Mögliches Warnsignal entdeckt: Ist der Plötzliche Kindstod jetzt vermeidbar?

Der Plötzliche Säuglingstod ist so schrecklich wie rätselhaft: Tausende Babys sterben jedes Jahr im Schlaf, ohne dass klar ist, wieso. Australische Wissenschaftler haben nun möglicherweise auf der Suche nach der Ursache einen Durchbruch erzielt.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 3. Juni 2022, 15:55 MESZ
Bisher ist es unmöglich, vorauszusagen, ob ein Baby vom Plötzlichen Kindstod betroffen sein wird. Die Erkenntnisse ...

Bisher ist es unmöglich, vorauszusagen, ob ein Baby vom Plötzlichen Kindstod betroffen sein wird. Die Erkenntnisse der neuen Studie könnten jedoch zu einer Erweiterung des Neugeborenen-Screenings führen, die die Erkennung einer Neigung zum SID direkt nach der Geburt möglich macht, sodass Vorsorgemaßnahmen getroffen werden können.

Foto von Christian Bowen

Es ist die Angst vor einer unsichtbaren Gefahr, die Eltern immer wieder prüfen lässt, ob ihr Baby wirklich nur ruhig und friedlich schläft – oder aufgehört hat, zu atmen. Als Plötzlichen Säuglingstod – kurz SID für „Sudden Infant Death“ – bezeichnet man den Tod eines zuvor noch gesund erschienenen Säuglings im Schlaf. Laut Informationen der Gemeinsamen Elterninitiative Plötzlicher Säuglingstod Deutschland (GESP) ist eines von tausend lebendgeborenen Kindern im Alter von acht Tagen bis einem Jahr davon betroffen, in den westlichen Ländern ist SID mit fast 50 Prozent die häufigste Ursache aller postneonatalen Todesfälle.

Der Plötzliche Säuglingstod tritt weltweit und in allen sozialen Schichten auf. Inzwischen ist bekannt, dass Frühgeborene, besonders leichte Babys und Kinder von drogenabhängigen Müttern häufiger an SID sterben. Zwar konnten die Fallzahlen in den vergangenen Jahrzehnten durch risikomindernde Maßnahmen sukzessive reduziert werden, doch trotzdem sterben noch immer Babys am Plötzlichen Säuglingstod – und niemand weiß, warum.

„Ein scheinbar gesundes Baby, das einschläft und nicht mehr aufwacht, ist der Albtraum aller Eltern“, sagt Carmel Harrington, Biochemikerin am Children’s Hospital Westmead in Sydney, Australien, deren eigener Sohn vor 29 Jahren am Plötzlichen Kindstod starb. „Bisher gab es keine Möglichkeit, vorauszusagen, welches Kind durch SID zu Tode kommen wird.“

Doch nun scheint es so, als wäre es Harrington und ihrem Team gelungen, ein Warnsignal für den Plötzlichen Kindstod auszumachen. Ihrer Studie zufolge, die in der Zeitschrift eBioMedicine veröffentlicht wurde, verhindert ein Enzym im Gehirn der Babys, dass diese aus dem Schlaf aufschrecken, wenn ihre Atmung aussetzt.

Erregungsdefizit durch Enzymmangel

Schon länger ging man davon aus, dass der Plötzliche Säuglingstod eintritt, weil in den betroffenen Babys ein Erregungsdefizit vorliegt, das wiederum dazu führt, dass sie nicht aus ihrem Schlaf erwachen, obwohl sie sich in Lebensgefahr befinden. „Wenn ein Baby mit einer lebensbedrohlichen Situation konfrontiert wird – zum Beispiel mit Atemnot während des Schlafs – wird es normalerweise wach und schreit“, erklärt Harrington. „Die Forschungsergebnisse zeigen, dass manche Babys nicht so stark auf Erregung reagieren. Bisher wussten wir aber nicht, was die Ursache dafür ist.“

