Hat ein Algorithmus das Voynich-Manuskript entschlüsselt?

Die vermutlich 600 Jahre alte Handschrift zählt zu den größten Rätseln in der Geschichte der Kryptologie. Wissenschaftler benutzten jetzt eine KI, um sie zu lesen.

Von Elaina Zachos
Veröffentlicht am 8. Feb. 2018, 17:34 MEZ
Das Voynich-Manuskript ist ein unscheinbares kleines Buch in einer Bibliothek der Universität Yale – aber es ...
Das Voynich-Manuskript ist ein unscheinbares kleines Buch in einer Bibliothek der Universität Yale – aber es ist eine der geheimnisvollsten Handschriften der Welt. Das wertvolle Dokument enthält einen Text in einer eleganten Schrift und seltsame Zeichnungen. Man vermutet, dass es im Mittelalter in einer noch nicht identifizierten Sprache geschrieben und verschlüsselt wurde.
Foto von Cesar Manso, AFP, Getty

Zwei kanadische Codebrecher könnten ein vermutlich 600 Jahre altes Buch entschlüsselt haben, das Kryptologen seit Jahrhunderten verblüfft. (Sieht man sich die bisherige Erfolgsquote an, haben sie das aber vermutlich nicht wirklich geschafft.)

Eine Studie, die in „Transactions of the Association of Computational Linguistics“ veröffentlicht wurde, legt dar, wie zwei Wissenschaftler der Universität von Alberta einen Algorithmus benutzt haben, um Teile des Voynich-Manuskripts zu entschlüsseln. Die mittelalterliche Handschrift wurde in einer unbekannten Sprache mit einer noch nicht enträtselten Verschlüsselung geschrieben.

Aber andere Gelehrte sind skeptisch. Das Manuskript selbst ist und bleibt ein geheimnisumwobenes Artefakt.

Was ist das Voynich-Manuskript?

Das Voynich-Manuskript entstand wahrscheinlich im 15. Jahrhundert in Mitteleuropa. Es ist etwas größer als moderne Taschenbücher und enthält 246 fragile, gebundene Pergamentseiten. Es hat kein Inhaltsverzeichnis, aber enthielt vermutlich irgendwann einmal ausfaltbare Blätter, die verloren gingen. In den Seitenzahlen gibt es Lücken, was darauf hindeutet, dass das Manuskript wohl irgendwann neu gebunden wurde. Die heutige Reihenfolge der Seiten könnte sich von der ursprünglichen also unterscheiden.

Auf den Seiten prangt eine elegante, geschwungene Handschrift aus 25 bis 30 Buchstaben, die in kurzen Absätzen von links nach rechts verläuft. Stellenweise finden sich im Text oder am Rand detaillierte Illustrationen. Diese zeigen zum Beispiel Schlösser und Drachen, Skizzen von Pflanzen, Planeten, nackte Menschen und astronomische Symbole in grüner, brauner, gelber, blauer und roter Tinte. Eine besonders auffällige Illustration zeigt Dutzende nackter Frauen, die in miteinander verbundenen Becken in einer grünen Flüssigkeit baden.

Das Manuskript befindet sich seit 1969 in der Beinecke Rare Book & Manuscript Library der Universität Yale. Es wurde nach Wilfrid Voynich benannt, dem polnischen Buchhändler, der es 1912 einer jesuitischen Bibliothek in Italien abkaufte. Er hatte mehrfach versucht, einen Übersetzer für das Manuskript zu finden, aber niemand konnte die Schrift entschlüsseln.

Welchen Inhalt hat das Manuskript?

Anhand der Illustrationen haben Gelehrte das Buch in sechs Sektionen unterteilt: eine kräuterkundliche, eine astronomische, eine bäderkundliche, eine kosmologische, eine pharmazeutische und eine Rezepte-Sektion. Es ist möglich, dass es sich um eine okkulte oder wissenschaftliche Handschrift handelt.

Historische Aufzeichnungen belegen, dass sich das Manuskript schon im Besitz von Alchemisten und Herrschern befand. Im späten 16. Jahrhunderten kaufte der damalige Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Rudolf II. das Manuskript für 600 venezianische Dukaten von einem englischen Astrologen, da er glaubte, es handele sich um ein Werk des mittelalterlichen Naturphilosophen Roger Bacon. Später gelangte es in den Besitz eines böhmischen Pharmazeuten.

Worum geht es in der neuen Studie?

Die Studienautoren schreiben, dass das Voynich-Manuskript „die schwierigste Art eines Entschlüsselungsproblems“ darstellt, da man weder den Code, noch die Sprache kennt, in der es geschrieben wurde.

Sie gingen das Problem mit einem Computerprogramm an, das sie selbst geschrieben haben. Ursprünglich vermuteten die Wissenschaftler, dass das Manuskript aus Alphagrammen besteht – Anagrammen, bei denen die Buchstaben eines Wortes nach ihrer Reihenfolge im Alphabet angeordnet werden. (Für das Wort „Manuskript“ würde das entsprechende Alphagramm also „Aikmnprstu“ lauten.) Also brachten sie einem Algorithmus bei, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen in 380 verschiedenen Sprachen zu entschlüsseln.

