Diagnose Orthorexie: Krank durch gesunde Ernährung
Gesundes Essen – was kann schlecht daran sein? Manche Menschen sind so sehr darauf fixiert, dass die „richtige Ernährung“ zum Zwang wird. Orthorexie kann die Gesundheit stark beeinträchtigen.
Nur noch Rohkost? Betroffene einer Orthorexie ernähren sich zwanghaft gesund.
Clean Eating, Brutal Lokal, Zero Waste, Low Carb, High Protein: Fast täglich prasseln neue Ernährungstrends auf uns ein. Oft geht es um gesundheitliche und ethische Fragen – oder um Selbstoptimierung und Lifestyle. Der Genuss ist nebensächlich.
Unsere Ernährungsweise zeigt, welche Werte uns wichtig sind. Vermutlich wurde noch nie so viel übers Essen diskutiert wie heute. Zum Teil aus gutem Grund: Studien untermauern den Einfluss der Ernährung auf ein langes, gesundes Leben.
Manche Menschen beschäftigen sich allerdings so intensiv mit gesunden Lebensmitteln, dass sie darunter leiden. Medizin und Psychologie sprechen hierbei von Orthorexie oder Orthorexie nervosa.
Orthorexie: Definition und Symptome
Die Betroffenen entwickeln ein extremes Essverhalten. Ständig kreisen ihre Gedanken um die Qualität und Reinheit der Nahrung. Oft wird der komplette Tageslablauf danach ausgerichtet. Was in guter Absicht beginnt, kann schließlich die Lebensqualität und Gesundheit massiv beeinträchtigen.
Ernährungstherapeutin Sara Ramminger von der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera erklärt: „Unter Orthorexie versteht man die Fixierung auf eine gesunde Ernährung mit starren Regeln, was zu Mangelernährung, Leidensdruck sowie Isolation führen kann.“
Besessen von gesundem Essen? Forschende schätzen, dass ein bis zwei Prozent der Bevölkerung in Deutschland betroffen sind. Das wären immerhin rund 1,5 Millionen Menschen. Wie genau eine Orthorexie entsteht, ist noch nicht hinreichend erforscht.
Ursachen und Auslöser einer Orthorexie
Medizin und Psychologie nennen vielfältige Ursachen. Der Trend zur Selbstperfektion, ein starkes Kontrollbedürfnis oder übersteigerte Gesundheits- und Schönheitsvorstellungen sind einige davon. Auch die Angst vor Lebensmittelunverträglichkeiten, die Flut an Ernährungsratschlägen und der Druck über die sozialen Medien dürften eine Rolle spielen.
Junge Frauen sind möglicherweise besonders gefährdet. Die Psychologin Friederike Barthels zählt in ihrer Doktorarbeit vegan und vegetarisch lebende Menschen, Diabetespatienten sowie andere „Personengruppen, die aus unterschiedlichen Gründen ihr Ernährungsverhalten einschränken“ zu den Risikogruppen. Dennoch räumt sie ein, dass die Studienlage noch nicht eindeutig sei.
Gesundheitliche Folgen: Warum Orthorexie gefährlich ist
Fakt ist: Der Weg in die Orthorexie beginnt oft harmlos. Anfangs verzichtet man vielleicht auf Fleisch und industriell verarbeitete Lebensmittel, dann auf Gluten und Milchprodukte. Nach und nach bestimmen immer strengere Regeln die tägliche Ernährung. Am Ende kommt womöglich nichts mehr auf den Tisch, was nicht bio, regional und saisonal ist. Spielraum für Ausnahmen gibt es dann nicht mehr.
All das verschlingt viel Zeit und Energie. Stress ist die Folge. Weichen die Betroffenen vom Ernährungsplan ab, entwickeln sie häufig Schuldgefühle. Orthorektiker schlagen deshalb auch Einladungen zum Essen aus. Die Vorstellung, nicht kontrollieren zu können, was genau im Essen steckt, verursacht Angstzustände. Aber nicht nur die Psyche leidet. Die Fixierung auf bestimmte Nahrungsmittel kann körperliche Mangelerscheinungen auslösen.
Ramminger nennt ein weiteres Dilemma: „Betroffenen ist das Problem oft nicht bewusst.“ Kein Wunder: Sie sind ja überzeugt davon, das Richtige zu tun. Daher nähmen sie selten Hilfe in Form von Ernährungs- oder Psychotherapie in Anspruch.
Besessen von gesundem Essen: Diagnose und Therapie
Insgesamt herrscht noch viel Unklarheit. Als eigenständige Krankheit ist Orthorexie bislang nicht anerkannt. Auch für die Therapie gibt es aktuell keine verbindlichen Leitlinien. Ramminger unterstreicht: „Bisher liegen weder klare Definitionen der Orthorexie vor, noch existieren Vorgaben für die Behandlung.“
Fachleute raten zu einem vielschichtigen Ansatz unter Beteiligung von Psychotherapeuten, Ärztinnen und Ernährungsexperten. Langfristiges Ziel ihres Forschungsprojekts sei „die Entwicklung eines Behandlungsleitfadens für Fachkreise und andere Disziplinen“, sagt Ramminger.
Welche Ernährungsweise ist am gesündesten?
Krank durch gesunde Ernährung? Tatsächlich zeigt ein aktueller Bericht des Bundesernährungsministeriums: 91 Prozent der Menschen in Deutschland legen Wert auf gesundes Essen. Klar ist aber auch: Die übertriebene Beschäftigung damit kann Körper und Seele schaden.
Dabei ist es gar nicht so schwer, sich ausgewogen zu ernähren und dabei entspannt zu bleiben. Welche Ernährungsform ist also am gesündesten? Für den Studienarzt und Ernährungsforscher Stefan Kabisch von der Berliner Charité steht fest: Es ist die klassische Mittelmeerküche. Sie ist reich an frischem Gemüse, Olivenöl, Nüssen und Hülsenfrüchten. Auch Fisch steht ab und an auf dem Speiseplan. Hochverarbeitete Produkte und Fleisch spielen dagegen eine untergeordnete Rolle.
„Dieses Ernährungsmuster ist tatsächlich das gesündeste, wenn es darum geht, langfristige Erkrankungen zu verhindern“, sagt Kabisch. Also zum Beispiel Diabetes, Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Viele Studien bestätigen das.