„Frauen und Kinder zuerst“: Mythos oder tatsächliches Seefahrtsgebot?

Der Satz „Frauen und Kinder zuerst“ wird in Hollywood immer wieder in Szene gesetzt. Doch wird das Gebot auf See tatsächlich angewandt? Und haben Frauen und Kinder bei Schiffsunglücken tatsächlich eine höhere Überlebenschance?

Von Lisa Lamm
Veröffentlicht am 19. Aug. 2024, 10:26 MESZ
Schwarz-weiß-Bild des gefüllten Rettungsbootes.

Rettungsboot D der Titanic. An Bord sind fast ausschließlich Frauen und Kinder.

Foto von J.W. Barker, The Sphere 1912

„Frauen und Kinder zuerst.“ Spätestens seit dem Film Titanic aus dem Jahr 1997 ist dieser Satz der Öffentlichkeit bekannt. Auf dem Passagierdampfer, der im Jahr 1912 sank, wurde er tatsächlich umgesetzt und führte dazu, dass die Überlebenschance von Frauen dreimal so hoch war wie die der Männer: 73 Prozent der Frauen und nur 19 Prozent der Männer an Bord überlebten die Katastrophe.

Dieser Umstand hat dazu geführt, dass das Motto „Frauen und Kinder zuerst“ als maritimes Gesetz wahrgenommen wird – und den Glauben verbreitet, Frauen und Kinder hätten bei Schiffsunglücken generell einen Überlebensvorteil. Dabei ist der Fall der Titanic eine Ausnahme.

Schwarz-weiß-Bild des gefüllten Rettungsbootes.

Rettungsboot D der Titanic. An Bord sind fast ausschließlich Frauen und Kinder.

Foto von J.W. Barker, The Sphere 1912

Untergang der HMS Birkenhead

Bekannt ist das Motto auch als der Birkenhead Drill, benannt nach der HMS Birkenhead. Im Jahr 1852 geriet das Schiff vor der Küste Kapstadts in Seenot. Etwa 650 Menschen, darunter hauptsächlich Soldaten und einige zivile Frauen und Kinder, waren an Bord, als es einen Fels rammte und sank. Laut Überlieferung war ein Oberstleutnant an Bord, der im Zuge der Evakuierung befahl: Frauen und Kinder verlassen das Schiff zuerst. 

Schätzungsweise 200 Passagier*innen überlebten das Unglück, darunter sieben der 25 Frauen und 13 der 31 Kinder an Bord. Berichten zufolge wurde ihnen beim Besetzen der Rettungsboote tatsächlich der Vortritt gelassen, während die Soldaten warteten.

Frauen haben bei Schiffsunglücken schlechtere Überlebenschancen

Eine allgemeingültige Regel ist der Birkenhead Drill aber nicht. Das zeigt auch die Studie eines Forschungsteams der Universität Uppsala in Schweden. „Es herrscht die weit verbreitete Meinung, dass die soziale Norm Frauen und Kinder zuerst Frauen bei maritimen Katastrophen einen Überlebensvorteil gegenüber Männern verschafft“, heißt es darin. Vielmehr sei es aber so, dass „Frauen im Vergleich zu Männern einen deutlichen Überlebensnachteil haben“.

Das belegen die Forschenden anhand der Analyse von 18 Schiffsunglücken – darunter auch das Birkenhead- und das Titanic-Unglück – mit insgesamt 15.000 beteiligten Passagier*innen. Deutlich wird dabei, dass die Fälle, in denen der Kapitän oder ein Crewmitglied den Befehl „Frauen und Kinder zuerst“ gab, eher im 18. und 19. Jahrhundert zu finden sind und selbst damals nicht die Regel waren. Bei späteren Schiffsunglücken wurde der Leitspruch noch seltener angewendet. Insgesamt ist die Überlebensrate von Frauen bei Schiffsunglücken der Studie zufolge nur etwa halb so hoch wie die von Männern.

BELIEBT

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    Der verrostete Bug der Titanic liegt auf dem Grund des Nordatlantiks.

    Schicksal von Frauen und Kindern in Schiffsunglücken

    Laut dem Evakuierungsspezialisten Ed Galea wäre eine systematische Bevorzugung von Frauen und Kindern bei der Befüllung der Rettungsboote auch kaum möglich. Nach dem Costa Concordia-Unglück im Jahr 2012 sagte er gegenüber dem Guardian: „Es gibt keine internationalen Vorschriften dazu, wer zuerst dran ist. Die ganze ‚Frauen und Kinder zuerst‘-Sache kommt aus Hollywood. Schiffsunglücke sind ein Wettlauf mit der Zeit, bei dem so schnell wie möglich evakuiert werden muss.“

    Und tatsächlich hat der Befehl im Fall der Titanic zu tödlichen Problemen in der Umsetzung geführt. Eines der führenden Crewmitglieder deutete bei der Evakuierung Aufzeichnungen zufolge das Gebot ‚Frauen und Kinder zuerst‘ in ‚nur Frauen und Kinder‘ um und ließ keine Männer in die Rettungsboote – obwohl in ihnen noch Platz war. So überlebten nur 161 von 843 Männer der männlichen Passagiere das Unglück.

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