Echnaton – Ägyptens erster Revolutionär

Vor mehr als 3300 Jahren herrschte in Ägypten Pharao Echnaton.

Von Peter Hessler
bilder von Rena Effendi
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:31 MEZ, Aktualisiert am 29. März 2021, 11:56 MESZ
Büste Echnatons
Die Büste Echnatons im Neuen Museum in Berlin. Uralte und neuere Umbrüche sind nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Im 14. Jahrhundert v. Chr. wurde die Büste von den Nachfolgern des Königs zertrümmert und im Zweiten Weltkrieg auf einem Transport beschädigt.
Foto von Rena Effendi

Vor mehr als 3300 Jahren herrschte in Ägypten, genauer gesagt in seiner Hauptstadt Armana, Pharao Echnaton. Die Strahlkraft jener Zeit, in der dieser Pharao, seine Frau Nofretete und sein Sohn Tutanchamun wirkten, hält uns bis heute in ihrem Bann. Denn Echnaton versuchte, Ägyptens Religion, Kunst und Staatswesen zu revolutionieren.

Das moderne Spiegelbild Echnatons ist ungeheuer komplex. Unterschiedliche Beobachter erkannten darin ganz unterschiedliche Dinge. Der König wurde als Urchrist porträtiert, als friedensliebender Umweltaktivist, als selbstbewusster Homosexueller und als totalitärer Diktator. Er wurde mit der gleichen Begeisterung von Nazis wie von der afrozentrischen Bewegung gefeiert.

Der Pharao taucht in den Werken von Thomas Mann, Nagib Machfus und Frida Kahlo auf. Als Philip Glass drei Opern über visionäre Denker komponierte, wählte er Albert Einstein, Mahatma Gandhi und Echnaton. Und Sigmund Freud fiel während einer heftigen Auseinandersetzung über das Thema mit dem Schweizer Psychiater C. G. Jung gar in Ohnmacht (die beiden hatten diskutiert, ob der ägyptische König unter übermäßiger Liebe zu seiner Mutter litt). Freuds Diagnose fiel eindeutig aus: Echnaton war ödipal, fast tausend Jahre vor der Erwähnung des Ödipus-Mythos.

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Während des Arabischen Frühlings orientierten sich schließlich auch Ägyptens moderne Revolutionäre an Echnaton: einem Mann, der eine gute, starke Idee hatte, wie sich die Dinge zum Besseren entwickeln könnten.

Allerdings war es auch Ägyptens moderne Revolution, die es Archäologen heute noch schwerer macht, die verstreuten und zertrümmerten Zeugnisse von Echnatons Regentschaft zu untersuchen. Im Februar 2011 erzwangen die Protestierenden auf dem Tahrir­Platz in Kairo die Abdankung von Hosni Mubarak, der fast drei Jahrzehnte autokratisch regiert hatte. Im Jahr 2012 hielt Ägypten die ersten freien demokratischen Präsidentschaftswahlen seit langer Zeit ab, die Mohammed Mursi, ein Führer der Muslimbruderschaft, gewann. Nach nur einem Jahr im Amt wurde er jedoch durch einen Militärputsch abgesetzt.

Im ganzen Land wüteten Proteste, auch in Mallawi, einer Stadt gegenüber von Amarna, am anderen Nilufer. Im August 2013 überfiel dort ein Mob von Mursi­Anhängern eine koptisch­christliche Kirche, ein Regierungsgebäude und das Mallawi­Museum. Bei dem gewalttätigen Aufruhr wurde der Kartenkontrolleur des Museums getötet, und sämtliche tragbaren Artefakte wurden gestohlen – insgesamt mehr als tausend Objekte. Inzwischen hat die Polizei die meisten Stücke sichergestellt, doch es dauerte drei Jahre bis zur Wiedereröffnung des Museums.

