Soziale Dinosaurier: Neuentdeckte Fossilien geben Aufschluss über Herdenverhalten
Die Knochen und Eier von Mussaurus, die in Argentinien ausgegraben wurden, legen nahe, dass der Pflanzenfresser der erste Dinosaurier war, der in Herden gelebt hat, die in Altersgruppen unterteilt waren.
Der langhalsige Mussaurus lief als Jungtier allen Vieren, als Erwachsener dann nur noch auf den Hinterbeinen. Ein großer Fossilienfund in Patagonien legt nun nahe, dass die Spezies eine der ersten war, die in Herden lebte, die nach Alter getrennt waren.
Vor ungefähr 193 Millionen Jahren starben im heutigen Argentinien zur gleichen Zeit am gleichen Ort elf Mitglieder einer Dinosaurierherde. Ihre toten Körper wurden in nur wenigen Metern Abstand voneinander gefunden. Was der Grund für ihren Tod war, ist unklar. Vielleicht erlagen sie der Dürre, die die Sommerhitze an dem Seeufer, das sie bewohnten, ausgelöst hatte. Oder es war ein brutaler Sandsturm, der sie unter haufenweise Schlamm begrub.
Unabhängig von der unbekannten Todesursache gab es jedoch eines, dass alle elf Dinosaurier gemeinsam hatten: ihr Alter. Es ist wahrscheinlich, dass keiner der Dinosaurier seinen zweiten Geburtstag erlebt hat.
Eine Studie, die im Oktober 2021 in der Zeitschrift Scientific Reports erschienen ist, befasst sich mit dieser Fossilien-Sammlung, bei der es sich um die Überreste von Mussaurus patagonicus handelt, einem entfernten Verwandten langhalsiger Dinosaurier wie Brachiosaurus und Brontosaurus. Insgesamt wurden 69 Skelette und zusätzliche einhundert Mussaurus-Eier gefunden. Auffällig an dem fossilen Fund war, dass die Knochen verschiedener Individuen in Clustern gefunden wurden, die nach Alter und Größe getrennt zu sein schienen.
Das wissenschaftliche Team erklärt sich dies damit, dass Mussaurus-Herden sich nach Alter in Kohorten aufgeteilt haben müssen. Entspricht diese Annahme der Wahrheit, liefert der Fund den ältesten Beweis für diese Form des Herdenverhaltens bei Dinosauriern.
„Wir wissen nur sehr wenig über das Verhalten der Dinosaurier und das, was wir bis jetzt wissen, basiert größtenteils auf den Dinosauriern der Kreidezeit,“ erklärt Studienleiter Diego Pol, National Geographic Explorer und Paläontologe am Museo Paleontológico Edigio Feruglio in Trelew, Argentinien. „Über das Verhalten der Dinosaurier zu Beginn ihrer Existenz wissen wir eigentlich nichts.“
Mussaurus gehört zu der Gruppe der Sauropodomorpha, die der Wissenschaft seit den Siebzigerjahren bekannt ist. Funde ihrer Fossilien an verschiedenen Orten der Welt geben Hinweise auf die soziale Natur dieser Dinosaurier: In Deutschland wurden die fossilen Überreste einer Plaetosaurus-Gruppe gefunden, in Südafrika Brutplätze und Eier des mit Mussaurusverwandten Massospondylus.
Dieses fossile Mussaurus-Ei ist eines von über hundert, die in der Laguna Colorada Formation in Argentinien gefunden wurden.
Die fossilen Eier und 69 neu entdeckten fossilen Skelette erlauben einen seltenen Einblick in das Verhalten der Dinosaurier im frühen Jura vor ungefähr 193 Millionen Jahren.
Für Kimi Chapelle, Postdoktorandin am American Museum of Natural History, die an der Studie nicht mitgearbeitet hat, übertrifft der neueste Fund von Mussaurus-Fossilien alle vorherigen bei Weitem.
