Cool bleiben in der Dunkelheit: So überstanden Polarforscher monatelange Isolation

Wie lassen sich Monate in kalter Dunkelheit am Ende der Welt gut überstehen? Mit strikten Routinen, fröhlichen Klängen und der Aussicht auf ein Happy End.

Von Roff Smith
Veröffentlicht am 28. Mai 2020, 12:58 MESZ
Ernest Shackleton und seine Mannschaft

Der Polarforscher Ernest Shackleton und seine Mannschaft sahen sich Monaten der Isolation, Gefahr und Ungewissheit gegenüber, nachdem ihr Schiff Endurance 1915 im Packeis eingeschlossen wurde. Fußballspiele waren eines die vielen Dinge, mit denen Shackleton seine Mannschaft beschäftig und bei Laune hielt.

Foto von Frank Hurley, Scott Polar Research Institute, University of Cambridge, Getty

Als das Schiff des Polarforschers Ernest Shackleton, die Endurance, von den antarktischen Eismassen eingeschlossen wurde und zu sinken begann, sah er nur noch einen Ausweg: Er befahl seinen Männern, das Schiff zu verlassen und nur das allernötigste mitzunehmen – nicht mehr als ein Kilogramm Gepäck.

Die einzige Ausnahme machte er für ein fünfsaitiges Windsor-Banjo, das dem Meteorologen der Expedition gehörte, einem unbeschwerten jungen Mann namens Leonard Hussey. Er konnte darauf nur ein paar Lieder spielen, aber das war genug. Den langen, dunklen Polarwinter hindurch hatte Hussey die Besatzung damit gut unterhalten können. Shackleton wusste genau, wie sich Stress und Isolation auf die Moral auswirken. Gerade deshalb wollte er auf die Musik nicht verzichten.

Was als Entdeckungsreise begann, wurde zu einem 20-monatigen Kampf ums Überleben, nachdem Shackletons Crew ihr Schiff Endurance an das Packeis verlor. Die Expedition ist heute auch deshalb so berühmt, weil alle 27 Mannschaftsmitglieder die Strapazen lebendig und vergleichsweise gut gelaunt überstanden.

Foto von Frank Hurley, Scott Polar Research Institute, University of Cambridge, Getty

„Das ist eine lebenswichtige Medizin für den Geist“, sagte er über die Klänge, „und die werden wir brauchen.“ Also nahm Hussey sein knapp sechs Kilogramm schweres Banjo mit und half in den folgenden grauenhaften Monaten dabei, die Stimmung der Männer mit wöchentlichen Konzerten aufzuhellen.

Nur wenige Menschen haben je so extreme Isolation erlebt wie die frühen Polarforscher. Selbst wenn alles gut ging, mussten sie damit rechnen, mindestens ein Jahr lang von Familie, Freunden und der gesamten Menschheit abgeschnitten zu sein. In einer sterilen Einöde aus Eis, Dunkelheit und bitterer Kälte blieben sie sich selbst überlassen. Und wenn es nicht gut lief – nun ja, dann lief es meist katastrophal.

Mehrere Besatzungsmitglieder der Belgica – dem ersten Schiff, das 1879 in der Antarktis überwinterte – trieb die Monotonie und Isolation in den Wahnsinn. Es war diese tragische Geschichte der Beligca, die Shackleton dazu veranlasste, das Banjo mitzunehmen, als er und seine Männer das Schiff verlassen und auf das Eis flüchten mussten.

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    1915 verbrachte die Besatzung einen langen Winter an Bord der Endurance. Die Männer vertrieben sich die Zeit, indem sie Domino und Dame spielten, Pfeife rauchten und den Klängen eines Banjos lauschten. „Wir hatten einen vergnüglichen Abend“, schrieb ein Expeditionsmitglied in seinem Tagebuch. „Auch wenn es schwierig ist, Lieder zu finden, die wir nicht schon vielfach gehört haben.“

    Foto von Frank Hurley, Scott Polar Research Institute, University of Cambridge, Getty

    Ein Jahrhundert später sieht sich eine Welt im Lockdown mit einer globalen Pandemie konfrontiert. Was genau können wir von den Erfahrungen der Polarforscher wie Shackleton für den Umgang mit Stress und Isolation lernen?

    „Das ist eine interessante Frage“, sagte der britische Psychologe Ron Roberts, ein Professor der Kingston University London, der bereits über das Thema der antarktischen Isolation geschrieben hat. „Ihre Welt war zwar ganz anders als unsere, aber ihre Erfahrungen sind für uns auch heute noch enorm relevant. Menschen haben immer noch dieselben Grundbedürfnisse nach menschlichem Kontakt, Kommunikation und körperlicher Bewegung.“

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    Shackleton selbst betrachtete die Entbehrungen auf seiner ersten Antarktisreise als Herausforderung. Damals begleitete er 1901 die Discovery-Expedition von Captain Robert Scott. Dieser legte viel Wert auf strenge viktorianische Disziplin bei seinen Untergebenen. Deshalb meldete sich Shackleton freiwillig, um dem Meteorologen der Besatzung bei seinen täglichen Beobachtungen auf einem Hügel in der Nähe des Winterlagers zu assistieren. Sein Trick, um der Enge des Schiffes zu entkommen, dürfte bei Millionen von Menschen, die gerade in häuslicher Quarantäne stecken, auf Sympathie stoßen.

