Kulturgut in der Schale: Die Geschichte der Phở

Phở ist das Nationalgericht der Vietnamesen – und wird dort meist als Frühstück verspeist. Aber die Suppe mit den Reisnudeln ist nicht nur lecker und im Trend, sondern hat auch eine spannende Geschichte.

Von Juliette Tafreschi
Veröffentlicht am 10. Nov. 2023, 09:43 MEZ
Draufsicht auf eine schwarze Schale mit Suppe mit Kräutern, Nudeln und Fleisch.

Brühe, flutschige Nudeln, frische Kräuter, Limette: Die Phở ist nicht mehr nur in Vietnam beliebt, sondern weltweit.

Foto von svetlana_cherruty / Adobe Stock

Es ist voll an diesem Freitagmorgen im Phở Gia Truyền. Hinter einer Holztheke am Eingang des Ladens stehen drei Männer: Der Ältere von ihnen schneidet mit einem scharfen Messer gegartes Rindfleisch in kleine Stücke, der Jüngere nimmt Bestellungen auf und Geldscheine entgegen, der Mittlere füllt Schüsseln mit heißer Brühe und Reisnudeln. Zuletzt werden die zarten Rindfleischstücke und klein gehackten Lauchzwiebelringe zur Suppe gegeben. Die Handgriffe sind geübt, alles passiert schnell und mit wenigen Worten.

Typischer als diese Szene könnte man einen Morgen in der Hauptstadt Vietnams nicht beschreiben. Was den Deutschen ihr Butterbrot, ist den Vietnamesen ihre Phở. Die leuchtend blauen Plastikhocker sind bis auf den letzten besetzt, kein Wunder: Manche sagen, hier soll es die beste Phở der Stadt geben. Sogar der Restaurantführer Michelin hat das Lokal online gelistet – mit drei weiteren Phở-Anbietern in Hanoi. 

Phở Bò, Phở Ga, Phở Chai

Phở-Lokale erkennt man daran, dass jedes Lokal immer mit den drei Buchstaben P-H-O beginnt. Und von ihnen gibt es in Vietnam Tausende. Dabei ist Phở nicht gleich Phở. Neben der traditionellen Rindfleischnudelsuppe Phở Bò gibt es Varianten wie Phở Ga (mit Hühnchen) und für Vegetarier Phở Chay mit Tofu und Pilzen. Der klare Favorit der Nordvietnamesen ist Phở bò tái chín mit zwei Arten Rindfleisch. 

Fragt man Einheimische in Hanoi nach der besten Phở, kommt eine Antwort besonders oft: „Meine Eltern machen die beste!“ Doch zu Hause wird die Suppe immer seltener gekocht, denn die Zubereitung ist aufwendig, die Brühe muss über viele Stunden eingekocht werden. 

Der Ursprung der Phở

Phở ist in Vietnam längst zum Nationalgericht geworden. Und nicht nur dort: Das Kultgericht wird mittlerweile von Sydney bis Los Angeles in den verschiedensten Varianten serviert. Aktuell rangiert die traditionsreiche Nudelsuppe auf Platz 32 der 100 beliebtesten Gerichte der Welt bei Taste Atlas. Es gibt diverse Artikel, in denen die Suppe gar als „Trend“ und „Hype“ bezeichnet wird. Doch wo liegt eigentlich der Ursprung der Brühe mit den flutschigen Reisnudeln?  

Auf der Suche nach einer Antwort bekommt man in Hanoi viele Geschichten geliefert. Sie sei aus einem mongolischen Hot Pot Gericht entstanden, sagen die einen. Andere sind sicher, der Begriff „Phở“ leite sich aus dem französischen Gericht „Pot-au-feu“ ab, was vietnamesische Forscher*innen vehement bestreiten.

Phở ist in vielen Ländern der Welt heute ein beliebtes Gericht und wird längst nicht mehr nur in Vietnam gekocht.

Foto von Hiep Nguyen/ Commons Wikimedia

Die meisten Historiker*innen jedenfalls sind sich einig, dass Phở zwischen dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert im Norden Vietnams, in einem Dorf in der Provinz Nam Dinh, etwa 90 Kilometer südöstlich von Hanoi entstanden ist. Doch schriftliche Quellen zur frühen Geschichte des Gerichts gibt es nicht. 

Eine Suppe mit vielen kulturellen Zutaten

Sicher ist, dass Phở durch ein Zusammentreffen verschiedener kultureller Umstände entstand. In den frühen 1900er Jahren gab es um Hanoi eine rege Interaktion zwischen Vietnamesen, Franzosen und Chinesen aus den benachbarten Provinzen Guangdong und Yunnan. Die Franzosen, die Vietnam von 1883 bis 1954 besetzt hielten, brachten ihre Liebe für Rindfleisch mit ins Land. Diese führte zu einer vermehrten Schlachtung von Rindern. 

BELIEBT

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    Während die Franzosen bevorzugt Steak aßen, wurden übrig gebliebene Knochen und Rindfleischreste von Metzgern verwertet und an Suppenhändler verkauft. Viele dieser Straßenhändler waren Chinesen, die damals eine Suppe namens „Xáo Trâu“ auf den Märkten in Hanoi anboten. Die Zutaten: dünne Wasserbüffelscheiben in Brühe mit Reisnudeln. An Holzstangen befestigt, trugen sie ihre Suppentöpfe morgens durch die Straßen, um die Arbeiter*innen mit Frühstück zu versorgen. 