„Es wurden sowohl Eier als auch Knochen an derselben Stelle gefunden, die von Tieren verschiedenen Alters stammen“, sagt sie. „All das lag auf einer Fläche von nur einem Quadratkilometer in einer nur drei Meter dicken Gesteinsschicht. Einfach fantastisch.“
Herde mit Kindergarten
Viele der heutigen großen Pflanzenfresser leben in Herden zusammen und die grundlegende Evolutionsrechnung hat sich seit Lebzeiten des Mussaurus vor mehr als 190 Millionen Jahren nicht geändert.
Laut Timothy Meyers, Paläontologe an der der Temple University in Philadelphia, Pennsylvania, der nicht an der Studie mitgewirkt hat, hat das Herdenleben seine Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite bietet es Schutz vor Angreifern und da nicht jedes Tier jederzeit Ausschau nach Gefahr halten muss, bleibt mehr Zeit zum Fressen. Andererseits muss die vorhandene Nahrung in der Gruppe geteilt werden und das Risiko, sich mit Krankheiten oder Parasiten anzustecken, ist größer.
Damit das Leben in der Herde funktioniert, müssen ihre Mitglieder sich Timothy Meyers zufolge gut aufeinander abstimmen. Das ist eine Herausforderung – insbesondere für die Tierarten, deren Größe sich abhängig von ihrem Alter stark verändert. Ein frisch geschlüpfter Mussaurus war zum Beispiel etwa so groß wie die Handfläche eines ausgewachsenen Menschen. Mit einem Jahr hatte er bereits eine Hüfthöhe von über 60 Zentimetern und wog ungefähr neun Kilogramm. Ein ausgewachsener Mussaurus wog um die 1.500 Kilogramm – fast doppelt so viel wie ein ausgewachsener Elch.
An dieser Stelle kommt die Trennung nach Alter ins Spiel. „Je stärker der Größenunterschied, desto schwieriger wird es, das Verhalten aller Mitglieder einer Herde zu synchronisieren“, erklärt Timothy Myers. Für die Sauropoden und die Sauropodomorpha war es deshalb sicherlich von Vorteil, die kleineren Heranwachsenden von den größeren Erwachsenen zu trennen.“
Obwohl dies einleuchtend erscheint, ist es nicht leicht, allein auf der Basis von Fossilien zu beweisen, dass sich die Dinosaurier tatsächlich so verhalten haben. Fossile Spuren von Dinosauriern, die viel jünger sind als Mussaurus, haben auch schon den gegenteiligen Beweis für Mehrgenerationenherden erbracht.
Durch die nun schon zwei Jahrzehnte andauernden Ausgrabungen an der Mussaurus-Fundstelle in Patagonien konnten Diego Pol und sein Team extrem viel über den Dinosaurier herausfinden. Unter anderem gelang es ihnen nachzuvollziehen, wie der Körper von Mussaurus sich im Laufe des Wachstums verändert hat: Als Jungtier lief er auf allen vieren, als Erwachsener dann nur noch auf den Hinterbeinen. Neue Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass Mussaurus-Eier eine weiche, lederartige Schale hatten, was darauf schließen lässt, dass sie nicht ausgebrütet, sondern vergraben wurden.
Galerie: Dinosaurier aus dem digitalen Labor
Ihre bisher größte Überraschung gab die Ausgrabungsstätte im Jahr 2003 preis, als Diego Pol auf einen Felsblock stieß, in dem die Fossilien von elf Jungtieren eingeschlossen waren. „Ich hob einen Teil der Konkretion an und sah eine Schädeldecke und den zugehörigen Hals, der im Gestein verschwand“, sagt er. „Ich wusste sofort, dass wir etwas Besonderes gefunden hatten.”
Doch der Fund aus dem Jahr 2003 ist bei Weitem nicht der Einzige, der das Herdenverhalten von Mussaurus belegt: Bei dem ersten bekannten Fossil handelt es sich um eine Gruppe frisch geschlüpfter Dinosaurier, die auf einem Haufen zusammenlagen. Bei der aktuellsten Ausgrabung fanden sich die Körper zweier Jungtiere, die förmlich ineinander verwoben waren.
Im nächsten Schritt war es wichtig, die Frage zu klären, ob die Tiere wirklich alle gleichzeitig in ihrer Gruppe gestorben waren oder zu unterschiedlichen Zeiten und zufällig am selben Ort. Dies herauszufinden war die Aufgabe von Roger Smith, Co-Autor der Studie von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, Südafrika, der die Sedimente an der Ausgrabungsstelle einer sorgfältigen Analyse unterzog.
