Bergung eines 400 Jahre alten Wracks: Wie bei Lübeck ein Stück Geschichte gerettet wird

Im 17. Jahrhundert sank in der Trave ein vollbeladenes Handelsschiff. Im Jahr 2020 wurde es zufällig entdeckt. Nun haben die Bergungsarbeiten begonnen. National Geographic hat das aufwändige Unterfangen begleitet.

Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 9. Juni 2023, 11:59 MESZ
Ein Taucher springt vom Bergungsschiff in die Trave.

In der Trave bei Lübeck wird ein Wrack aus dem 17. Jahrhundert geborgen. In der westlichen Ostsee ist dieser Fund bisher einmalig.

Foto von O. Malzahn / Hansestadt Lübeck

Es ist warm und windstill, der Himmel blau, die ruhig dahinfließende Trave glitzert im Sonnenschein. Gestört wird die Idylle nur durch das laute, mechanische Brummen des Krans an Bord des Bergungsschiffs St Perun, der eine schwere Last aus dem Wasser zieht. Am Ende des Stahlseils hängt ein großes, steinartiges Gebilde. In den Tiefen und Kerben seiner Oberfläche sitzen Muscheln, an der Seite ist ein blaues Schild mit der Zahl 001 befestigt. Ein Crewmitglied leitet den an grünen Gurten befestigten Block über ein Bett aus Sandsäcken, wo er vorsichtig zu Boden gelassen wird. Der riesige, modrig riechende Klumpen sieht nicht spektakulär aus – doch er ist eine Sensation.

Vor rund 400 Jahren sank hier, in der heutigen Fahrrinne der Trave zwischen Lübeck und Travemünde, ein voll beladenes Handelsschiff. Der Block ist Teil dieser Ladung: Branntkalk, der durch den Kontakt mit dem Travewasser erhärtet ist. Er ist außerdem das erste Stück dieses historischen Unterwasserfunds, das nun geborgen wurde. Viele mehr sollen in den nächsten Monaten folgen: Wie Modelle des 20 bis 25 Meter langen Wracks zeigen, befinden sich rund 170 dieser Branntkalkblöcke in elf bis zwölf Metern Tiefe im oder rund um das Wrack verstreut auf dem Grund. Erst wenn sie geborgen sind, ist der Weg zu den Überresten des eigentlichen Schiffs frei.

Außergewöhnlicher Unterwasserfund

Bis mit den Arbeiten begonnen werden konnte, verging viel Zeit. Bereits im Februar 2020 stellte das Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt (WSA) Ostsee bei einer routinemäßigen Kontrolle der Fahrrinne am Grund der Trave eine schiffförmige Unebenheit fest. Im August 2021 untersuchten Taucher des WSA die Stelle und berichteten, dass es sich bei der Anomalie um ein Holzschiff mit betonartiger Ladung handele. Drei Monate später bestätigten Unterwasserarchäologen den historischen Ursprung des Wracks.

Bis beschlossen wurde, wie mit dem Fund weiter verfahren werden sollte, wurden er und die Fundstelle streng geheim gehalten – auch aus Sorge davor, dass Unbefugte sich an dem Wrack zu schaffen machen könnten, das in der westlichen Ostsee bisher einzigartig ist.

Geländemodell des Schiffswracks am Grund der Trave.

Dieses mit dem Seitensichtsonar erstellte Geländemodell des Wasserstraßen- und Schifffahrtsamt (WSA) Ostsee, das im Oktober 2021 entstand, zeigt das Wrack am Grund der Trave. Bei den kugelförmigen Erhebungen handelt es sich um die Überreste der Branntkalkfässer, mit denen das Schiff voll beladen war.

Foto von WSA Ostsee

Ingrid Sudhoff, Leiterin der Abteilung für Archäologie der Stadt Lübeck, ist erleichtert, dass nun endlich mit den Bergungsarbeiten begonnen wird – zumal dieser Entschluss alles andere als selbstverständlich war. „Es muss immer erst entschieden werden, was das Beste für das Bodendenkmal ist“, sagt sie. Für den Erhalt archäologischer Befunde ist es manchmal vorteilhafter, sie an Ort und Stelle zu belassen. Darum wurde auch die Möglichkeit einer Überdeckelung des Wracks in Erwägung gezogen, aufgrund seiner Lage hätte dies aber ein Risiko für den Schiffsverkehr dargestellt.

Nichts zu unternehmen war aber auch keine Lösung, wollte man den Fund bewahren. Das Wrack wurde vermutlich unbemerkt beim Ausbaggern der Fahrrinne teilweise freigelegt. Neben den typischen Verfallserscheinungen weist es auch einige Beschädigungen auf, die sowohl auf diese Arbeiten, aber auch auf Ankerwürfe zurückzuführen sind. Außerdem gibt es in der Trave aufgrund des steigenden Salzgehalts immer mehr Schiffsbohrmuscheln, die sich von Holz ernähren. Ließe man das Schiff ungeschützt am Grund liegen, „wäre es in ein paar Jahren zerfressen“, so Isger V. Sommer, Archäologe und freier Mitarbeiter der Firma Archcom, die schließlich mit den Bergungsarbeiten beauftragt wurde.

