Das Schattenleben der Albinos
In der Mode werden Menschen mit Albinismus für ihren einzigartigen Look gefeiert. Weltweit leiden sie jedoch unter Diskriminierung und gesundheitlichen Problemen. Und in afrikanischen Ländern wie Tansania müssen sie um ihr Leben fürchten.
Unter einem weißen, gleichgültigen Himmel senkt ein blasser Junge in blauroter Schuluniform scheu den Kopf. Tränen laufen über seine Wangen. Wieder einmal erzählt er die Geschichte seines Lebens. Sein Vater, der das erste Mal seit zwei Jahren zu Besuch ist, zieht ein Taschentuch hervor. Im Schatten eines Baumes auf einem Schulhof in Tansania beugt er sich zu seinem Sohn hinüber und tupft ihm die Augen ab. Der Junge kann seine Tränen ja nicht selbst trocknen.
Der verklärte Albinismus
Emmanuel Festo ist 15 Jahre alt. Als er sechs war, überfielen ihn bewaffnete Männer und schlugen ihm mit Macheten den größten Teil des rechten Arms, einige Finger der linken Hand, einen Teil des Kiefers und vier Frontzähne ab, um die Körperteile zu verkaufen. Heute ist Emma, wie er genannt wird, einer der besten Schüler auf dem privaten Internat. Er stottert, aber er ist gesund und stark und hat viele Freunde. Er zeichnet, am liebsten Fußballspieler und Spiderman. Die Stifte hält er mit Wange, Kinn und Schulter.
Emma wurde mit Albinismus geboren. Seine Haut ist weiß wie Elfenbein, das kurze Haar ein helles Orange, das Augenlicht schwach. Seine Eltern sind beide dunkelhäutig – Albinismus ist eine rezessive Eigenschaft. Menschen wie Emma werden im Subsahara-Afrika seit langer Zeit gefürchtet und bedroht. Seit einigen Jahren aber werden sie regelrecht gejagt. Denn manche Medizinmänner behaupten, ihre Körperteile besäßen magische Kräfte. Wer ihre Knochen oder Zähne als Pulver oder in Elixieren zu sich nimmt, oder sie in Talismanen verarbeitet, erwirbt angeblich Reichtum und Erfolg.
Die Hilfsorganisation „Under The Same Sun“ (Unter derselben Sonne) kämpft gegen die Diskriminierung von Menschen mit Albinismus und hat eine präzise und brutale Statistik erstellt. Seit den Neunzigerjahren wurden in 27 afrikanischen Ländern mindestens 190 Betroffene getötet und 300 angegriffen. Auch Gräber wurden geplündert. Die meisten Fälle ereigneten sich nach 2008. Das Epizentrum der Gewalt ist Tansania
Vor etwa zehn Jahren, als die brutalen Übergriffe erstmals weltweit Aufmerksamkeit erregten, sammelten die tansanischen Behörden Kinder mit Albinismus ein und schickten sie auf primitive Behindertenschulen. Viele leben unter elenden Bedingungen noch immer dort.
Bis 2012 teilte sich auch Emma ein Doppelstockbett mit drei anderen Jungen in einer dieser staatlichen Einrichtungen. In der neuen Schule in der Nähe der Stadt Mwanza hat Emma nun ein Bett für sich allein. Er ist begeistert, obwohl sein Leben auch hier oft schwierig ist. Einige Kinder machen sich über seine fehlenden Zähne lustig, erzählt er.
Bis 2012 teilte sich auch Emma ein Doppelstockbett mit drei anderen Jungen in einer dieser staatlichen Einrichtungen. In der neuen Schule in der Nähe der Stadt Mwanza hat Emma nun ein Bett für sich allein. Er ist begeistert, obwohl sein Leben auch hier oft schwierig ist. Einige Kinder machen sich über seine fehlenden Zähne lustig, erzählt er.
Stigmatisierung und Soziale Ächtung
Menschen mit Albinismus besitzen in Haut, Haaren und Augen wenig oder gar kein Melanin, einen Pigmentstoff. Auf der ganzen Welt kämpfen sie mit den gleichen Schwierigkeiten: dem Anderssein und dem Spott ihrer Mitmenschen, der Sehschwäche und Sonnenempfindlichkeit und der Anfälligkeit für Hautkrebs.
Aber Emma lebt in einem Land, in dem der Glaube an Geister und Hexerei tief verwurzelt ist und viele Menschen arm und wenig gebildet sind. Albinismus wird hier nicht als genetisches Merkmal betrachtet, sondern als etwas Abartiges. Väter von hellhäutigen Kindern beschuldigen ihre Frauen, mit weißen Männern Sex gehabt zu haben. Eltern halten ihre Neugeborenen für Gespenster. Krankenschwestern erzählten jungen Müttern lange Zeit, Geschlechtskrankheiten hätten die Kinder im Mutterleib ausgebleicht. Früher wurden Kinder, die mit Albinismus geboren wurden, oft sofort nach der Geburt getötet oder nach Stammesritualen lebendig begraben.
“Es stört mich nicht mehr, das Albinomodel zu sein. Jetzt wissen die Leute wenigstens, was Albinismus ist.”
In keinem anderen Land gibt es mehr Menschen mit Albinismus als in Tansania. Knapp sechs Prozent der Menschen dort tragen das entsprechende rezessive Gen, einer von 1400 Menschen kommt hellhäutig zur Welt. Global gesehen variiert die Häufigkeit von Albinismus stark. In Europa und Nordamerika beträgt die Rate eins zu 20.000; beim Volk der Guna auf den karibischen San-Blas-Inseln vor der Küste Panamas dagegen eins zu 70. Dort, berichten die Einheimischen, leben dunkle und helle Menschen völlig problemlos zusammen – so wie große und kleine Menschen, junge und alte.
Der langsame Imagewandel
Fast überall sonst auf der Welt werden Menschen mit Albinismus verspottet und haben Schwierigkeiten in der Schule. Doch anders als in Afrika finden die meisten später Arbeit und gründen eine Familie. Und in manchen Branchen sind ihre ungewöhnlichen Haare und Teints sogar ein Vorteil: auf dem Laufsteg zum Beispiel. Der Afroamerikaner Shaun Ross modelte für Vogue und GQ und war in den Musikvideos von Beyoncé und Lana Del Rey zu sehen. Mittlerweile wird er auch als Schauspieler gebucht. Diandra Forrest, eine Afroamerikanerin aus der New Yorker Bronx, wurde als erste Frau mit Albinismus von einer großen Modelagentur unter Vertrag genommen. Das nötige Selbstbewusstsein zu erlangen „war ein langer Prozess, nach all den Jahren, in denen ich gehänselt und missverstanden wurde“, sagt Forrest. Heute, mit 27, möchte sie ihr besonderes Aussehen nicht mehr missen: „Es stört mich nicht mehr, das Albinomodel zu sein. Jetzt wissen die Leute wenigstens, was Albinismus ist.“
Letztes Jahr richtete Kenia den weltweit ersten Schönheitswettbewerb für Menschen mit Albinismus aus, um ein Zeichen gegen die Stigmatisierung zu setzen. Und selbst in Tansania schaffen es manche Betroffene bis ganz nach oben. Es gibt einige Parlamentsabgeordnete und Politiker mit Albinismus. Einer von ihnen, Abdallah Possi, wurde 2015 im Alter von 36 Jahren zum stellvertretenden Premierminister ernannt.
Dieser Artikel wurde gekürzt und bearbeitet. Die ganze Reportage steht in der
Ausgabe 8/2017 von National Geographic. Jetzt ein Magazin-Abo abschließen.
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