Graue Polarnächte: Geschichten aus der zweimonatigen Finsternis

In Russlands hohem Norden sind Leben und Legenden in der langen Polarnacht eingefroren. Ein Essay über arktische Träume.

Von Ewgenija Arbugaewa
Veröffentlicht am 3. Dez. 2020, 14:28 MEZ
Polarnächte in Russland

Eine Nacht verbrachte die Autorin in einer Hütte umzingelt von Walrossen. „Die Hütte wackelte“, erzählt sie. „Ihr Röhren war so laut, dass wir nachts kaum schlafen konnten. Auch die Temperatur in der Hütte stieg durch die Wärme der Walrosskörper draußen drastisch an.“

Foto von Ewgenija Arbugaewa

Wen die Arktis einmal gepackt hat, den lässt sie nicht mehr los. Ich verbrachte meine Kindheit damit, über die Tundra zu laufen und auf meinem Schulweg durch die Polarnacht die Nordlichter zu beobachten. „Polarnacht“ – das ist die poetische Umschreibung der zweimonatigen Finsternis, die hier nicht nur für den Winter steht, sondern auch für einen Gemütszustand. Vor Jahren verließ ich meine Heimatstadt Tiksi, einen abgelegenen Hafen an der russischen Laptewsee, um in großen Städten und fernen Ländern zu leben. Aber die Arktis ruft mich immer wieder zurück. Ich sehne mich nach ihrer Abgeschiedenheit und ihrem langsameren Leben. In dieser gefrorenen Landschaft des Nordens fliegt meine Fantasie wie der Wind dahin, ohne Hindernisse. Wenn ich hier bin, dann bin ich ganz ich selbst.

Wer hier lebt, hat einen Grund dafür

Dasselbe gilt für die Menschen, die ich fotografiere. Manchmal denke ich, ihre Geschichten sind wie Kapitel eines Buches: Jedes beschreibt einen anderen Traum, doch alle haben mit der Liebe zu diesem Land zu tun. Jeder Traum hat seine eigene Farbpalette und Atmosphäre. Jeder Mensch, der hier lebt, hat einen Grund dafür.

Der Vogel Kesha ist ein Neujahrsgeschenk der Fotografin Ewge­nija Arbugaewa. Er leistet Korotkij Gesellschaft beim Mittag­essen in der alten Wetterstation. Kesha ist benannt nach einem Vogel aus einer belieb­ten Zeichentrickserie der Sowjetära.

Foto von Ewgenija Arbugaewa

Leben auf der Wetterstation

Der erste Traum gehört Wjatscheslaw Korotkij. Lange Zeit leitete er die Wetterstation von Chodowaricha auf einer isolierten Halbinsel in der Barentssee – eine schmale, öde Nehrung, die sich nach Korotkijs Worten anfühlt wie ein Schiff. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, erkannte ich sofort seinen Parka. Solche Jacken trugen zu Sowjetzeiten alle Männer in meiner Heimatstadt. Er ist ein poljarnik, ein Experte für das Nordpolargebiet, und hat sein Leben der Arbeit in der Arktis gewidmet.

Draußen vor der Station konnte ich hören, wie das Eis sich mahlend vorbeischob und der Wind die Funkdrähte zum Pfeifen brachte. Drinnen war es still, nur Korotkijs Schritte und das regelmäßige Quietschen der Tür zeigten die vergehende Zeit. Alle drei Stunden ging er hinaus, und wenn er zurückkam, murmelte er Beobachtungen vor sich hin – „Wind aus Südsüdwest, zwölf Meter pro Sekunde, Böen bis 18 Meter, auffrischend, Luftdruck fällt, Schneesturm im Anmarsch“ –, die er anschließend über ein knackendes altes Funkgerät an jemanden weitergab, den er noch nie gesehen hat.

