Kann Künstliche Intelligenz den Tod vorhersagen?

Ein Forschungsteam hat das KI-Tool life2vec entwickelt, das Prognosen zum individuellen Verlauf eines Menschenlebens erstellen kann – und zum Sterberisiko.

Ein Friedhof in Elmshorn, Schleswig-Holstein. Wann ihr Leben enden wird, ist eine Frage, die viele Menschen beschäftigt, aber von niemandem beantwortet werden kann – bisher.

Foto von Waldemar / Unsplash
Von Katarina Fischer
Veröffentlicht am 9. Apr. 2024, 08:41 MESZ

Wir werden geboren, wir leben, wir sterben. Wann, wie und warum der Tod eintreten wird, kann niemand vorhersagen – oder vielleicht doch? Im Dezember 2023 erschien in der Zeitschrift Nature Computational Science die Studie eines Teams aus dänischen und US-amerikanischen Forschenden, in der sie ihr Project life2vec vorstellen. Wellen geschlagen hat es vor allem aus einem Grund: Das KI-Modell soll dazu in der Lage sein, anhand einer Reihe von Parametern im Leben einer Person relativ präzise zu prognostizieren, wann sie sterben wird.

Life2vec basiert auf einem sogenannten Transformer-Modell, das für Große Sprachmodelle (LLMs) verwendet wird. Das Bekannteste ist ChatGPT, das, nachdem es mit riesigen Datensätzen gefüttert wurde, menschliche Sprache verstehen und erzeugen kann. Doch der Algorithmus kann auch in anderen Datenarten komplexe Muster erkennen und sie selbstständig interpretieren – so wie im Fall von life2vec.

Ähnlich wie einen Satz, der aus einer Reihe von Wörtern besteht, kann man „ein Menschenleben als eine lange Folge von Ereignissen betrachten“, sagt Studienautor Sune Lehmann, Computerwissenschaftler an der DTU. Diese Lebenssequenzen, die sich von Mensch zu Mensch in ihrer Art und Kombination unterscheiden, beeinflussen die individuellen Lebensgeschichte – und ihr Ende.

Sprache lernen mit riesigen Datensätzen

Um das Modell zu trainieren und zu nutzen, musste es zunächst mit Daten gefüttert werden – vielen Daten. „Wir haben das dänische Nationalregister verwendet, das detaillierte sozioökonomische und gesundheitliche Informationen über 6 Millionen Einwohner Dänemarks enthält“, sagt Germans Savcisens, Hauptautor der Studie und Doktorand an der DTU.

Der anonymisierte Datensatz wird von Statistics Denmark verwaltet, der zentralen Behörde für dänische Statistiken. Die Weitergabe der Informationen wird streng kontrolliert, denn sie geben tiefe Einblicke in das Leben der dänischen Bürger. Für Forschungszwecke stehen sie jedoch zur Verfügung. Unter anderem geben die Daten Auskunft zu Ausbildung, Beruf, Einkommen, Lebensumständen, Wohnortwechseln, Sozialleistungen und Gesundheitsanalysen im Zeitraum von 2008 bis 2020.

Das Forschungsteam wandelte jeden Eintrag des Registers in textähnliche, beschreibende Sätze um und fütterte die life2vec-KI mit den so aufgearbeiteten Informationen. Nach und nach erlernte der Algorithmus die neue „Sprache“ und erschloss sich ihre Struktur, indem er darin Muster erkannte. Je flüssiger er die Sprache beherrschte, desto besser wurde er darin, aus Kombinationen von verschiedenen Ereignisbausteinen Prognosen für den weiteren Lebensverlauf zu erstellen.

Was KI besser kann als lineare statistische Modelle

Das Besondere an dem Modell ist Lehmann zufolge, dass es das Leben der Menschen viel umfassender widerspiegelt als klassische statistische Modelle. Deren Schwäche ist, dass für sie bestimmte Merkmale vordefiniert werden müssen. Durch diese Einschränkungen können aber wichtige Informationen verloren gehen. Außerdem sind die bisherigen linearen Modelle nicht dazu in der Lage, verschiedene Datenquellen zu kombinieren. Doch gerade die spezifische Kombination verschiedener Ereignisse bestimmt den individuellen Lauf der Dinge – so wie jedes Wort, das einem Satz hinzugefügt wird, Kontext und Bedeutung verändert.

