Die „verlorenen“ Kunstwerke des Michelangelo im versteckten Raum der Medici-Kapellen

Die Zeichnungen auf den Kammerwänden, die nur wenige Menschen zu Gesicht bekommen, könnten entstanden sein, als der berühmte Künstler sich 1530 vor der Medici-Familie versteckte.

Von Claudia Kalb
bilder von Paolo Woods
Veröffentlicht am 9. Nov. 2017, 03:31 MEZ
Michelangelo
INNERE SCHÖNHEIT Monica Bietti, die Direktorin des Museums der Medici-Kapellen, untersucht die Skizzen auf den Kammerwänden, während sie ein Buch über Michelangelos Arbeiten hält.
Foto von Paolo Woods, National Geographic

1975 stieß Paolo Dal Poggetto, der damalige Direktor des Museums der Medici-Kapellen in Florenz, zufällig auf einen Schatz der Renaissance.

Auf der Suche nach einem neuen Ausgang für Touristen entdeckten Dal Poggetto und seine Kollegen eine Falltür, die unter einer Garderobe der Neuen Sakristei versteckt lag – einem Raum, der für die kunstvoll verzierten Gräber der Medici-Herrscher entworfen wurde. Unter der Falltür führte eine Steintreppe in einen länglichen Raum voller Kohle, der zuerst nicht mehr als eine Abstellkammer zu sein schien.

Aber auf den Wänden entdeckten Dal Poggetto und seine Kollegen Kohle- und Kreidezeichnungen, die sie für Werke aus der Hand des berühmten Künstlers Michelangelo halten. Um die Kunstwerke zu schützen, ist der Raum für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Dem National Geographic-Fotografen Paolo Woods würde kürzlich allerdings die seltene Ehre zuteil, den bemerkenswerten Inhalt des Raums fotografieren zu dürfen.

ZEICHENGENIE An einer Wand des Raumes prangt eine Kohlezeichnung von der Rückansicht eines Menschen. Diese grobe ...
ZEICHENGENIE An einer Wand des Raumes prangt eine Kohlezeichnung von der Rückansicht eines Menschen. Diese grobe Skizze könnte eine Version einer Figur aus Michelangelos Gemälden in der Sixtinischen Kapelle sein.
Foto von Paolo Woods, National Geographic
Michelangelo
Foto von GETTY IMAGES

Die Zeichnungen sind heutzutage sichtbar, weil Dal Poggetto kein Risiko eingegangen ist, als er den Raum zum ersten Mal betreten hat. Da er sich in Florenz befand, der Heimat vieler überragender Renaissancekünstler, vermutete er, dass sich hinter den Schichten aus Putz etwas Wertvolles verbergen könnte.

„Wenn wir es mit sehr alten Gebäuden zu tun haben, müssen wir aufmerksam sein“, sagt Monica Bietti, Dal Poggettos Nachfolgerin in den Medici-Kapellen.

Unter der Leitung von Dal Poggetto verbrachten Experten Wochen damit, minutiös den Putz mit Skalpellen zu entfernen. Als die Deckschicht verschwand, kamen Dutzende von Zeichnungen zum Vorschein, von denen viele an Michelangelos große Werke erinnerten – einschließlich einer Marmorskulptur eines Menschen, die das Grab von Giuliano de‘ Medici in der Neuen Sakristei über dem Raum ziert und von Michelangelo persönlich entworfen wurde.

BELIEBT

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    Michelangelo
    IN STEIN GEMEISSELT Diese Skizze erinnert an die charakteristische Pose der Statue von Apollo-David, ein unfertiges Werk, das Michelangelo zugeschrieben wird.
    Foto von Paolo Woods, National Geographic
    Michelangelo
    Foto von GETTY IMAGES

    Dal Poggetto schloss daraus, dass der Künstler im Jahr 1530 für zwei Monate Zuflucht in der Kammer suchte, um sich vor der Medici-Familie zu verstecken. Ein Aufstand hatte die Medici-Herrscher der Stadt 1527 ins Exil getrieben. Obwohl sie seine Kunst zuvor gefördert hatten, hat Michelangelo die Familie verraten und sich mit anderen Florentinern gegen ihre Herrschaft verbündet.

    Als sie einige Jahre später wieder zurück an die Macht kamen, war das Leben des 55 Jahre alten Künstlers in Gefahr. „Natürlich hatte Michelangelo Angst“, sagt Bietti, „und beschloss, in dem Raum zu bleiben.“

    Bietti vermutet, dass Michelangelo seine einsamen Wochen in der Kammer nutzte, um eine Bilanz seines Lebens und seiner Kunst zu ziehen. Die Zeichnungen an den Wänden stellen Werke dar, die er noch fertigstellen wollte, sowie Meisterwerke, die er Jahre zuvor vollendet hatte. Das schließt auch ein Detail der Statue des David (1504 fertiggestellt) und Figuren aus der Sixtinischen Kapelle (1512 enthüllt) ein.