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BELIEBT

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    Eines Tages fühlte ich mich traurig. Die Polarnacht ließ meine Gedanken chaotisch in alle Richtungen galoppieren. Ich ging mit einer Tasse Tee zu Korotkij und fragte ihn, wie er hier leben konnte, allein, ein Tag wie der andere. Er sagte zu mir: „Du hast zu viele Erwartungen, das ist wohl normal. Aber hier ist nicht jeder Tag gleich. Sieh mal, heute hast du das leuchtende Polarlicht gesehen und eine dünne Eisschicht auf dem Meer, ein sehr seltenes Phänomen. Und war es nicht großartig, heute Nacht die Sterne zu sehen, nachdem sie sich über eine Woche lang hinter den Wolken vor uns versteckt hatten?“ Ich fühlte mich schuldig, weil ich zu sehr in mich hineingeschaut und darüber vergessen hatte, die Welt draußen zu beobachten. Von da an war ich ganz Auge.

    Einen Monat lang wohnte ich bei einem jungen Paar, das in einer anderen gefrorenen Ecke Russlands Wetterdaten sammelte. Ewgenija Kostikowa hatte ihren geliebten Iwan Siwkow nach einem gemeinsamen Jahr in einer sibirischen Stadt gebeten, mit ihr in den Norden zu ziehen. Sie überwachten das Wetter, hackten Holz, kochten, kümmerten sich um den Leuchtturm und umeinander. Medizinische Hilfe gab es nur per Helikopter, doch bei schlechtem Wetter konnte der sich wochenlang verspäten. Kostikowa rief fast jeden Tag ihre Mutter an, aber da es wenig zu erzählen gab, bat sie sie oft, das Telefon laut zu stellen und ihre Hausarbeit zu verrichten. Sie saß da und lauschte den Geräuschen aus dem fernen Zuhause.

    Arbugaewa wartete zwei dunkle und stürmische Wochen lang, bis ihr das Polarlicht genug Licht für Fotos lieferte. "In diesem Zimmer hörte ich eine im Wind zuschlagende Türen im Flur und seltsame Quietschlaute. In meiner verschwommenen Fantasie bildete ich mir sogar ein, Schritte zu hören ... und rannte davon."

    Foto von Ewgenija Arbugaewa

    Walrosse und Neonlicht

    Die 300 Tschuktschen im Dorf Enurmino haben ihre Traditionen beibehalten. Das könnte auch an ihrer Isolation liegen. Wie ihre Vorfahren leben sie von dem, was Land und Meer ihnen geben, und halten an den alten Mythen und Legenden fest, die über die Generationen weitergegeben wurden. Nicht weit von Enurmino verbrachte ich zwei Wochen mit einem Walrossforscher in einer Holzhütte. Drei Tage lang waren wir drinnen gefangen und darauf bedacht, keine Panik unter den geschätzten 100 000 Walrossen auszulösen, die sich um uns herum an Land gestemmt hatten und mit ihren Bewegungen und Kämpfen unsere Hütte erzittern ließen.

    In Dikson am Ufer der Karasee hat sich der Traum von der sowjetischen Größe wie ein reifbedecktes Denkmal erhalten. In seiner Blütezeit in den Achtzigern galt Dikson als Hauptstadt der russischen Arktis, doch mit dem Niedergang der UdSSR wurde es beinahe zur Geisterstadt.

    In den ersten Wochen war ich enttäuscht von meinen Fotos aus der endlosen Dunkelheit von Dikson, doch dann explodierte plötzlich das Polarlicht am Himmel und tauchte alles mehrere Stunden lang in Neontöne. Im grünen Licht sah das Soldatendenkmal aus wie Frankensteins Monster, das am Ende von Mary Shelleys Buch in die Abgeschiedenheit der Arktis entkam. Dann verblasste das Polarlicht, und die Stadt fiel allmählich in die Dunkelheit zurück, bis sie schließlich unsichtbar war.

    Aus dem Englischen von Susanne Schmidt-Wussow.

    Der Artikel mit noch mehr atemberaubenden Aufnahmen wurde in voller Länge in der November 2020-Ausgabe des deutschen National Geographic Magazins veröffentlicht. Keine Ausgabe mehr verpassen und jetzt ein Abo abschließen!

    Das raue Leben der Polarwölfe am Ende der Welt

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