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    Weil Life2vec diese Fähigkeit besitzt, ist die Treffsicherheit des Modells deutlich höher. Vorhersagen dazu, ob eine Person zum Beispiel den Wohnort wechseln oder gar in ein anderes Land ziehen würde, trafen in 73 Prozent der Fälle zu. Bezüglich der Sterblichkeit und der Frage, ob innerhalb der nächsten vier Jahre der Tod einer Person eintreten würde, waren die Prognosen zu 78 Prozent zutreffend und damit um 17 Prozent genauer als es bei anderen fortschrittlichen Algorithmen der Fall ist.

    Um herauszufinden, anhand welcher Faktoren die KI ihre Vorhersagen erstellte, überprüften die Forschenden ihre Entscheidungsprozesse und stellten fest, dass diese sich mit bestehenden Erkenntnissen aus der sozialwissenschaftlichen Forschung deckten. So kam auch life2vec zu dem Ergebnis, dass die mentale Gesundheit und das Einkommen die Sterblichkeit stark beeinflussen. Personen in Führungspositionen haben beispielsweise ein geringeres Sterberisiko, während sich psychische Erkrankungen negativ auswirken.

    „Man kann sich den Raum, den das Modell für seine Vorhersagen nutzt, wie einen langen Zylinder, vorstellen, der von einer niedrigen bis zu einer hohen Sterbewahrscheinlichkeit reicht", sagt Lehmann. „Dort, wo der Algorithmus eine hohe Sterbewahrscheinlichkeit vorhergesehen hat, sind viele dieser Menschen tatsächlich gestorben. An dem Ende, an dem eine niedrige Sterbewahrscheinlichkeit bestand, wurde der Tod durch Dinge verursacht, die wir nicht vorhersagen konnten – zum Beispiel Autounfälle.“

    Dringende ethische Fragen

    „Wir haben Einblicke in das gegeben, was modernste Computertechnologie über menschliches Verhalten ableiten kann, was heute möglich ist und wo die derzeitigen Grenzen der Vorhersagekraft liegen – all dies unter den strengen Vorschriften des dänischen Staates“, so Savcisens.

    Zweck des Modells ist Sune Lehmann zufolge jedoch ausschließlich, herauszufinden, inwieweit und mit welcher Treffsicherheit KI Ereignisse in der Zukunft auf der Grundlage von Bedingungen und Ereignissen in der Vergangenheit vorhersagen kann. „Aus wissenschaftlicher Sicht ist die eigentliche Prognose gar nicht so spannend“, sagt er. „Viel Interessanter ist die Frage, welche Aspekte der Daten es dem Modell ermöglichen, präzise Antworten zu geben.“

    Eine weitere Nutzung darüber hinaus – beispielsweise um das individuelle Risiko einer Erkrankung oder anderer vermeidbarer Lebensereignisse zu bewerten – wirft ethische Fragen zum Schutz der Privatsphäre und sensibler Daten auf und wird von dem Forschungsteam abgelehnt.

    Kein Todesrechner für den öffentlichen Gebrauch

    „Das Tool sollte nicht für Vorhersagen über reale Menschen verwendet werden“, sagt Studienautorin Tina Eliassi-Rad, Professorin für Informatik an der Northeastern University und Expertin für KI-Ethik. Aus diesem Grund ist life2vec nicht für die Öffentlichkeit zugänglich – auch wenn verschiedene Seiten im Internet vorgeben, den sogenannten „Todesrechner“ anzubieten.

    “Das Tool sollte nicht für Vorhersagen über reale Menschen verwendet werden”

    von Tina Eliassi-Rad
    Professorin für Informatik, Northeastern University

    Technologien, die life2vec ähnlich sind, werden Sune Lehmann zufolge heute schon von großen Tech-Unternehmen genutzt, um zum Beispiel das Verhalten von Nutzern in sozialen Netzwerken zu verfolgen, darauf basierend sehr genaue Profile zu erstellen und diese dann zur Einflussnahme einzusetzen. „Die Diskussion darüber, wohin uns diese Technologie führt und ob wir diese Entwicklung wollen, muss Teil des demokratischen Gesprächs sein“, sagt er. „Die Gesetzgebung im Bereich Big Tech ist noch ganz am Anfang. Ich hoffe, dass unsere Arbeit zu einer sachkundigeren und wohlüberlegten Regulierung der KI beitragen wird.“

    Ein nächster Schritt in der Entwicklung von life2vec könnte den Forschenden zufolge sein, die KI mit anderen Arten von Daten wie Bildern oder Informationen zu sozialen Beziehungen zu füttern. Außerdem sollen Sozialwissenschaftler in das Projekt einbezogen werden, damit in den Datenmassen das, worum es eigentlich geht – nämlich der Mensch – nicht aus den Augen verloren wird.

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