch nie erlebt“, sagt Bill Hanes. Er ist der Vizepräsident der Lesaffre Yeast Corporation – dem größten Hefeproduzenten der Welt. „Unsere Maschinen laufen rund um die Uhr, aber sobald die Leute Hefe sehen, ist sie auch schon wieder weg. Jeden Tag schicken mir Leute Bilder von leeren Supermarktregalen.“
Eine Vintage-Werbung für Hefe der Marke Red Star, die zu den weltweit beliebtesten Hefemarken zählt. Obwohl Menschen Hefe schon seit mindestens 10.000 Jahren zur Fermentierung nutzen, begann die kommerzielle Hefeproduktion erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
Sowohl Hanes als auch seine Kollegen aus der Welt der Backwaren, die ihre eigenen Probleme mit Verzögerungen in der Lieferkette haben, können sich gut vorstellen, woher die große Nachfrage kommt: Die Menschen, die nun zu Hause bleiben müssen und glückliche Besitzer eines Ofens sind, backen jetzt eine Menge Brot. „Niemand hat sowas je erlebt“, sagt Martin Philip, der Chefbäcker von King Arthur Flour. „Manche reden schon von einem ‚Tsunami‘.“ Im Hauptsitz des Unternehmens in Vermont gehen tagtäglich zahllose Anrufe bei der Kundenhotline ein – ein Umstand, dem Philip durchaus etwas abgewinnen kann: All diese Neulinge und Experten wollen Backratschläge.
„Aber gleichzeitig ist es auch eine bittere Freude“, sagt Philip. „Wir sind ja nicht hier, weil wir Grund zum Feiern haben. Es sind schwierige Zeiten. Aber hoffentlich können wir Menschen unterstützen, die backen, um sich zu beruhigen, die aus Liebe backen oder um ihren Tag irgendwie rumzukriegen – und das machen sie hoffentlich gut und können es genießen.“
Außerdem kann es helfen, sich auf ein eher kleines Problem („Muss Hefe finden!“) zu konzentrieren, anstatt sich um die ungewisse Zukunft zu sorgen.
In all dem Chaos nahm Ende März ein Wissenschaftler namens Sudeep Agarwala an einer Zoom-Geburtstagfeier teil. Dabei beklagte einer der Gäste, dass sie gerade einen Brotbackautomaten gekauft hatte, aber keine Hefe auftreiben konnte. Sudeep lachte herzhaft und erklärte ihr dann, was sie tun sollte. Am folgenden Tag postete er seinen Ratschlag auf Twitter.
„Freunde“, begann er seinen Tweet, „ich habe gestern Abend bei ein paar Zoom-Drinks erfahren, dass ihr gerade alle so viel backt, dass es einen Hefemangel gibt?! Ich, euer altbackener lokaler Hefe-Genetiker, bin gekommen, euch zu verkünden: ES GIBT NIE EINEN MANGEL AN HEFE. Ich mach hier jetzt mal einen auf Wikinger. Anleitung folgt.“
Sein Twitter-Porträt zeigt ihn in einem roten Cardigan, in dem er an Mister Rogers erinnert. Jemand repostete seinen Tweet. Dann noch jemand. Bis Ende April wurde sein Post fast 28.000 Mal geteilt. „Es nahm einfach kein Ende“, sagt er.
Sudeep Agarwala ist kein großer Twittertyp. Zumindest war er das nicht bis zum 29.03.2020, als er seinen vielfach geteilten Tweet verfasste. Er arbeitet für ein Bioengineering-Unternehmen namens Ginkgo. Ein Teil seines Jobs besteht in der Erforschung von Hefe – seine Leidenschaft, wie er sagt. „Mein Herz gehört der Hefe“, sagt Agarwala. So redet er tatsächlich, und wer ihm eine Weile zuhört, würde sein Herz wahrscheinlich auch an die Hefe verlieren. „Ich entschuldige mich dafür, dass ich da so ein Nerd bin“, sagt Agarwala. „Aber es ist tatsächlich unglaublich, dabei zuzusehen, wie man ein bisschen Staub in warmes Wasser mit etwas Zucker schüttet und plötzlich blüht es regelrecht auf. Das bringt mich heute noch zum Lächeln. Es ist irgendwie ein kleines Wunder.“
Unter dem Elektronenmikroskop wird das Zellwachstum von Saccharomyces cerevisiae sichtbar. Diese Hefeart wird für viele Arten der kommerziellen Fermentierung eingesetzt, da sie sehr berechenbar ist. Weltweit gibt es allerdings viele tausend Hefearten, die praktisch allgegenwärtig sind.