    Michelangelo
    AUFSTIEG Eine grobe Skizze der männlichen Form erinnert an eine spätere Kreidezeichnung der Wiederauferstehung Christi.
    Foto von Paolo Woods, National Geographic
    Michelangelo
    Mit freundlicher Genehmigung von Queen Elizabeth II, 2016

    „Er war ein Genie“, sagt sie, angetrieben von seiner grenzenlosen Kreativität. „Aber was konnte er hier tun? Nur zeichnen.“

    Wie das bei allen jahrhundertealten Kunstwerken ohne Signatur der Fall ist, lässt sich ihr Ursprung nicht mit absoluter Sicherheit feststellen. Der Konsens scheint zu sein, dass einige der Skizzen an den Wänden viel zu amateurhaft seien, um von Michelangelos Hand zu stammen. Die Herkunft der restlichen Zeichnungen bleibt Ansichtssache.

    Nach der Entdeckung 1975 bejubelte eine berühmte Instanz auf dem Gebiet der Renaissancekunst die Skizzensammlung als einen der großen Kunstfunde des 20. Jahrhunderts. Aber William Wallace, ein Michelangelo-Gelehrter der Washington Universität in St. Louis, ist skeptisch.

    Flying ...
    The rough outline of a human figure seems to soar across one wall of the chamber.
    Foto von Paolo Woods, National Geographic
    ... ODER FALLEN?
    ... ODER FALLEN? Die Zeichnung in der Kammer weist eine auffallende Ähnlichkeit zu der zentralen Figur in Michelangelos Skizze für den „Sturz des Phaeton“ auf.
    Foto von National Museum of the Academia Galleries of Venice

    Wallace glaubt, dass Michelangelo zu berühmt war, um sich in dem unterirdischen Raum zu verkriechen. Stattdessen hätte ihn einer seiner anderen Patrone aufgenommen. Er vermutet auch, dass die Zeichnungen schon früher in den 1520ern vollendet wurden, als Michelangelo und seine vielen Gehilfen sich ein paar Ruhepausen vom Mauern und Marmorschneiden gönnten – zu der Zeit bauten sie gerade die Neue Sakristei über dem Raum.

    Einige der Zeichnungen könnten Originale von Michelangelo sein, so Wallace. Aber andere würden vermutlich aus der Hand der Arbeiter stammen, die versuchten, künstlerische Dilemmas zu lösen, oder sich einfach nur während der Pausen amüsierten.

    „Es ist fast unmöglich, das eine vom anderen zu trennen“, sagt er. Trotzdem, so fügt er hinzu, würde das Geheimnis um den Zeichner der Skizzen ihren Wert oder die Bedeutung der Entdeckung nicht mindern.

    „Es ist aufregend, in diesem Raum zu sein. Man fühlt sich privilegiert“, sagt er. „Man fühlt sich dem Arbeitsprozess eines Meisters und seiner Schüler und Gehilfen näher.“ (Ähnlich: Dieser unglaubliche Künstler zeichnet eine ganze Stadt aus dem Gedächtnis)

    Der Raum ruft eine emotionale Reaktion bei den Besuchern hervor, die das Glück haben, ihn betreten zu dürfen. Steht man in seinen vier Wänden, die durch ein kleines Eckfenster schwach beleuchtet werden, ist es, als blicke man in den Geist Michelangelos, dessen atemberaubende Kunst das ganze Gebäude füllt.

    „Michelangelo war ein Mensch von grenzenlosem künstlerischen Vermögen“, sagt Wallace. „Er ist 89 Jahre alt geworden und hat nie aufgehört, immer besser und besser zu werden.“

    Michelangelo
    RUHE Eine der Skizzen in der Kammer scheint eine spiegelverkehrte Darstellung von einer Zeichnung Michelangelos zu sein. „Leda“ zeigt Leda und Zeus in Gestalt eines Schwans, eine bekannte Geschichte aus der griechischen Mythologie.
    Foto von Monica Bietti
    Michelangelo
    Foto von Prudence Cuming Associates Limited
    VERTRAUTES GESICHT
    VERTRAUTES GESICHT Dieses bärtige Gesicht taucht zwischen den Skizzen auf den Wänden des Raums auf.
    Foto von Paolo Woods, National Geographic
    IN MARMOR GEHAUEN
    IN MARMOR GEHAUEN Die Skizze sieht aus wie eines der Gesichter der Laokoon-Gruppe, einem antiken Kunstwerk, das Michelangelo inspiriert hat.
    Foto von Eric Vandeville, Gamma-Rapho, Getty Images
    ARM IN ARM
    Bei der Zeichnung einer Gliedmaße auf einer Wand der Kammer scheint es sich um eine Spiegelung des Arms von Michelangelos berühmter Statue des David zu handeln.
    Foto von Paolo Woods, National Geographic
    Michelangelo
    NIMM PLATZ
    Auf einer Wand prangen Skizzen von Beinen in verschiedenen Haltungen.
    Foto von Paolo Woods, National Geographic
    AUF DEM GRAB
    Die Skizzen der sitzenden Beine scheinen eine Studie für die Statue von Giuliano de‘ Medici zu sein, die auf dem Grab des Medici-Herrschers in der Neuen Sakristei über der versteckten Kammer sitzt.
    Foto von Leemage, Corbis, Getty Images
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