Sie und ihr Team hatten jedoch eine Vermutung: Sie nahmen an, dass das Enzym Butyrylcholinesterase (BChE), das für die Erregungsleitung im Gehirn wichtig ist, eine entscheidende Rolle beim SID spielt. Um ihre Theorie zu überprüfen, analysierten die Forschenden 722 Proben getrockneten Kapillarbluts (DBS), die im Rahmen eines Neugeborenen-Screening-Programms entnommen worden waren. Die Eltern der Kinder hatten zuvor der Nutzung der Proben für anonymisierte Forschungszwecke zugestimmt.

Nachdem das Team die BChE-Werte in den Proben gemessen hatte, verglich es die Ergebnisse von Babys, die am Plötzlichen Kindstod verstorben waren, mit denen von überlebenden Säuglingen desselben Geburtsdatums und Geschlechts und mit solchen, die aus anderen Gründen gestorben waren. Bei Babys, die durch SID zu Tode gekommen waren, waren die BChE-Werte niedriger als in den Kontrollgruppen.

Erhöhtes Risiko für SID

„Das Chancenverhältnis für gesunde Babys im Vergleich zu Babys, die an SIDS starben, liegt der Studie zufolge zwischen 0,6 und 0,89“, sagt Peter Fleming, Professor für Kindermedizin an der University of Bristol, England. „Das bedeutet, dass das SIDS-Risiko für Babys mit niedrigen BChE-Werten um bis zu 66 Prozent höher ist.“ Damit sei das Risiko, das der Enzymmangel mit sich bringe, zwar messbar, jedoch nicht so relevant wie zum Beispiel der Faktor Rauchen in der Schwangerschaft: Durch ihn erhöhe sich das Risiko für SID um erschreckende 400 Prozent.

„Es ist eine kleine, aber gut gemachte Studie – sie ist wissenschaftlich hervorragend, aber die Zahl der Proben, die von Babys stammen, die am SID gestorben sind, ist gering“, sagt Fleming. Ihm zufolge reichen die Ergebnisse als Basis für standardmäßige Tests an einzelnen Babys zur Bestimmung des SID-Risikos noch nicht aus. „Wir müssen erst die Ergebnisse in einer größeren Studie verifizieren und untersuchen, wie das Ergebnis mit den anderen bekannten Risikofaktoren für SID zusammenhängt.“

Sollte sich aber herausstellen, dass der Mangel des Enzyms für das tödliche Erregungsdefizit verantwortlich ist, das zum Plötzlichen Kindstod führt, wäre Butyrylcholinesterase der erste biochemische Marker, der in diesem Zusammenhang identifiziert wurde – eine Erkenntnis, die dabei helfen könnte, ein erhöhtes Risiko für SID bei noch lebenden Babys festzustellen.

„Dadurch haben wir die Möglichkeit des frühzeitigen Eingreifens“, sagt Harrington. „Wir sind so in der Lage, mit Babys zu arbeiten, während sie noch leben, und dafür zu sorgen, dass sie weiterleben.“ Wenn weitere Studien die Ergebnisse der australischen Wissenschaftler stützen, könnte die Überprüfung des BChE-Biomarkers fester Bestandteil des standardmäßigen Neugeborenen-Screenings werden. Unterdessen arbeitet das Team an der Entwicklung von Methoden zur Behebung des Enzymmangels.

Trotz dieser möglichen Erklärung für den Tod aus dem Nichts bleibt es weiterhin wichtig, durch richtiges Verhalten das SID-Risiko für Neugeborene zu reduzieren: Babys sollten auf keinen Fall in Bauchlage schlafen, Kopf und Gesicht dürfen nicht bedeckt werden, die Schlafumgebung muss sicher und darf nicht zu warm, die Schlafunterlage nicht zu weich sein – und dass Rauchen im Umfeld des Säuglings strikt verboten ist, sollte für jeden selbstverständlich sein.

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