Sobald die KI bei der Zuordnung von Anagrammen zu modernen Wörtern eine Erfolgsrate von 97 Prozent hatte, legten sie ihr die ersten zehn Seiten des Voynich-Manuskripts vor. Der Algorithmus kam zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent der verschlüsselten Wörter in Hebräisch zu sein schienen.

Nun hatten die Forscher zumindest eine Sprache, mit der sie arbeiten konnten. Als nächstes mussten sie den Code entschlüsseln. Sie gaben den ersten Satz einem Kollegen, dessen Muttersprache Hebräisch ist. Er konnte daraus keinen kohärenten englischen Satz bilden, also benutzten sie den Google Übersetzer, da sie gerade keine anderen Forscher zur Hand hatten. Nachdem sie ein paar Rechtschreibfehler korrigiert hatten, lag ihnen der erste Satz auf Englisch vor: "She made recommendations to the priest, man of the house and me and people.“ Auf Deutsch bedeutet das ungefähr: „Sie sprach dem Priester, [dem] Mann des Hauses, mir und [dem] Volk Empfehlungen aus.“ Es ist zweifelsfrei ein seltsamer Satz, aber er wirkt nicht völlig sinnentleert.

BELIEBT

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    Die Wissenschaftler übersetzten außerdem einen 72 Worte umfassenden Abschnitt, der als „kräuterkundliche“ Sektion bekannt ist, und konnten die Worte „Bauer“, „Licht“, „Luft“ und „Feuer“ entschlüsseln.

    Der Google Übersetzer? Wirklich?

    Ja, wirklich. Das maschinelle Übersetzungsprogramm analysiert Hunderte Millionen Dokumente, die von Menschen übersetzt wurden. Mit Hilfe von Statistiken gibt es dann eine Übersetzung aus, die auf diesen Dokumenten basiert. Obwohl es Worte bereits im Kontext von Wortgruppen übersetzen kann, anstatt stur Wort für Wort zu übersetzen, ist es noch immer weit vom Können eines Menschen entfernt.

    Aber zurück zum Manuskript.

    Welche Probleme gibt es bei der Studie?

    Die KI wurde nur darauf trainiert, verschiedene moderne Sprachen ins Englische zu übersetzen – keine Sprachen aus dem 15. Jahrhundert. Auch wenn das Voynich-Manuskript womöglich in Hebräisch geschrieben wurde, würde es sich um mittelalterliches Hebräisch handeln und nicht um die moderne Form, die der Google Übersetzer benutzt.

    Obwohl der Algorithmus 80 Prozent des Textes als Hebräisch identifiziert hat, bleiben damit immer noch die restlichen 20 Prozent. Laut der Studie könnten die Sprachen Malaiisch, Arabisch und Amharisch ebenfalls im Manuskript auftauchen könnten. Sie alle unterscheiden sich erheblich von Hebräisch.

    Allerdings muss man auch betonen, dass die Forscher nicht behaupten, sie hätten die Geheimnisse des Manuskripts entschlüsselt. Sie glauben lediglich, dass sie die Sprache und die Codierung des Textes bestimmen konnten. Als nächstes müssen sie nun einen Gelehrten finden, der sich mit Hebräisch und Alphagrammen auskennt. Ihre neue Technik wollen sie außerdem auch auf andere alte Manuskripte anwenden.

    Schon in der Vergangenheit haben sich diverse Leute erfolglos an einer Entschlüsselung versucht, und zahlreiche Theorien wurden von Gelehrten widerlegt. Selbst Alan Turing, dem es gelang, die Enigma-Verschlüsselung zu dechiffrieren, konnte das Voynich-Manuskript nicht entschlüsseln.

    Es herrscht noch immer keine Einigkeit darüber, ob das Manuskript tatsächlich codiert oder in einer künstlichen Sprache geschrieben wurde. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass der Text gar keine Bedeutung hat.

    Welche anderen Theorien gibt es?

    Neben dem kanadischen Team hatten auch schon andere Forscher die Vermutung, dass das Manuskript in Hebräisch geschrieben wurde. Auch Dutzende andere Sprachen wurden vorgeschlagen, darunter Latein und sogar eine sinotibetische Sprache.

    Manche glauben, dass das Manuskript von frühen Entdeckungen und Erfindungen des bereits erwähnten Roger Bacon handelt. Es könnte sich auch um ein Gebetsbuch einer christlichen Sekte handeln, das in einer Pidgin-Sprache geschrieben wurde, oder um bedeutungsloses Kauderwelsch, das von einem okkulten Philosophen geschrieben und verkauft wurde, um Geld zu machen.

    Das Voynich-Manuskript ist nach wie vor eines der größten ungelösten Rätsel in der Geschichte der Kryptologie. Jedes Jahr gibt es zahlreiche Übersetzungsversuche – aber mit Hilfe technologischer Entwicklungen wird man vielleicht irgendwann in der Lage sein, die Handschrift vollständig zu entschlüsseln.

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