Neuroforschung: Gelähmter Patient kann wieder kommunizieren

Die Nervenkrankheit ALS kann einen völligen Verlust der Kommunikationsfähigkeit bedeuten. Eine neue Studie aus Deutschland meldet nun einen Durchbruch: Mithilfe eines Gehirnimplantates kann ein vollständig gelähmter Patient Wünsche äußern.

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 1. Apr. 2022, 16:11 MESZ
Nahaufnahme des Bildschirms des Geräts, dass die Gehirnwellen des Patienten ausliest.

Der Teilnehmer lernte in der Studie, Gehirnaktivität zu erzeugen, indem er an verschiedene Bewegungen dachte. Die Gehirnsignale wurden dann von implantierten Mikroelektroden aufgefangen und ausgelesen.

Foto von Wyss Center

„Jungs, es funktioniert gerade so mühelos.“ Diese Worte soll der an der Studie teilnehmende ALS-Patient an Tag 247 des Experiments von sich gegeben haben – mithilfe des Neuroimplantats, das ihm die Studienleiter an Tag 0 eingesetzt hatten. Der 1985 geborene, an ALS erkrankte Patient leidet seit 2017 an dem vollständigen Locked-in-Syndrom (CLIS), durch das er jegliche willentliche Muskelaktivität vollständig verloren hat. Sogar die Fähigkeit mithilfe von Augenbewegungen oder -zwinkern zu kommunizieren hatte er bei Studienbeginn nicht mehr.

Der Durchbruch ist den Studienleitern nach eigenen Angaben mithilfe eines sogenannten Brain-Computer-Interface (BCI) gelungen. Dieses ermöglicht dem Gehirn, direkte Befehle an einen technischen Schaltkreis weiterzugeben und so Maschinen zu steuern. In ihrer Studie, die in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht wurde, berichten die 14 Autoren aus der Schweiz und Deutschland von einer erfolgreichen Implantierung eines solchen BCIs – und davon, dass dieses dem Patienten ermöglichte, direkte Wünsche und Äußerungen von sich zu geben. Darunter: „Gulaschsuppe und dann Erbsensuppe“ an Tag 253 und „Ich liebe meinen coolen Sohn“ an Tag 251.

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Versuchsablauf und Erfolge

Die Operation zum Einsetzen des BCI fand im März 2019 statt. „Dem Patienten wurden unter Vollnarkose zwei Mikroelektroden-Arrays in den dominanten linken motorischen Kortex implantiert“, heißt es in der Studie. Bis es allerdings zu konkreten Aussagen wie denen an Tag 247 oder 253 kam, war es nach der Operation noch ein langer Weg. Denn zunächst wurde die Nutzung des Geräts mit dem Patienten trainiert – das Gerät muss quasi lernen, die Gedanken des Patienten zu lesen. Dazu muss dieser sich bestimmte Augenbewegungen vorstellen, die dann wiederum bestimmte Hirnströme aktivieren, die die Software einem Tonsignal zuordnen kann. Ziel war es, dass der Patient auf diese Weise gezielt Ja oder Nein antworten kann, wenn ein sogenannter Speller dem Patienten mithilfe Künstlicher Intelligenz Buchstaben vorschlug.

Während der ersten 135 Tage des Experiments unternahmen die Studienleiter 107 Versuche, dem Patienten mithilfe dieser Methode eine verständliche Aussage zu entlocken – bis es an Tag 107 nach der Implantation endlich dazu kam. „Erst mal moechte ich mich niels und seine birbaumer bedanke“ ist laut Studie unter seinen ersten verständlichen Äußerungen. Ab diesem Zeitpunkt gibt es immer wieder Tage, an denen der Patient Sätze bilden kann. So fragt er beispielsweise an Tag 251 nach mehr Augengel und an Tag 461 bittet er darum, dass das Kopfteil des Bettes höher gestellt wird, wenn Besuch in seinem Zimmer ist.

Trotz dieser Erfolge steht die Forschung zur Kommunikation vollständig gelähmter Patienten mithilfe von derartigen Hirn-Computer-Schnittstellen noch am Anfang. Die Ergebnisse der Studie zeigen: Von den mehr als 460 Tagen, die das Experiment andauert, kommt es nur vereinzelt zu einer erfolgreichen Nutzung der Technologie. Vor allem gegen Ende des Zeitraums überwiegen die erfolglosen Nutzungsversuche. Zusätzlich dauert es durchschnittlich ein bis zwei Minuten, bis der Patient einen Buchstaben bilden kann und auch der Zeitraum, in dem der Patient das Gerät am Stück nutzen kann, variiert täglich: „An manchen Tagen bildete er unter 100 Buchstaben, an anderen wiederum mehr als 400“. Ein flüssiges Gespräch ist an keinem Zeitpunkt des Experiments möglich.

BELIEBT

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    Kontroverse um Autoren Chaudhary und Birbaumer

    Die Studie markiert einen vielversprechenden Anfang in der Arbeit mit BCIs bei ALS-Patienten. Doch sie erscheint auch im Nachgang einer wissenschaftlichen Kontroverse aus dem Jahr 2019. 

    Zwei der Autoren der Studie, Hirnforscher Niels Birbaumer und Hauptautor und Hirnforscher Ujwal Chaudhary, arbeiten schon länger daran, CLIS-Patienten das Kommunizieren wieder zu ermöglichen. Aber während die Ergebnisse der aktuellen Studie bisher als fundiert gelten, waren die beiden durch zwei vorherige Publikationen im Jahr 2017 und 2018 in Probleme geraten. Die Ergebnisse jener Publikationen wurden 2019 vom Untersuchungsausschuss der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wegen des Vorwurfs wissenschaftlichen Fehlverhaltens überprüft. Das Ergebnis: Sie mussten ihre Publikationen wegen „mehrerer Fälle wissenschaftlichen Fehlverhaltens” zurückziehen.

    Wie in den 2017 und 2018 erschienenen Publikationen erscheint Chaudhary auch in der aktuellen Studie als Hauptautor – und Birbaumer als Mitwirkender. Diesmal arbeiteten sie jedoch mit Wissenschaftlern des Schweizer Wyss Centers zusammen. Und auch die Methode unterscheidet sich von den vorherigen beiden Studien: Denn in der aktuellen Studie gingen sie mithilfe des Gehirnimplantans invasiv vor. Die DFG gab an, die neue Studie Chaudharys und Birbaumers prüfen zu wollen.

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