Die Zeit drängte also. Trotzdem dauerte es nach der Entdeckung fast drei Jahre, bis über das Schicksal des Wracks entschieden war und die Lübecker Bürgerschaft der Übernahme der nicht unerheblichen Kosten – allein die Bergung schlägt mit 2 Millionen Euro zu Buche – zugestimmt hatte. Dann konnte es endlich losgehen.

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    Sorgfältige Bergung und Konservierung

    Vor der Bergung des ersten Wrackteils führten die Unterwasserarchäologen von Archcom mehrere Tauchgänge durch, bei denen sie den Zustand des Wracks erfassten und es markierten. Außerdem legten sie ein Rastersystem an, das in den verschiedenen Phasen der Bergung eine genaue Dokumentation ermöglichen soll.

    Die Bergungsarbeiten werden voraussichtlich bis Ende August 2023 andauern. In dieser Zeit ist die Archcom-Crew an sieben Tagen der Woche rund zehn Stunden täglich vor Ort, um Ladung und Wrackteile Stück für Stück an die Oberfläche zu holen. Währenddessen geht der Schifffahrtsbetrieb in der Trave mit wenigen Ausnahmen uneingeschränkt weiter. 

    Bergungsschiff St Perun auf der Trave.

    Die St Perun bricht zur Bergung des ersten Wrackteils auf. Auf dem Schiff befinden sich drei Container mit dem Equipment der Firma Archcom. 

    Foto von Katarina Fischer

    Zunächst entfernen schlauchversorgte Taucher mithilfe von Unterwassersaugern schonend die Sedimente, die die Wrackteile umgeben. Sind sie freigelegt, werden sie mit Schlaufen am Kran der St Perun befestigt und aus der Trave gehoben. Größere Teile müssen zuvor vorsichtig zerlegt werden.

    Die geborgenen Fragmente des Schiffs werden anschließend in einer eigens angemieteten Halle im Lübecker Stadtteil Schlutup gesäubert, beprobt, gescannt und in Bild und textlicher Beschreibung erfasst. So entsteht eine Datenbank, mit der jedes Detail des Fundes nachvollzogen werden kann, und die als Basis für eine spätere maßstabsgetreue Rekonstruktion des ehemaligen Hanseschiffs dient.

    Die korrekte Konservierung der Fundstücke hat oberste Priorität. Vor allem die hölzernen Bestandteile des Wracks sind extrem verfallsanfällig und müssen nach der Bergung schnell wieder in eine wässrige Umgebung gebracht werden. Zu diesem Zweck wurden in der Schlutuper Haller sieben riesige Bassins mit Leitungswasser und Umwälzungsanlagen installiert. Hier sollen die Holzteile vier bis sechs Jahre lagern – so lange dauert es, je nach Größe, bis bei einem monatlichen Wasserwechsel Mikroorganismen und das salzige Wasser der Trave aus ihnen herausgewaschen sind.  

    Der Geschichte des Wracks auf der Spur

    Die drängendsten Fragen, die sich hinsichtlich des Wracks stellen, betreffen seine Herkunft, seine Besatzung, die Besitzverhältnisse und die genaue Datierung. Projektleiter Felix Rösch, Unterwasserarchäologe der Hansestadt Lübeck, betreut die Forschungsarbeiten, seit das Schiff entdeckt wurde. Gemeinsam mit seinem Kollegen Fritz Jürgens und dessen Team von der Universität Kiel war er an den ersten archäologischen Tauchgängen im November 2021 beteiligt. Als die beiden Archäologen von dem Wrack erfuhren, wussten sie sofort: Das ist etwas Besonderes. „So etwas hat man nur einmal im Leben“, sagt Rösch.

    Die Unterwasserarchäologen Felix Rösch und Fritz Jürgens berichten im Rahmen eines Vortrags im Europäischen Hansemuseum in Lübeck von den Erkenntnissen aus den ersten Untersuchungen des Wracks.

    Basierend auf den Erkenntnissen aus den ersten Untersuchungen vermuten die Wissenschaftler, dass das zwei- bis dreimastige Schiff aus dem 17. Jahrhundert stammt. Die dendrologische Analyse des Holzes hat ergeben, dass das Holz der Planken mit großer Wahrscheinlichkeit von Kiefern stammt, die um 1650 in Südschweden gefällt wurden. Die Spanten sind aus Eichenholz aus Schleswig-Holstein.