Was Agarwala und andere Hefeenthusiasten (davon gibt es etliche, wie sich herausstellte) im Gegensatz zu vielen anderen Menschen wissen: Bei Hefe handelt es sich um quasi allgegenwärtige, einzellige Organismen, die so komplex und vielfältig sind, dass Wissenschaftler bislang nur ein paar der tausenden Arten benannt haben. Zu denen, die sich besonders gut für die Fermentation eignen – und damit für die Herstellung von Brot, Bier, Wein, Kombucha und Käse –, zählt auch eine Art, in deren Name sich das spanische Wort für Bier (cerveza) versteckt: Saccharomyces cerevisiae. Diese Art züchten Lesaffre und andere kommerzielle Hersteller in ihren Anlagen. Es ist eine berechenbare Hefe, die sich verpackt gut hält und sich sowohl als Frisch- wie auch als Trockenhefe eignet.
Die Kommerzialisierung von S. cerevisiae begann erst Ende des 19. Jahrhunderts. Aber schon seit mindestens 10.000 Jahren fermentieren Menschen Getränke und backen Brote aus luftigem Teig. Hefe lebt und vermehrt sich in unseren Wohnungen, auf unserem Kompost und auf dem Unkraut am Straßenrand, in unserer Luft, auf unserem Gemüse und auf unserer Haut. Alle Sauerteigstarter – ob nun gekauft, selbstgemacht oder von Oma bekommen – beginnen mit einer Hefezucht, die jeder selbst ansetzen kann, der etwas Mehl und ein Einmachglas hat. Wer verzweifelt nach Hefe sucht oder ein gelangweiltes Kind daheim hat, kann das auch selbst probieren. Und man ist wissenschaftlich auf der sicheren Seite, wenn man das Ganze als Experiment beschreibt, bei dem man Mikroben beim Rülpsen und Pupsen zusehen kann.
Galerie: 100 Jahre altes Früchtebrot in der Antarktis fast noch essbar
Eine verkürzte Version von Agarwalas Methode zur Hefeernte sieht etwa so aus:
- Sucht ein paar Trockenfrüchte in eurer Küche (Rosinen, Pflaumen, etc). Man braucht nicht viel.
- Füllt einen Esslöffel der Früchte (am Stück oder geschnitten) in ein Glas und gebt etwa drei Esslöffel Wasser hinzu. Rührt alles um. Das Wasser wird nun trübe – das macht die Hefe, die sich von den Früchten löst. Die ernten wir nun für unseren eigenen Zweck.
- Mischt das trübe Wasser mit drei bis vier Esslöffeln Mehl (egal welches). Agarwala benutzt gerne Weizenmehl. Die entstehende Masse sollte in etwa die Konsistenz von nassem Teig haben.
- Schließt das Glas lose mit einem Deckel. Es sollte noch Platz für Gasaustausch sein (bei Einmachgläsern also den Gummiring entfernen). Das Glas sollte dann bei einer Temperatur von etwa 21 °C gelagert werden (zum Beispiel in der Nähe oft genutzter Herdplatten).
