Gewinner der Evolution: Was macht das Seepferdchen zum Überlebenskünstler?

Sie sind klein, langsam und ausgesprochen schlechte Schwimmer – und doch sind Seepferdchen echte Überlebenskünstler. Wie konnten sie 25 Millionen Jahre lang überdauern und sich auf der ganzen Welt ausbreiten?

Von Barbara Buenaventura
Veröffentlicht am 14. Mai 2021, 15:17 MESZ
Seepferdchen

Seepferdchen breiteten sich vor Millionen Jahren über die Meere aus - dabei sind sie keine besonders schnellen Schwimmer. 

Foto von Jung Ho Park on Unsplash.com

Mit dem pferdeköpfigen Hippokamp, dem gewaltigen Seeungeheuer aus der griechischen Mythologie, das die Meeresgötter pfeilschnell durchs Wasser beförderte, hat das grazile Seepferdchen (lat. hippocampus) außer dem eigentümlichen Aussehen wenig gemein: Von Kraft und Schnelligkeit kann bei den zwischen 1,5 und immerhin 30 Zentimeter großen Knochenfischen nicht die Rede sein. Einige der zahlreichen Unterarten sind zwar rekordverdächtig – aber rekordverdächtig klein und langsam: Mit einer Maximalgeschwindigkeit von gerade mal anderthalb Metern pro Stunde ist das Zwerg-Seepferdchen (Hippocampus zosterae) der langsamste Fisch der Welt. Zum Vergleich: Selbst Weinbergschnecken legen gut 4 Meter pro Stunde zurück.

Statt für Geschwindigkeit und wendige Bewegungen sind Seepferdchen besonders für ihr wandelbares Aussehen bekannt – vor allem in Sachen Farbe: Zwischen 30 und 80 Seepferdchenarten gibt es, deren Farbspektrum sich von Schwarz, Braun und Blau über Rot- und Gelbtöne bis zu Neonfarben erstreckt. Manche Arten können wie ein Chamäleon die Farben wechseln. Schuppen sucht man bei Seepferdchen vergebens, ebenso Zähne, einen Magen oder die zum Schwimmen so wichtige Schwanzflosse.

Dieses Manko macht das langsame Seepferdchen in jungen Jahren zum dankbaren Opfer: Vor allem in ihren ersten Lebenswochen werden die kleinen Knochenfische oft von Raubfischen gefressen, nur etwa 1 Prozent überlebt. Erwachsene Tiere können sich besser tarnen und vor Räubern schützen – ihnen droht eher Gefahr durch See-Anemonen, die wegen ihrer Nesseln lebensgefährlich für Seepferdchen sind. Immerhin: In Gefangenschaft können Seepferdchen etwa vier Jahre alt werden, in der Natur immerhin bis zu sechs Jahre.

Das Farbspektrum von Seepferdchen erstreckt sich von Schwarz, Braun und Blau über Rot- und Gelbtöne bis hin zu Neonfarben.

Foto von zilvergolf - stock.adobe.com

Um zu verstehen, wie Seepferdchen seit Millionen Jahren in den Meeren überleben konnten, hilft es, mehr über ihre Abstammung zu wissen: Seepferdchen gehören zur Familie der Seenadeln (Syngnathidae), einer Familie relativ kleiner und gut getarnter, schlanker Knochenfische, die an den Küsten sämtlicher Weltmeere leben. Statt Schuppen weisen Seepferdchen allerdings eine zarte Haut auf, die sich über einen Körper mit ringförmig angeordneten Knochenplatten spannt. Auch in ihrem Körperbau unterscheiden sich Seepferdchen wie auch die Fetzenfische, die ebenfalls zur Ordnung der Seenadelartigen gehören, stark von anderen Fischgruppen.