Seine Untersuchungen zeigten, dass die Fundstelle sich aus drei voneinander getrennten Schichten zusammensetzte, in denen Mussaurus-Fossilien gelagert waren. Die meisten Fossilen waren in derselben Schicht zu finden wie die Brutplätze. Die Sedimentschicht, in der die Fossilien gefunden wurden, war wahrscheinlich aus Luftstaub entstanden, den ein Sturm an die Stelle geweht hatte.
Um sicherzustellen, dass es sich bei den Dinosauriern wirklich um Vertreter von Mussaurus handelte und das Alter und die Größe der verschiedenen Fossilien zu prüfen, kamen verschiedene Techniken zum Einsatz. Im Jahr 2017 brachte Diego Pol 30 fossile Eier zur European Synchroton Radiation Facility (ESRF) in Grenoble, Frankreich, in der das drittgrößte Elektronensynchroton der Welt untergebracht ist. Hier stellte sich heraus, dass in vielen der Eier fossile Mussaurus-Embryos vorhanden sind.
Die Wissenschaftler untersuchten außerdem die Knochenstruktur der Fossilien, um Informationen über das Alter und Wachstumsmuster zu erhalten. Alle elf Individuen der Sammlung waren ungefähr gleich groß und wogen zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen acht und elf Kilogramm. Ausgehend davon, dass ein junger Mussaurus saisonale Wachstumsschübe durchlief, kamen die Forscher zu dem Ergebnis, dass die Jungtiere schon vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres gestorben sind.
Sauropodomorpha: Gemeinsam stark
Da an der Fundstelle nicht viele Fossilien ausgewachsener Tiere gefunden wurden, fehlen konkrete Hinweise dafür, dass es bei Mussaurus auch eine Erwachsenen-Herde gab. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Reptilien im Jugendalter in Gruppen zusammenleben und dann mit dem Erreichen des Erwachsenenalters zu Einzelgängern werden. Doch da die Knochen der Jungtiere an einem Brutplatz gefunden wurden, ist es möglich, dass sie Teil einer größeren Herde waren, die zur Eiablage an diesen Ort gekommen ist.
Mithilfe der Analysen von Knochen und den sie umgebenden Sedimenten konnten Diego Pol und sein Team deren Alter genauer bestimmen. Jahrelang sind Paläontologen davon ausgegangen, dass Mussaurus vor über 205 Millionen Jahren in der Trias gelebt hat. Die neuen Ergebnisse korrigieren diese Annahme auf 193 Millionen Jahre, was Mussaurus zu einem Dinosaurier der Jura macht.
Diese Erkenntnis ist deswegen so wichtig, weil Mussaurus dadurch erstmals in Erscheinung getreten ist, nachdem ein Massensterben die meisten Landtiere dahingerafft hatte. Die Sauropodomorpha blieben von diesem Ereignis relativ unbeschadet und brachten in der Folgezeit viele neue Arten hervor, deren Größe die ihrer Vorgänger weit überschritt. Dies wiederum spricht dafür, dass es eine Trennung nach Alter innerhalb der Herdenstruktur von Mussaurus gab.
Diego Pol und seine Kollegen gehen davon aus, dass grundlegende Aspekte des Sozialverhaltens von Mussaurus schon bei seinen Vorfahren in der späten Trias aufgetreten sein könnten. Wenn das der Fall gewesen ist, könnte die soziale Ader der frühen Sauropodomorpha der Gruppe möglicherweise dabei geholfen haben, das Massensterben nicht nur zu überstehen, sondern in der Folgezeit sogar umso besser zu gedeihen.
„Nach dem Massensterben begann ihre Zeit, in der sie die Welt eroberten und in ökologischer und evolutionärer Hinsicht zum ersten Mal erfolgreich waren“, erklärt Diego Pol. „Die Frage lautet: Was genau hat einen Dinosaurier erfolgreicher sein lassen als einen anderen? Unsere Antwort: Es könnte sein Verhalten gewesen sein."
Dieser Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.