Erstaunliche Daten: Gab es vor 100 Jahren eine Corona-Pandemie?
In der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts wütete die Russische Grippe mit einer Million Opfern. Die moderne Medizin kommt allmählich den Geheimnissen dieser Pandemie auf die Spur: Handelte es sich bei dem Erreger um ein Corona-Virus?
Ein russisches Krankenhaus in einer Provinzstadt um 1890. Die sogenannte "Russische Grippe" forderte damals zahlreiche Opfer.
Was verbindet den englischen Prinzen Albert Victor, einst britischer Thronfolger, mit der deutschen Kaiserin Augusta, einst die Gemahlin von Wilhelm I.? Sie starben vermutlich beide an Corona, der eine mit 28, die andere mit 78 Jahren. Und infiziert hatten sich von den Fürsten am Ende des 19. Jahrhunderts unter anderem die britische Königin Victoria, der deutsche Kaiser Wilhelm II. oder auch Zar Alexander III. Der spätere britische Premier und Literaturnobelpreisträger Winston Churchill notierte schon als Jugendlicher über diese Ereignisse: „Die Reichen, die Armen, die Oberen, die Unteren, sie alle kennen die verschiedenen Symptome, bevor sie untergehen.“
Russische Grippe: Ähnliche Symptome wie Long Covid
An Corona? Nun ja, von 1889 bis 1895 wütete jedenfalls eine Atemwegserkrankung, die unter dem Namen „Russische Grippe“ firmierte – die erste echte Pandemie der Neuzeit. Weil diese Krankheit durch ihre ungewöhnlichen Symptome auffiel, die damalige Mediziner zu Protokoll gaben, glauben heutige Experten, dass es sich bei dem Erreger nicht um ein Grippe-, sondern um ein Corona-Virus handelte. Erste Indizien lieferte der Bericht des Londoner Arztes Henry Franklin Parsons (1846– 1913), der beschrieb, wie vornehmlich Ältere die neue Influenza nicht überlebten, Männer von schweren Verläufen stärker betroffen waren als Frauen und Kinder eher seltener. Er berichtete unter anderem von Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen sowie Übelkeit. Auch Phänomene, die dem heutigen Long Covid ähnelten, fielen den Ärzten auf: Depressionen lange nach der Infektion, Müdigkeit, Konzentrationsprobleme. Die Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin berichtete vom vorübergehenden Verlust des Geruchs- und Geschmackssinns bei Patienten.
Tatsächlich hatte sich der junge Churchill, wie viele damals, dahingehend geirrt, dass die unheimliche Krankheit so „demokratisch“ sei wie der Tod an sich. Denn von den eine Million Opfern dieser Pandemie waren die meisten natürlich sozial schwächer gestellt als die Reichen und Vornehmen, die sich eine bessere medizinische Versorgung, mehr Hygiene und in jedem Fall mehr Abstand zu den Massen leisten konnten. Es waren aber vor allem Vielreisende wie Geschäftsleute und Politiker, die das Virus von Bahnhof zu Bahnhof, von Hafen zu Hafen schleppten. Nur vier Monate benötigte die Seuche, um die ganze Welt zu umrunden, die zu jener Zeit etwa 1,5 Milliarden Menschen beheimatete.
Tod auf Weltreise: Woher kam die Pandemie?
Man sprach im Westen von der „russischen“ Grippe, weil die Forscher ihren Ursprung in Sankt Petersburg vermuteten. Doch ganz so einfach war die Sache nicht. Die industrielle Revolution nahm gerade Fahrt auf und mit ihr die Erschließung neuer Verkehrswege. Zar Alexander III. hatte die Strecke der Transsibirischen Eisenbahn erweitern lassen, nun hatte sie den Südostrand des Uralgebirges erreicht. Von dort trafen Berichte ein, dass im Sommer 1889 in den zentralasiatischen Ländern Kasachstan, dem Emirat Buchara (im heutigen Usbekistan) und Kirgisistan eine neue Atemwegserkrankung aufgetreten sei. Im September desselben Jahres tauchten in der Stadt Tscheljabinsk ebenfalls Patienten auf. Einen Monat später erwischte es schließlich Sankt Petersburg, und Weihnachten klopfte der Tod bereits in Wien, Berlin und Paris an die Krankenhaustüren.
Einmal unterwegs, gab es kein Halten mehr. Spätestens Anfang 1890 kam der Erreger nach London. Von dort gelangte er über die Häfen der Welt nach Nordamerika, Ostafrika, Indien und China, bald darauf über Borneo bis Australien und Neuseeland. Es ist anzunehmen, dass er sich gleichzeitig von Zentralasien und Westsibirien nach Osten auf den Weg machte. Jedenfalls war eine echte Pandemie geboren, die sich bis 1895 in vier Wellen mit unterschiedlicher Gefährlichkeit ausbreitete. Die überlieferten statistischen Daten hierzu sind zwangsläufig ungenau, da die Ärzte viele Todesfälle einfach unter „Lungenentzündung“ oder auch „Atemwegserkrankung“ verbuchten, viele Fälle hatten sie auch einfach nicht registriert.
War Edvard Munchs Bild „Der Schrei“ in seiner ersten Version von 1893 eine Reaktion auf die Schrecken der Russischen Grippe? Beweisen lässt sich ein Zusammenhang nicht, doch in Zeitungsberichten der 1890er lässt sich die Panik und Endzeitstimmung in der Bevölkerung erkennen.
Russische Grippe: Verwandt mit Covid 19?
Die Russische Grippe war schließlich die erste Infektionskrankheit, die sich mit einer für die damalige Wahrnehmung rasenden Geschwindigkeit um die Welt verbreitete. Was für heutige Forscher klar ersichtlich ist, nämlich die Ausbreitung entlang der neu erschlossenen Verkehrswege, das sprang nur wenigen ins Auge. Doch auch vor 130 Jahren berichteten schon Zeitungen in aller Welt – und zwar vor allem über eines: wie hilflos die Ärzte dem neuartigen Problem gegenüberstanden. London war hierbei exemplarisch für die munter vor sich hin orakelnde Presseszene, ob seriös wie die Londoner Times oder melodramatisch wie die Illustrated Police News, satirisch wie die Zeitschrift Punch oder aus feministischer Sicht wie in Women’s Penny Paper. Immerhin fiel den Journalisten auf, dass neben den berühmten Personen häufig Bahn- und Postangestellte betroffen waren. Zu den durchaus ernst gemeinten Empfehlungen für eine Therapie gehörten zum Beispiel die Einnahme von Opium oder Chinin sowie – der unsterbliche Klassiker – ein ordentlicher Schluck aus der Pulle.
Dass wiederum die Symptome der Russischen Grippe denen von Covid 19 so ähnlich sind, bemerkte die dänische Epidemiologin Lone Simonsen von der Universität Roskilde im Jahr 2020, als sie historische Krankheitsdaten auswertete. Es war bekannt, dass Corona-Viren besonders gefährlich sein können, wenn sie Tiere zum Wirt hatten, denn das menschliche Immunsystem ist dann bei einer Übertragung „ratlos“ und überfordert. Simonsen gelang mit einem Team von Bio-Informatikern und Computertechnik eine Rückmutation von HCoVOC43, wobei sie auf ältere Blutproben von Menschen und Tieren zurückgriff. Sie konnte damit frühere Vermutungen mit hoher Wahrscheinlichkeit bestätigen.
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