Die Trockenfrüchte sind übrigens Marke Agarwala und nicht zwingend nötig. Wer nach Rezepten für Sauerteigstarter googelt, wird tausende von Ergebnissen finden. Einige davon empfehlen, nur Wasser und etwas Mehl zu nutzen, das von Natur aus schon Hefe enthält, die mit etwas Geduld aus ihrem Schlaf geweckt werden können. Es gibt zahlreiche Zusätze, die man beimengen kann, um den Prozess zu beschleunigen: Kartoffeln, Fruchtsaft und so weiter. Aber das Prinzip ist immer dasselbe: Etwa eine Woche lang kümmert man sich um sein Glas, „füttert“ es einmal täglich mit Mehl und Wasser und wartet auf die kleinen Bläschen, die signalisieren, dass der Starter zum Leben erwacht.
Wenn die Hefe glücklich ist – wie es die Hefeenthusiasten in diesem Kontext gelegentlich formulieren –, wachsen an ihrem einzelligen Körper kleine Knospen. Sie werden größer, brechen ab und werden jeweils zu einem neuen Einzeller.
Diese Hefeorganismen, die sich vervielfältigen, fressen die Zuckermoleküle in ihrer Umgebung. Hefe mag Zucker. Und während sie ihn verdauen, produzieren sie jene Gase, die dafür sorgen, dass der Brotteig geht, das Getränk fermentiert und das Kind im Haushalt ein Glas voller rülpsender und pupsender Hefe beobachten kann. (Lesaffre weist jedoch darauf hin, dass man sich für konzeptionelle Zwecke für einen der beiden Begriffe entscheiden sollte: „Eine Hefezelle hat nur einen Ausgang.“)
In einer Produktionsanlage läuft dieser Prozess unter sterilen, kontrollierten Bedingungen ab. Die heimische Küche, in der Sauerteig-Experimente stattfinden, ist im Vergleich dazu eine regelrechte Wildnis. Die dort vorhandenen Hefen könnten durchaus auch S. cerevisie einschließen, wenn sie zufällig in den Zutaten oder der Luft steckt. Aber ihre wilden Hefecousins lauern überall und werden ihren Weg ebenfalls in den Sauerteig finden, genauso wie Bakterien. All diese Organismen vermischen sich und konkurrieren im Glas – ein Prozess, bei dem Säuren entstehen. Diese bringen das Saure in den Sauerteig, der je nachdem sehr herb bis mild ausfallen kann. Neben den unterschiedlichsten Kombinationen von Hefearten und Bakterien wirken sich zahllose weitere Faktoren auf den Sauerteigansatz aus: die Pflanzen und Insekten in der Umgebung, die Lufttemperatur, die Feuchtigkeit in der Küche, die Körperchemie des Menschen, der den Starter ansetzt. Es gibt so viele Möglichkeiten, dass jeder Starter einzigartig ist. Kein Wunder, dass Menschen wie Agarwala eine solche Freude an den Mikroben darin haben.
„Man arbeitet mit diesen wundersamen, lebenden Dingen“, sagt Anne Madden, eine Biologin der North Carolina State University, die Mikroben erforscht. Sie und ihre Wissenschaftskollegen haben kürzlich in einem Experiment gezeigt, was passiert, wenn Bäcker an unterschiedlichen Orten Brot und Starter mit exakt den gleichen Zutaten herstellen: Ihre Brote riechen und schmecken unterschiedlich. „Das finde ich fantastisch“, sagt sie. „Es ist ein Beleg für das, was man nicht sehen kann. Als Mikrobiologin hat man so selten die Gelegenheit, Dinge mit der Nase und den Geschmacksknospen zu messen.“
Der Belgier Karl de Smedt, der sich selbst als den „weltweit einzigen Sauerteig-Bibliothekar“ bezeichnet, pflegt seine Sammlung von Sauerteig-startern, die er aus aller Welt zugeschickt bekommen hat. Die Gläser mit den „Mutterteigen“, wie de Smedt sie nennt, werden im Center for Bread Flavour bei Brüssel gekühlt aufbewahrt. Er muss regelmäßig in der Teigbibliothek vorbeischauen – die Mütter wollen gefüttert werden.