    Für die zeitliche Einordnung ist auch die Kraweelbauweise des Schiffs relevant. Dieser Schiffstyp war zunächst auf den Mittelmeerraum beschränkt, erst ab dem 15. Jahrhundert verbreitete er sich in Nordeuropa. Auch in Lübeck begann man, Schiffe auf diese Weise zu bauen, unter anderem, weil dafür weniger Material gebraucht wurde als bei der zuvor geläufigen Skelettbauweise. Zwischen 1560 und 1800 gingen in der Hansestadt fast 2.500 Schiffe verschiedener Typen vom Stapel. Es ist durchaus möglich, dass auch das Hanseschiff, das derzeit noch auf dem Grund der Trave liegt, einst hier gebaut wurde. Die Archäologen hoffen, dass die Wrackteile genauere Hinweise dazu liefern werden.

    Havarie kurz vor dem Ziel: Warum sank das Hanseschiff?

    Der Branntkalk, der in Fässern auf dem Schiff transportiert wurde, hat seinen Ursprung vermutlich im schwedischen Gotland oder Öland. Der Handel mit dem Baustoff, der zur Herstellung von Mörtel benötigt wurde, ist für Lübeck seit 1460 belegt. Mit der sogenannten Versteinerung Lübecks stieg die Nachfrage im 17. Jahrhundert so rasant an, dass regionale Quellen den Bedarf nicht mehr decken konnten und der Import boomte.

    Für Nachschub sollte auch das Hanseschiff sorgen, das sich vor seiner Havarie vollbeladen – seine Fracht wog wohl um die 60 Tonnen – dem Hafen der Stadt näherte. Kurz vor dem Ziel musste es jedoch die enge Trave durchfahren und auf Höhe einer Landzunge namens Stülper Huk eine besonders herausfordernde Stelle passieren.

    Teil des Schiffswracks mit zwei Tauchern.

    Bevor die Trave Ende des 19. Jahrhunderts erstmals ausgebaggert wurde, befand sich hier ein Sandhaken, der fast bis ans gegenüberliegende Mecklenburger Ufer heranreichte. Schiffe mussten um diesen Haken herumnavigieren. Erschwert wurde das Manöver durch die starke Strömung an der verengten Stelle und die geringe Tiefe von nur vier bis acht Metern.

    Vermutlich lief das schwere Schiff hier kurz vor seinem Ziel auf Grund. Wasser drang in die Laderäume ein und es begann eine Kettenreaktion, bei der der Branntkalk in den Fässern aufquoll, sich extrem erhitzte und vielleicht sogar Feuer und Explosionen auslöste. Da das Ufer nah war, konnten sich die Mitglieder der Besatzung, die schwimmen konnten, eventuell an Land retten. Doch Ladung und Schiff sanken und waren verloren. „Das hat jemanden ganz schön viel Geld gekostet“, sagt Dirk Rieger, Leiter des Bereichs Archäologie und Denkmalpflege der Hansestadt Lübeck, schmunzelnd. Er meint den Reeder oder den Kaufmann, in dessen Auftrag die Fracht nach Lübeck verschifft wurde.

    Hoffnung auf Kleinfunde

    Wer diese Person war, ist eines der Rätsel, bei deren Lösung die Bergung helfen soll. Fritz Jürgens hat sich bereits im Lübecker Archiv auf die Suche nach Schriftstücken gemacht, die im Zusammenhang mit dem Wrack stehen könnten. Doch erst, wenn das Schiff vollständig geborgen und im Detail untersucht ist, kann konkret nachgeforscht werden. Vielversprechend ist zum Beispiel ein vier Meter langes Fragment der Bordwand, das etwas abseits des Schiffsrumpfes gefunden wurde und möglicherweise einst Teil des Hecks war.

    Abgebrochene Bordwand des Schiffswracks am Grund der Trave.

    Bei einem Kontrolltauchgang drei Tage vor der ersten Bergungsfahrt entstand dieses Bild einer vier mal vier Meter großen abgebrochenen Bordwand am Grund der Trave.

    Foto von Felix Rösch

    Darüber hinaus hoffen die Forschenden auf Kleinfunde – also Gegenstände, die die Besatzung an Bord zurücklassen musste. „Es gab ja das Leben an Bord“, sagt Isger Sommer. Doch bis diese Stücke vom Grund geholt werden können, werden erst die großen Teile und die Ladung des Hanseschiffs geborgen. „Erst kommt das Wrack, dann das Besteck.“

    Die an dem Projekt beteiligten Forschenden müssen sich also noch eine Weile in Geduld üben. „Die nächsten Jahre wird konserviert und präpariert – und dann wird diskutiert, wie es weitergeht“, sagt der Lübecker Bürgermeister Jan Lindenau. Wie die Bergungsarbeiten vorangehen und welche spannenden Geheimnisse das Hanseschiffwrack preisgibt, kann man unterdessen online im Bergungslogbuch verfolgen.

    Der Anfang des Forschungsprojekts ist in Form eines großen, unscheinbar wirkenden Klumpens gemacht. Kurz nachdem er nach fast 400 Jahren aus der Trave gehoben, mit weißem Geotextil abgedeckt und gewässert wurde, platziert der Kran einen weiteren muschelbesetzten Block direkt neben ihm an Bord der St Perun. Er trägt die Nummer 002.

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