Evolution von Knochen: Urzeitfische mit Skelettbatterien

Die ersten Knochen, die lebende Zellen enthielten, lieferten wichtigen Brennstoff für lange Reisen – und stellten damit die Weichen für die Evolution von Wirbeltieren.

Kieferlose Panzerfische, die vor etwa 400 Millionen Jahren lebten, bildeten die ersten Knochen mit lebenden Zellen aus, die wichtige Mineralien für die Muskeln der Fische lieferten.

Foto von Illustration, Brian Engh
Von Riley Black
Veröffentlicht am 26. Nov. 2021, 09:55 MEZ

Durch das Studium uralter Fischfossilien konnten Wissenschaftler einen Wendepunkt in der Entwicklung eines der wichtigsten Körperteile von Menschen und anderen Tieren aufdecken: Knochen. In erster Linie bieten Knochen eine Struktur, um den Körper zu stützen. Aber dieses harte Gewebe verändert sich fortwährend und bietet noch andere Vorteile für Wirbeltierkörper. Knochen erhalten sich selbst aufrecht, reparieren Verletzungen und versorgen den Blutkreislauf mit wichtigen Nährstoffen.

Die frühesten Knochen waren jedoch ganz anders als die heutigen menschlichen Skelette. In der prähistorischen Vergangenheit ähnelten die Knochen eher Beton und wuchsen an der Außenseite von Fischen, wo sie eine schützende Hülle bildeten. Laut einer Studie in der Zeitschrift Science Advances entwickelten sich die ersten Knochen mit lebenden Zellen vor etwa 400 Millionen Jahren und fungierten als eine Art Skelettbatterie: Sie versorgten prähistorische Fische mit Mineralien, die sie brauchten, um größere Distanzen zurückzulegen.

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Die versteinerten Lebewesen in der Analyse sind als Osteostraci bekannt. „Ich nenne sie liebevoll Käfer-Nixen“, sagt Yara Haridy, eine Doktorandin am Naturkundemuseum Berlin und Erstautorin der Studie. Diese Fische hatten einen harten, gepanzerten Körper und einen flexiblen Schwanz. Sie hatten noch keinen Kiefer und ihr Knochengewebe umhüllte ihren Körper. Diese besonderen Fische sind entscheidend für das Verständnis der Ursprünge der harten Gewebe, die die Evolution der Wirbeltiere geprägt haben.

Haridys Forschung konzentriert sich auf Osteozyten – jene Zellen, die im Rahmen des Skelettwachstums vom harten, mineralischen Teil des Knochens eingeschlossen werden. Die frühesten Tiere mit Knochen hatten jedoch keine Osteozyten, und auch einige moderne Fische haben diese Zellen nicht. Für Paläontologen stellt sich daher die Frage, wann und warum sich diese Knochenzellen erstmals entwickelt haben.

Haridy sagt: „Ich wurde geradezu besessen von der Frage: Warum Osteozyten?“

3D-Blick in die Knochen dank neuer Technik

Das Rätsel der Knochenzellen zu lösen, hat sich für Paläontologen als Herausforderung erwiesen. Traditionell untersuchen Forscher die mikroskopischen Strukturen des Knochens, indem sie sie in dünne Scheiben schneiden und auf zweidimensionalen Objektträgern untersuchen, erklärt Haridy. Aber diese Methode liefert kein vollständiges, dreidimensionales Bild von Knochenzellen.

Mit einer Methode, die für die Materialwissenschaft und andere technische Anwendungen entwickelt wurde, konnten Haridy und Kollegen Knochenstrukturen sichtbar machen, die Wissenschaftler bisher nicht untersuchen konnten. „Ich sah auf dem Flur ein Poster von einem meiner Kollegen mit erstaunlichen Bildern von Poren in Batterien, die sahen aus wie Zellen“, erinnert sich Haridy. Die Methode, mit der diese Bilder gemacht wurden, nannte sich Rasterelektronenmikroskope mit fokussiertem Ionenstrahl (FIB-SEM) und erzeugt detaillierte, dreidimensionale Scans. Haridy fragte nach, auf welche Objekte die Technik angewendet werden könnte. Als sie erfuhr, dass ein stabiles, trockenes Objekt am besten geeignet ist, „schrie ich praktisch: Was ist stabiler als Stein?“

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    Die resultierenden Scans von versteinerten Osteostraci übertrafen aber selbst Haridys Erwartungen. „Mein unglaublicher Co-Autor Markus Osenberg schickte mir nonchalant eine E-Mail mit ersten Scans“, erinnert sie sich. „Ich rief ihn an, um sicherzugehen, dass das kein Modell war, sondern unsere tatsächlichen Daten, so unglaublich sahen sie aus.“

    Die Scans zeigten zwar nicht die eigentlichen Knochenzellen – die waren längst zerfallen –, aber sie offenbarten die Hohlräume, in denen Knochenzellen im Inneren der alten Fische lebten. „Ich schaute auf einen Raum, in dem vor über 400 Millionen Jahren eine kleine Zelle gelebt hat“, sagt Haridy.

