Motonormativity: Warum uns die Nachteile von Autos oft egal sind
Zu schnelles Fahren, Falschparken und Luftverpestung: In keinem Lebensbereich wird unsoziales Verhalten so wenig geahndet wie im Autoverkehr. Warum es vielen schwerfällt, das Thema Auto objektiv zu betrachten.
Volle Innenstädte, hohe Feinstaubbelastung und tägliche Unfälle – die Normalisierung des Autos schadet uns in vielen Lebensbereichen.
Belästigung, Nachlässigkeit bei der Lebensmittelsicherheit oder Zigarettenrauch in Menschenmengen: Antisoziales Verhalten, das der Gesamtgesellschaft schadet, wird meist vom Großteil der Bevölkerung abgelehnt.
Anders, wenn es um Autos geht. Da scheint der moralische und soziale Kompass vieler Menschen plötzlich anders zu funktionieren. Weder Tempolimits in Innenstädten zugunsten der Gesundheit noch Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen für den Umweltschutz können hierzulande eine Mehrheit gewinnen. Gleichzeitig wird das Überschreiten der Geschwindigkeitsbegrenzung oder Falschparken als Kavaliersdelikt abgetan – und gesellschaftlich weitestgehend akzeptiert.
Doch wie kommt es zu dieser Doppelmoral? Ein Forschungsteam aus England hat das Phänomen nun untersucht und konkret benannt: Der Begriff Motonormativity beschreibt, wie normalisiert der Autoverkehr und die damit zusammenhängenden Gefahren in vielen Ländern mittlerweile sind – und warum es vielen so schwer fällt, das Thema objektiv anzugehen.
Gehören Abgase, Unfälle und Co. zu unserem Leben?
Im Rahmen ihrer Studie, die bislang auf dem Preprint-Server PsyArXiv veröffentlicht wurde, hat das Team um den Verkehrs- und Umweltpsychologen Ian Walker von der Swansea University in Wales unbewusste Vorurteile zugunsten von Privatfahrzeugen aufgedeckt. Dazu befragte das Team 2.000 Engländer*innen nach ihrer Meinung zu Sicherheitsmaßnahmen in verschiedenen Lebensbereichen und stellte diese ihrer Einstellung zum Autoverkehr gegenüber.
Autos dicht an dich, gemeinsam mit Fußgänger*innen und Radfahrer*innen: Feinstaubkonzentrationen in Innenstädten steigen – und gefährden die Gesundheit.
Darunter beispielsweise Aussagen wie „Menschen sollten nicht in dicht besiedelten Gebieten fahren, wo andere Menschen die Abgase einatmen müssen“ versus „Menschen sollten nicht in dicht besiedelten Gebieten rauchen, in denen andere Menschen die Zigarettenabgase einatmen müssen“. Oder „Es hat keinen Sinn, von den Menschen zu erwarten, dass sie weniger Auto fahren, also muss die Gesellschaft einfach alle negativen Folgen akzeptieren, die dadurch entstehen“ versus „Es hat keinen Sinn, von den Menschen zu erwarten, dass sie weniger Alkohol trinken, also muss die Gesellschaft einfach die negativen Folgen akzeptieren, die Alkohol verursacht“.
Das Ergebnis war eindeutig: 75 Prozent der Menschen fanden, man solle in größeren Menschenmengen nicht rauchen, aber nur 17 Prozent stimmten zu, dass Autoabgase in größeren Menschenmengen nichts verloren hätten. Ähnliches passierte bei der Frage zur Akzeptanz negativer Folgen einzelner Verhaltensweisen: Während 52 Prozent der Befragten denken, man könne Menschen durch bestimmte Maßnahmen dazu bringen, weniger Alkohol zu trinken, glauben nur 31 Prozent, dass es generell möglich sei, Menschen dazu zu bringen, weniger Auto zu fahren.
„Unsere Umfrage zeigt, dass die Menschen abhängig davon, ob es sich um eine Frage des Fahrens oder des Nicht-Fahrens handelt, einer gesundheits- oder risikobezogenen Aussage zustimmen oder sie ablehnen“, heißt es in der Studie.