Ahmed Gaafar, ein junger Inspektor für Altertümer, beklagt, dass die politischen Unruhen und das Chaos, das sie auslösten, seine Karriere als Kurator behinderten. Dieses Muster scheint sich ewig zu wiederholen, von den Gräbern Amarnas bis zum Tahrir-Platz: Zu jeder Zeit und überall frisst die Revolution ihre Kinder.

Es ist vielsagend, dass Ahmed Gaafar nicht den Pharao mit den umwälzlerischen Visionen bewundert, sondern den Reaktionär, der die alte Welt wiederherstellte: Abd al-Fattah as-Sisi, der General, der den Putsch gegen Mursi angeführt hatte, ist seit 2014 Präsident.

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    „Manche sagen, Mursi sei wie Echnaton und Sisi wie Haremhab“, sagt Gaafar. Haremhab, der altägyptische Oberbefehlshaber des Heeres, erklärte sich nach Tutanchamuns frühem Tod zum Pharao – heute würde man das einen Militärputsch nennen. „Haremhab hat Ägypten damals von einem theokratischen Staat befreit, der immer schwächer wurde. Und er hat den Weg für die Ramessidenzeit bereitet, die größte in der ägyptischen Geschichte. Auch Sisi bereitet Ägypten darauf vor, wieder groß zu sein.“

    Die Archäologin Anna Stevens zieht ebenfalls Vergleiche zwischen Vergangenheit und Gegenwart nach. „Ich denke viel über Echnaton und den Einfluss von Revolutionen nach“, sagt sie und bezieht sich auf Sisis Aufstieg. „Mich fasziniert dieser Wunsch nach einem starken männlichen Führer.“ Gleichzeitig verändere die große Politik nur Teile der Gesellschaft. Während man bei Gräbern von Beamten in Amarna Darstellungen von Aton und der Königsfamilie gefunden hat, fehlten diese Symbole auf den gewöhnlichen Friedhöfen. „Echnaton oder Nofretete werden nirgendwo erwähnt“, sagt Stevens. „Es ist so, als wäre das nicht ihr Ort.“

    In der Politik von heute beobachtet Anna Stevens eine ähnliche Dynamik. „Oben kann es zu radikalen Veränderungen kommen, doch weiter unten bewirkt das gar nichts“, sagt sie. „Man kann eine ganze Stadt in einen anderen Teil Ägyptens verlegen; man kann eine ganze Menge Menschen dazu bringen, auf den Tahrir ­Platz zu gehen – aber nichts ändert sich.“

    Aus ihrer Sicht ist eine Revolution ein Akt selektiven Geschichtenerzählens. „Echnaton erschuf ein Narrativ“, sagt Stevens und zeigt auf ein Foto mit Skeletten von einem Friedhof für einfache Menschen. „Aber dieses Narrativ hat nichts mit diesen Menschen zu tun.“ Deren Geschichten würden niemals ganz bekannt sein, ebenso wie das Leben der meisten heutigen Ägypter in Zukunft vergessen sein wird. Wenn es schon schwerfalle, das Ausmaß des revolutionären Arabischen Frühlings vor sechs Jahren zu begreifen, wie hoch sei die Wahrscheinlichkeit, dass wir die ägyptische Politik Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr. wirklich verstehen?

    „So ist das Leben“, sagt Stevens in ihrem Büro, sechs Stockwerke über dem Tahrir­Platz, umgeben von einem Berg von Daten zu den Ausgrabungen in Amarna. Die Expertin scheint kein Problem mit den vielen offenen Fragen zur Figur Echnatons zu haben: die Geheimnisse seines Glaubens, die Botschaften, die uns die Knochen seiner Untertanen senden, all die Artefakte und Bruchstücke, die niemals ein vollständiges Bild ergeben werden. Sie lächelt und sagt: „Echnaton erzählt eben keine eindeutige Geschichte.“

    Der Artikel wurde gekürzt, bearbeitet und März 2021 aktualisiert. Die ganze Reportage findest Du in der Ausgabe 5/2017 von National Geographic. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen. 

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