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    Bei der Durchsicht der Scans fiel Haridy und ihrem Team auf, dass das Knochengewebe um die Zellhohlräume herum abgetragen war. Diese kleinen Einbuchtungen waren jedoch kein Zeichen einer Krankheit oder Verletzung. Stattdessen hatten die Knochenzellen einen Teil des harten Gewebes aufgelöst, sodass darin enthaltenes Kalzium, Phosphor und andere Mineralien in den Blutkreislauf des Fisches gelangen konnten.

    Die Zellen nutzten das Knochengewebe wie eine Batterie: Sie setzen gespeicherte Mineralien frei, die für körperliche Prozesse wie die Energieversorgung der Schwimmmuskulatur benötigt werden. Der Bedarf an zusätzlichen Mineralien wiederum trieb die Evolution der zellulären Knochen voran – eine Veränderung, die die Weichen für die Evolution der Wirbeltiere stellte.

    „Diese Hypothese gibt es schon eine Weile, aber es fehlte bisher an Bestätigung“, sagt der Paläontologe Martin Brazeau vom Imperial College London, der nicht an der Studie beteiligt war. Haridys Forschung liefert neue Beweise dafür, dass frühe Knochenzellen den Panzer von Osteostraci umfunktionierten, um einen zusätzlichen Energieschub zu erhalten. „Haridy und Kollegen fanden heraus, dass die Ränder um die Osteozyten eine geringere Dichte aufwiesen als der umgebende Knochen. Und sie argumentieren schlüssig, dass dies ein Beweis für den Mineralstoffwechsel ist“, ergänzt der Paläontologe Sam Giles von der University of Birmingham, der ebenfalls nicht an der Studie beteiligt war.

    Leider kann das FIB-SEM-Verfahren, das zur Erstellung der hochauflösenden Knochenbilder verwendet wird, nur Knochengewebe nahe der Oberfläche des Fossils betrachten. Außerdem zerstört es diesen Teil des Fossils während des Prozesses, sodass es nicht immer die ideale Methode zur Untersuchung fossiler Knochen ist. Dennoch kann die Anwendung der Technik auf ein paar ausgewählte versteinerte Knochen zu Entdeckungen über die evolutionäre Funktion von Skeletten führen.

    Neben der Offenbarung der Knochenhohlräume, die einst von Zellen besetzt waren, konnte die Studie auch die Form und die Verbindungen der Zellen zwischen den Knochen aufdecken, was bisher noch nie gemacht wurde. „Dieser Ansatz ist sehr vielversprechend“, sagt Sophie Sanchez, eine Anatomin an der Universität Uppsala in Schweden, die nicht an der Studie beteiligt war. Ihr zufolge könnte er besonders nützlich sein, wenn er mit anderen Techniken kombiniert wird, die in tiefere Bereiche des fossilen Knochens schauen.

    Die Tatsache, dass urzeitliche Fische in der Lage waren, in Zeiten der Not auf die Mineralienspeicher ihrer eigenen Skelette zurückzugreifen, hatte bedeutende Konsequenzen für das Leben auf der Erde. Ohne die Entwicklung von Knochen mit lebenden Zellen wären Fische wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen, lange Wanderungen zu unternehmen, sagt Haridy. Sie hätten dann nicht die nötigen Mineralien gehabt, um ihre Muskeln zu versorgen.

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    Wirbeltiere hätten es ohne Osteozyten vielleicht nie an Land geschafft, fügt sie hinzu, denn Knochenbatterien liefern Kalzium für das Legen von Eiern und die Milchproduktion. Die Evolution könnte ohne solche Knochen einen anderen Weg eingeschlagen haben – womöglich einen ohne Dinosaurier oder Säugetiere.

    Was das Team über die uralten Fischknochen herausgefunden hat, ist erst der Anfang, glaubt Haridy. Die detaillierte Darstellung von Knochenzellen – und zwar Hunderte von Millionen Jahren nach dem Absterben der Zellen selbst – hat das Potenzial, alle möglichen osteologischen Geheimnisse zu offenbaren, die vorher nicht entdeckt werden konnten. „Ähnlich wie die ersten CT-Scans das Feld der Paläontologie erweitert und neue Methoden hervorgebracht haben, sage ich voraus, dass auch diese Methode uns in Zukunft noch überraschen wird“, so Haridy.

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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