Motonormativity: Negative Folgen des Autofahrens sind normalisiert
Der Begriff Motonormativity, mit dem Walker und sein Team dieses Phänomen beschreiben, ist angelehnt an den englischen Begriff Heteronormativity. Dieser beschreibt, wie Heterosexualität in allen Bereichen des Lebens als Normzustand angenommen wird – ebenso wie laut der Studie die Existenz von Autos als nicht änderbarer Teil des Lebens gesehen wird. Deshalb verschließen wir laut Walker und seinem Team auch die Augen vor den negativen Folgen des Autofahrens.
“Unsere Studie zeigt, dass wir Menschen im spezifischen Kontext des motorisierten Individualverkehrs eine kulturelle Unfähigkeit haben, objektiv und leidenschaftslos zu denken.”
„Unsere Studie zeigt, dass wir Menschen im spezifischen Kontext des motorisierten Individualverkehrs eine kulturelle Unfähigkeit haben, objektiv und leidenschaftslos zu denken“, heißt es in der Studie. Weder auf individueller noch auf gesellschaftlicher und politischer Ebene gelinge es deshalb, umfassende Veränderungen zur Verbesserung unserer Gesundheit und Umwelt zu treffen, die die Nutzung des Autos einschränken.
Deutschland als unbelehrbare Autonation?
Das zeigen auch Zahlen aus Deutschland. Obwohl mittlerweile mehrere Studien beweisen, dass durch ein Tempolimit von 30 km/h in Innenstädten sowohl die gesundheitsschädliche Lärmbelastung als auch das Unfallrisiko erheblich sinkt, sind nur etwa ein Drittel der Deutschen für eine landesweite Durchsetzung dieser Geschwindigkeitsbegrenzung. Gleiches gilt für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen zugunsten der Umwelt: Bei diesem Thema sind laut Umfragen zwar über die Hälfte der Deutschen für eine Geschwindigkeitsbegrenzung, die Politik tut sich mit einer Umsetzung aber außerordentlich schwer.
Gleichzeitig steigt die Zahl der gemeldeten PKWs in Deutschland an: Am 1. Januar 2023 erreichte sie mit rund 48,76 Millionen Fahrzeugen den höchsten Wert aller Zeiten. Laut Walker und seinem Team reflektieren solche Zahlen, wie sehr sich das Auto in unserer Gesellschaft mittlerweile etabliert hat. Zu unseren „unconscious bias“, die die Studie aufdeckt – also dem unbewussten Doppelstandard in Bezug auf Autos – trage außerdem die positive Darstellung von Fahrzeugen in Film, Fernsehen und Werbung bei.
Deutschland: Das Auto als Grundrecht?
Gerade Deutschland scheint meilenweit entfernt von einer umfassenden Verkehrswende in Richtung öffentlichem Nah- und Fernverkehr. Das zeigt auch die Gesetzgebung. „Geschwindigkeitsübertretungen zum Beispiel sind ein illegales Verhalten, das von den meisten Autofahrer*innen praktiziert wird und in der Öffentlichkeit, den Medien und der Justiz breite Zustimmung findet“, schreiben die Forschenden.
Geblitzt werden ist lang kein Grund zur Scham und auch das Strafmaß ist verhältnismäßig gering. So kostet eine Überschreitung des Tempolimits von 15 km/h innerorts gerade einmal 50 Euro Strafe, einen Punkt in Flensburg gibt es erst ab einer Überschreitung von 21 bis 25 km/h.
Auch der Umgang mit den Klimaprotesten der Letzten Generation zeigt diese Doppelmoral auf. Wut über versperrte Straßen führt bei vielen Autofahrenden immer wieder zu Gewalttaten gegenüber den Protestierenden – eine Körperverletzung wird offenbar als geringeres Vergehen gewertet als das Versperren einer Straße.
Doch wie überwinden wir die Motonormativity? Walker und seine Kollegen sehen die einzige Lösung in einem gesamtgesellschaftlichen Umdenken – vor allem in der Politik: „Unser Aufruf an die Entscheidungsträger lautet nun, sich ihrer eigenen individuellen und institutionellen unbewussten Voreingenommenheit bewusst zu werden und zu erkennen, wie sich diese auf die Gesundheit und Lebensqualität anderer auswirkt.“ Zusätzlich müsse sich jeder Mensch der „kulturellen Brille des normalisierten autozentrierten Denkens“ bewusst werden – auch das sei bereits ein Anfang.
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