Besonderer Körperbau – und eine kluge Jagdstrategie

Ihre spezifische Kopfform trägt übrigens dazu bei, dass die grazilen Seepferdchen erfolgreiche Jäger sein können: Statt mit Schnelligkeit und Kraft die Verfolgung des avisierten Opfers aufzunehmen, schleichen sich Seepferdchen aus einem ganz besonderen Winkel an und nutzen dabei ihre besondere Schnauzenform, um im Wasser möglichst wenig Bewegung zu erzeugen.

Eine Studie der Universität von Texas belegte, dass die besondere Schnauzenform des Zwerg-Seepferdchens bei der Näherung ans Opfer eine relativ störungsfreie Zone im Wasser erzeugt. Das Opfer (in der Versuchsreihe der sehr bewegliche Ruderfußkrebs) wird also nicht oder zumindest kaum von Bewegungen im Wasser gewarnt. Aus weniger als zwei Millimetern Entfernung schlägt das Seepferdchen dann zu – ein Konzept, das der Studie zufolge, die 2013 im Fachmagazin Nature erschein, zu stolzen 90 Prozent aufgeht.

Grazil und zerbrechlich oder ein echter Überlebenskünstler?

Als „Evolutionsgewinner“ bezeichnet eine Studie der Universität Konstanz mit Wissenschaftlern aus China und Singapur das Seepferdchen. Die Forschungskooperation, deren Ergebnisse im Februar 2021 ebenfalls im Magazin Nature erschienen, untersuchte mit dem bislang größten Genom-Datensatz und einem daraus entwickelten Stammbaum die weltweiten Ausbreitungs- und biogeografischen Muster von Seepferdchen. Wann und wo waren im Lauf der Jahrmillionen neue Arten entstanden und wie konnten sich die grazilen Tiere trotz mangelhaften Schwimmvermögens über die Weltmeere ausbreiten?

Aus dem von den Forschern entwickelten Stammbaum und den daraus ermittelten Verwandtschaftsverhältnissen konnten die Forscher die Ausbreitungswege der Seepferdchen über die ganze Welt nachvollziehen. Demnach teilten sich die Seepferdchen, die vor etwa 25 Millionen Jahren im Indopazifik aus den Seenadeln hervorgingen, schon recht früh in zwei Gruppen auf: Während sich einige Arten vor Ort diversifizierten, breiteten sich die anderen im gesamten Pazifik aus.

BELIEBT

    mehr anzeigen

    Die besondere Schnauzenform des Zwerg-Seepferdchens erzeugt beim Annähern ans Opfer eine relativ störungsfreie Zone im Wasser. Das Opfer wird nicht durch Wasserbewegungen gewarnt. 

    Foto von David Clode on Unsplash.com

    Wie können sich so langsame Schwimmer über die Weltmeere ausbreiten?

    Doch wie schafften das die Fische, die sich vertikal fortbewegen, die meiste Zeit aufrecht im Wasser stehen und statt Bauch- und Schwanzflosse einen Greifschwanz entwickelt haben? Der Studie zufolge nutzten die Seepferdchen eben diesen Greifschwanz, um sich an allem festzuhalten, was verfügbar war, wie etwa Algen oder Baumstämmen, die den Tierchen als Flöße dienten. Diese praktischen Hilfsmittel transportierten die Passagiere hunderte Kilometer über das Meer bis in flachere Küstengewässer, wo sie sich am wohlsten fühlen.

    Interessant: Das Forschungsteam berücksichtigte bei der Analyse nicht nur die heutigen Strömungsverhältnisse, sondern auch die Verschiebung der Erdplatten über die Jahrmillionen. So gab es vor etwa 15 Millionen Jahren an der Stelle der Straße von Gibraltar eine Verbindung in den Atlantik, im heutigen Bereich der Arabischen Halbinsel befand sich ein Ausgang zum Indischen Ozean. Die Erdplattenverschiebungen veränderten die Strömungsdynamiken, über die sich die Seepferdchen neue Ziele erschließen konnten. Die verfügbaren Daten zeigten übrigens, dass auch heute noch Seepferdchen aus Afrika über den Südatlantik reisen und ihr genetisches Material in südamerikanische Populationen einbringen.