Zusammen mit dem NCSU-Ökologieprofessor Robert Dunn und einem Forschungsteam war Madden an einer internationalen Studie beteiligt, deren Ergebnisse aktuell verschriftlicht werden. Derweil haben sie Massen an liebevollen persönlichen Geschichten über Bäcker und Bäckerinnen und deren Teigstarter gelesen. Für ihr Global Sourdough Project verschickten die Forscher Fragebögen an Backende aus aller Welt und baten einige Teilnehmer darum, Proben ihrer Starter mitzuschicken, die dann in einem Labor der Tufts University untersucht wurden. „Und wir hatten ein kleines Feld mit der Aufforderung ‚Erzählen Sie uns von Ihrem Starter‘“, sagt Dunn. „Binnen einer Woche hatten wir schon 80.000 Worte.“
Das ist eine der wundersamen Eigenschaften von Startern: Solange man ihn am Leben hält – ihn also regelmäßig mit Mehl und Wasser füttert, kann ein Sauerteigansatz Generationen überdauern. Man kann ihn vererben, aufteilen und an Nachbarn verschenken oder gegen Toilettenpapier tauschen. Manche Leute geben ihren Startern sogar Namen (nicht selten sind das Wortspiele auf Worte wie dough/Teig oder wheat/Weizen) und betrachten sie als kleine Haustiere.
Wenn Seamus Blackley und einige Mikrobiologen recht haben, dann ist dieses Brot das Ergebnis altägyptischer Hefezellen, die aus einem 4.500 Jahre alten Schlaf erweckt wurden. Blackley, ein Physiker und Hobbyägyptologe, backt leidenschaftlich gern. Um herauszufinden, ob sie die alten Hefezellen wiederbeleben können, schabten er und sein Team Zellmaterial aus alten Back- und Braugefäßen in Museumssammlungen. Während die Mikrobiologen die Zellen untersuchten, versuchte Blackley damit zu backen. Und er hatte Erfolg: „Wir wissen nicht, ob wir da wirklich das ganze alte Zeug bekommen haben“, sagt er. „Aber falls ja, dann ist das ein großer Moment, weil diese Jungs“ – er meint die Hefezellen – „gerade zum ersten Mal seit 4.500 Jahren wieder essen.“
Wessen Kind das noch nicht spannend genug findet, für den gibt es Hoffnung: Das Mehl, das man regelmäßig hinzugibt, um den Starter am Leben zu halten, enthält Hefezellen. Und im Labor züchtet Agarwala neue Hefe mitunter durch das Zufüttern von Marmite, einem Brotaufstrich auf Hefebasis.
„Ja“, sagt er gutgelaunt. „Hefe ist kannibalistisch.“
Diesen Monat arbeitet er von zu Hause aus. Zwischen Videokonferenzen versucht er, sich durch die Flutwelle an Danksagungen und Fragen auf seinem Twitteraccount zu kämpfen. Er liest und beantwortet so viele Nachrichten, wie er kann. Ein paar Tage nach seinem Hefepost tauchten die ersten Bilder von den fertigen Erzeugnissen auf.
Und sie sind wunderschön. In diesen ungewissen Zeiten sind Fotos von dem Essen, das Fremde mit Agarwalas Tipp gemacht haben, für ihn etwas ganz Besonderes: Zimtbrote, Pfannkuchen, Focaccia, Muffins, Challah und gebräunte Brotlaibe, die frisch aus dem Ofen kommen und den Covern von Backbüchern Konkurrenz machen. „Es passiert sehr selten, dass ich mir so nützlich vorkomme“, sagt Agarwala. „Die Leute zaubern die spektakulärsten Brote.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
Wissenschaft
Was sind “fleischfressende Bakterien” und wie bekämpft man sie?
Nekrotisierende Fasziitis führt in rasanter Geschwindigkeit zum Absterben von Gewebe und endet oft tödlich.
Gummiente & Co: Ein Paradies für Bakterien
Eine Studie lässt darauf schließen, dass sich Bakterien an mehr Oberflächen als gedacht befinden – sogar in Gummienten.
Wie ein Wissenschaftsfotograf Mikroben sichtbar macht
Der Schweizer Martin Oeggerli fotografiert kleinste Lebewesen – und hat es dabei manchmal mit großen Gefahren zu tun.