    Um ihrer Suppe neuen Pfiff zu verleihen, ersetzten die Händler das Wasserbüffelfleisch durch Rindfleisch und gaben dem Gericht den Namen „Ngưu nhục phấn“ (deutsch: Rindfleisch und Reisnudeln). In den folgenden Jahren wurde der Name des Gerichts immer weiter abgekürzt.

    Die Autorin Andrea Nguyen gilt in den USA als eine der profiliertesten Kennerinnen der asiatischen Küchen. In „The Pho Cookbook“ schreibt sie, dass die Straßenhändler ihre charakteristischen Rufe abkürzten, um Kunden anzulocken. So wurde aus „Ngưu nhục phấn đây“ („hier gibt es Rindfleisch und Reisnudeln“) zuerst „ngưu phấn ạ“, dann „phấn ạ“ oder „phốn o“ und schließlich „phở“. Warum „Phân“ zu „Phở“ wurde, ist dabei leicht erklärt: „Phân“ kann bei falscher Aussprache „Kot“ bedeuten. 

    In einem vietnamesischen Wörterbuch tauchte der Begriff „Phở“ zum ersten Mal 1931 auf.

    Phở wird politisch 

    Mit Ende der französischen Kolonialherrschaft 1954 und der Teilung des Landes in Nord und Süd in Folge der Genfer Konventionen, zogen etwa eine Million Nordvietnamesen in den Süden – und brachten Phở nach Saigon, heute Ho-Chi-Minh-Stadt. Im Süden wurde die Reisnudelsuppe modifiziert. Sie wurde süßer, dank chinesischem Kandiszucker, und bunter, dank Bambussprossen, Thai-Basilikum, Chilisauce und Hoisin, einer süßlich schmeckenden, fermentierten Bohnenpaste. Bis heute besteht eine ausgeprägte Rivalität zwischen Hanoi und Ho-Chi-Minh um die bessere Phở. 

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    Während Phở im Süden des Landes neu entdeckt wurde, erging es ihr im Norden schlecht. Im Zuge der sozialen Reformen der kommunistischen Partei wurden viele Unternehmen verstaatlicht. Aufgrund der rückständigen Agrarwirtschaft und geringen Produktivität von Ackerbau und Viehzucht schickte die Sowjetunion Wirtschaftshilfen in den Norden – darunter Kartoffel- und Weizenmehl. Die Herstellung „echter Phở-Nudeln“ wurde unter dem Vorwand, der „Verschwendung“ von Reis verboten. Stattdessen wurden Straßenhändler in Hanoi angehalten, eine Nudelsuppe aus Kartoffelmehl zuzubereiten. Die Liebe der Nordvietnamesen zu Phở war jedoch so groß, dass Phở-Nudeln unter der Hand weiterverkauft wurden. 

    Einen weiteren Einschnitt erlebte die Nudelsuppe mit dem Vietnamkrieg (1964-1975). Der Krieg gegen die USA hatte schwerwiegende Auswirkungen auf die Reiswirtschaft. Er zerstörte Felder und machte den Reisanbau unmöglich. Bauern produzierten nur noch Reis für ihren eigenen Bedarf. Viele flüchteten in die Städte oder wurden vom Militär eingezogen, wodurch die Reisproduktion weiter abnahm. 

    In Hanoi wurde Phở wahlweise mit Baguette oder frittierten Brotstangen (Bánh Quẩy) anstatt Reisnudeln serviert. Bis heute kann man in Hanoi eine Schale Bánh Quẩy für umgerechnet 40 Cent als Beilage zu seiner Phở dazu bestellen. Während die frittierte Brotstange im Norden mit Genuss in die heiße Brühe gedippt wird, erntet man im Süden fragende Blicke, wenn man nach Bánh Quẩy fragt, denn dort gibt es sie nicht. 

    Phở erobert die Welt 

    Die Vereinigung von Nord- und Südvietnam nach der kommunistischen Übernahme im Jahr 1975 führte zu einer massiven Flucht. Viele Vietnamesen flohen nach Nordamerika, Europa und Australien, einige gingen in die Gastronomie und brachten so den Duft der Nudelsuppe nach geröstetem Ingwer und schwarzem Kardamom, gebratenen Zwiebeln, Zimtstangen und frischen Kräutern von der alten in die neue Heimat.

    Die Geschichte der Phở steht nicht nur für die Fähigkeit der Vietnames*innen, in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aus bescheidenen Zutaten eine köstliche Nudelsuppe zu kreieren. Sie steht auch für die Mentalität der Bevölkerung, sich trotz politischer Widrigkeiten, Verbote und Kriege ihre Kultur nicht nehmen zu lassen. Genauso wie die Flexibilität der Köch*innen über die Jahrzehnte, sie geschmacklich anzupassen. Kein Wunder also, dass die Suppe zum Nationalgericht wurde. 

    Bis heute wird Phở stetig weiterentwickelt und neu erfunden. Mittlerweile gibt es sie auch als Cocktail: Gin und Cointreau statt Rindfleisch und Zwiebeln oder als molekulares Geschmackserlebnis. Und es gibt Luxusvarianten des einstigen Streetfoods, mit weißem Alba Trüffel und Kobe-Rindfleisch. Die Hanoier jedoch essen ihre Phở am liebsten immer noch ganz puristisch. So wie vor über 100 Jahren. 

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