    Genetische Anpassung an ökologische Nischen

    Das Reisen mit dem Strom ist das eine, die Fähigkeit, in unbekannten Gewässern auch überleben zu können, ein anderes Talent, das den Seepferdchen im Rahmen der Studie einmal mehr nachgewiesen wurde. Demnach haben Seepferdchen stark modifizierte Genome und sich im Vergleich zu anderen Fischen sehr schnell verändert: „Seepferdchen haben (…) Variationen im Grad der Körperbedeckung durch Stacheln entwickelt, die es ihnen ermöglichen können, sich an verschiedene ökologische Nischen anzupassen“, heißt es dazu in der Studie.

    Unterschiedliche Seepferdchen entwickelten schnell und unabhängig voneinander Hautstacheln, die je nach Lebensraum zur Abwehr von Fressfeinden dienen. Doch auch hier gibt es weitere Unterschiede: „Interessanterweise wurde festgestellt, dass Arten mit knöchernen Stacheln mit unserem Artenbaum nicht eng verwandt sind“, heißt es weiter. „(…) Dies bestätigt frühere Ergebnisse und deutet darauf hin, dass einige Linien ähnlichen Umweltbelastungen ausgesetzt waren, wie z.B. spezifische Raubtiertypen, (und) ähnliche Phänotypen unabhängig voneinander entwickelt haben.“ Ortsgebundene Seepferdchen können sich der Studie zufolge übrigens besonders schnell anpassen: für das Forschungsteam einer der Hauptgründe, warum Seepferdchen so erfolgreich in der Bevölkerung neuer Lebensräume waren.

    Galerie: Tiere, die im Dunkeln leuchten

    Trotz aller Überlebensmechanismen und genetischer Anpassungsfähigkeit ist und bleibt das Seepferdchen vom Aussterben bedroht. Fischerei und schwindende Lebensräume gefährden den grazilen Knochenfisch: Allein die Bestände der beiden einzigen Seepferdchenarten Europas sind Informationen von WWF zufolge in den letzten 15 Jahren um bis zu 30 Prozent gesunken. Während Handel und gezielter Fang im Mittelmeer mittlerweile verboten sind, wird das Seepferdchen in der traditionellen asiatischen Medizin weiterhin gerne zu Heilzwecken verwendet, auch als Souvenir ist das Tier beliebt. Bis zu 30 Millionen Seepferdchen werden jedes Jahr als Beifang oder ganz gezielt aus den Weltmeeren gefischt.

    2004 wurde das Seepferdchen in das Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES) aufgenommen, seit 2012 ist es im Rahmen von OSPAR, einem völkerrechtlichen Vertrag zum Schutz der Nordsee und des Nordostatlantiks, geschützt. In Aquarien überleben die Tierchen, die anfällig für Krankheiten sind und wegen ihres unterentwickelten Verdauungssystems kaum Fettreserven aufbauen können, übrigens kaum. Dennoch ist 2016 zumindest erstmals die Nachzucht einer Seepferdchen-Art gelungen: Ein Forscherteam der Gießener Justus-von-Liebig-Universität, deren Studie in Frontiers in Marine Science veröffentlicht wurde, erhöhte mit besonderen Futterarten die Überlebensrate des Langschnauzen-Seepferdchens (Hippocampus reidi) in Aquakultur.

    loading

    Nat Geo Entdecken

    • Tiere
    • Umwelt
    • Geschichte und Kultur
    • Wissenschaft
    • Reise und Abenteuer
    • Fotografie
    • Video

    Über uns

    Abonnement

    • Magazin-Abo
    • TV-Abo
    • Bücher
    • Disney+

    Folgen Sie uns

    Copyright © 1996-2015 National Geographic Society. Copyright © 2015-2024 National Geographic Partners, LLC. All rights reserved