    Nur 100 Worte pro Monat

    John Dudeney ist der ehemalige stellvertretende Leiter des britischen Polarforschungsprogramms BAS (British Antarctic Survey). Er reiste zum ersten Mal im Jahr 1966 als 21-jähriger Wissenschaftler in die Antarktis. „Ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich da eingelassen hatte“, sagt er. „Ich erinnere mich noch, wie wir von Southampton aus losgesegelt sind, ich einen Blick zurück nach England warf, das achtern am Horizont verschwand, und mich fragte: Was habe ich getan?“

    Die nächsten zweieinhalb Jahre lebte er mit zwölf anderen Männern in der abgelegenen Faraday Base. Ihr abgeschiedenes Leben wurde nur einmal durch die Ankunft des Schiffes mit den Sommervorräten unterbrochen. Im zweiten Jahr war er der Kommandant der Basis.

    Der mittlerweile 75-jährige verbringt seine Zeit aktuell in selbst gewählter Isolation in seinem Zuhause in der Nähe von Cambridge. Über FaceTime bleibt er in Kontakt mit seiner Familie und seinen Freunden – ein starker Kontrast zu seiner Isolation auf der Faraday Base in den Sechzigern.

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    „Damals war unser einziger Kontakt zu Familie und Freunden ein einzelner, 100 Worte langer Funkspruch, den wir einmal pro Monat senden durften“, sagt Dudeney. „Und wir durften eine 200 Worte lange Antwort empfangen. Außerdem war keine dieser Nachrichten wirklich privat, da wir sie dem Funker geben mussten, damit er sie morsen konnte.“

    Es gab fast keine Nachrichten von der Außenwelt. „Bis heute sind die Jahre 1967 und 1968 für mich so eine Art Lücke, was Weltereignisse, Filme oder Musik betrifft“, sagt Dudeney.

    Und trotzdem ging es ihm gut – gut genug, um eine lebenslange Karriere bei der BAS zu haben und mit der Polar Medal ausgezeichnet zu werden. „Es gibt einen Trick, um die Antarktis gut zu überstehen: Man muss lernen, sich selbst zu genügen.“

    Beschäftigung und ein Plan für die Zukunft

    Admiral Richard Byrd, der 1934 einen ganzen Winter allein auf der abgeschiedenen meteorologischen Basis auf dem Ross-Schelfeis verbrachte, schrieb in seinen Memoiren „Alone“ ungefähr dasselbe. Wenn es um extreme Isolation geht, so Byrd „sind diejenigen, die mit einem gewissen Maß an Zufriedenheit überleben, jene, die hochgradig von ihren intellektuellen Ressourcen zehren können, so wie Tiere im Winterschlaf von ihrem Fett zehren“.

    Admiral Richard Byrd bereitet in der Advance Base eine Mahlzeit zu. Dort überlebte er den Winter auf dem Ross-Schelfeis auf sich allein gestellt. „Meine Tischmanieren sind grässlich“, schrieb er in sein Tagebuch. „Ich meine mich zu erinnern, bei Epikur gelesen zu haben, dass ein Mann, der allein lebt, das Leben eines Wolfs lebt …“

    Foto von Ullstein Bild, Getty

    Im Kampf gegen die Einsamkeit, die extreme Kälte und einen Ofen, dessen Kohlenmonoxid-Dämpfe ihn fast das Leben kosteten, entwarf Byrd Routinen, um sich zu beschäftigen. Immerhin musste er sich einen dunklen Winter lang in beengter Umgebung und Außentemperaturen von bis zu -62 °C durchschlagen.

    „Ich begriff, dass eine ordentliche, harmonische Routine die einzige dauerhafte Verteidigung gegen meine besonderen Umstände war“, schrieb Byrd. „Also versuchte ich, meine Tage durchzuplanen.“

    Zu den Mahlzeiten las er ein Buch aus seiner kleinen Sammlung, die er mitgebracht hatte, um sich die Wartezeit zu vertreiben. „Eine Mahlzeit, die man allein und schweigend zu sich nimmt, ist kein Vergnügen“, schrieb er. „Also machte ich es mir zur Gewohnheit, beim Essen zu lesen. Auf diese Weise kann ich mich eine Zeit lang in Büchern verlieren. An jenen Tagen, als sich nicht las, fühlte ich mich wie ein Barbar, der über einem Stück Fleisch brütete.“

    Laut dem Psychologen Roberts ist die wichtigste Lehre, die wir aus den Erfahrungen der frühen Polarforscher ziehen können, aber nicht so sehr die Routine gegen die Einsamkeit, Langeweile und Verzweiflung. Stattdessen ist es eher das Beispiel für gute Führung, das Shackleton lieferte: Er blickte in die Zukunft und machte sich einen glaubhaften Plan. Als sein Schiff unter dem Eis verschwand, wandte er sich an seine Männer und sagte beiläufig: „Das Schiff ist weg, unsere Vorräte sind weg … also schätze ich, wir gehen nach Hause.“

    „Darin lag Shackletons Genie“, sagt Roberts. „Er war in der Lage, Hoffnung und Zuversicht zu schüren und die Vision eines glücklichen Endes zu zeichnen – und er lieferte einen glaubhaften Plan, um dorthin zu gelangen. Wenn wir darüber nachdenken, wie die Zukunft in einer Welt nach COVID aussieht, ist das die Messlatte, an der unsere aktuellen Anführer gemessen werden.“

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

     

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