Das raue Leben der Polarwölfe am Ende der Welt

Unser Autor verbrachte 30 Stunden mit einem Wolfsrudel der kanadischen Arktis und erhielt intime Einblicke in das Leben der kaum erforschten Tiere.

Von Neil Shea
bilder von Ronan Donovan
Veröffentlicht am 12. Aug. 2019, 17:23 MESZ
Polarwölfe
Wölfe nagen am Skelett eines Moschusochsen. Für dieses Bild platzierte der Fotograf Ronan Donovan eine Kamerafalle in dem Kadaver. Das Rudel kehrte etwa einen Monat lang immer wieder zurück, um sich an den Resten des Tieres zu laben.
Foto von Ronan Donovan

Im blauen Licht eines arktischen Morgens schlitterten sieben Wölfe über einen zugefrorenen Teich. Jaulend und quietschend jagten sie einem Stück Eis von der Größe eines Hockey-Pucks hinterher.

Zu dieser Tageszeit war der Teich ein schimmernder Spiegel des kleinen Universums der Polarwölfe, die in ihrer Freude ebenfalls fast wie Kreaturen aus einer anderen Welt wirkten. Sie jagten hin und her, die kleinen Jungtiere immer auf den Fersen des Pucks, während die ausgewachsenen Wölfe sie umwarfen und in das gefrorene Gras am Ufer des Teiches stießen. In mein Notizbuch schrieb ich – die Buchstaben durch mein Zittern fast unleserlich – das Wort „drollig“.

Wissen kompakt: Wölfe
Durchdringender Blick und markerschütterndes Geheul: Wölfe werden ebenso bewundert wie kontrovers diskutiert. Wie viele Arten dieser charismatischen Tiere gibt es, was macht das Heulen jedes Wolfes einzigartig und wie funktioniert ein Rudel?

Der größte Wolf, ein einjähriges Männchen, war mit seinen etwa 30 Kilogramm ein ganz schöner Rüpel. Die Kleinste des Rudels – ein Weibchen aus dem jüngsten Wurf – war kaum größer als ein Kopfkissen und hatte schwarz umrahmte Augen. Zwei Raben segelten über die Köpfe der Wölfe hinweg. Mit Ausnahme ihres Krächzens lag eine Stille über der Tundra, die nur von den Stimmen der Wölfe und dem Klicken ihrer Krallen auf dem Eis durchbrochen wurde. Schließlich schlitterte der Puck ins Gras und der größte Welpe schnappte ihn sich und zerkaute ihn.

Der Rest des Rudels stand nur da und beobachtete ihn, die Köpfe zur Seite geneigt – ganz so, als würde dieses ungezogene Verhalten sie verblüffen. Dann fielen ihre Blicke – einer nach dem anderen – auf mich.

BELIEBT

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    Ein einjähriges Männchen, das die Filmcrew Gray Mane taufte, läuft voran, während das Rudel nach Beute sucht. Dieser Jagdzug währte fast zwei Tage, in denen die Tiere mehr als 100 Kilometer zurücklegten. Im Sommer 2018 konnten Filmemacher das Rudel über längere Zeit begleiten.
    Foto von Ronan Donovan

    Es ist schwierig, dieses Gefühl zu beschreiben – jenen Moment, in dem eine Gruppe Raubtiere einen entdeckt und sich die Blicke von Mensch und Tier für einige Herzschläge lang treffen. Für gewöhnlich kommen Menschen nur selten in den Genuss einer solchen Aufmerksamkeit, aber mein Körper schien die Situation auf einer sehr basalen Ebene zu begreifen. Ich zitterte wieder, aber diesmal nicht vor Kälte. So verspielt sie wenige Minuten zuvor auch gewirkt haben mögen – es waren wilde Wölfe. Ihr weißes Fell war stellenweise dunkel gefärbt von Innereien. Der Kadaver, an dem sie gefressen hatten – ein Moschusochse, der um ein Vielfaches größer war als ich –, lag ganz in der Nähe. Sein Brustkorb war aufgebrochen, die Rippen zeigen wie ein gespreizter Fächer gen Himmel.

    Die Wölfe beobachteten mich stumm, aber sie sprachen miteinander über das Zucken ihrer Ohren und die Haltung ihrer Ruten. Sie trafen Entscheidungen. Und nach einigen Momenten entschieden sie, näher zu kommen.

    Vermutlich gibt es auf der ganzen Welt keinen anderen Ort, an dem das passiert wäre. Genau deshalb bin ich nach Ellesmere Island gereist, das tief in der kanadischen Arktis liegt. Dort habe ich mich einer Dokumentarfilmcrew angeschlossen. Die Region ist so abgelegen und im Winter so bitterkalt, dass sich Menschen nur selten dorthin verirren. Eine Wetterstation namens Eureka liegt an der Westküste der Insel und wird das ganze Jahr über von einer achtköpfigen Belegschaft betrieben. Die nächste Gemeinde (Einwohnerzahl: 129) ist Grise Fiord und liegt 400 Kilometer weiter südlich. Noch mal 1600 Kilometer weiter steht die nächste Pflanze, die man als Baum bezeichnen könnte.

    Polarwolf-Welpen auf ihrem ersten Ausflug in die Tundra
    Schaue dir hier das ganze Video an!

    Das bedeutet, dass die Wölfe auf Ellesmere Island nie gejagt, nie durch Bauprojekte verdrängt, nie vergiftet wurden und nie in die Schlingfallen von Ranchern getappt sind. Sie werden nicht von Autos angefahren. Sie werden nicht durch kurzlebige politische Entscheidungen in einem Jahr geschützt und im nächsten wieder zur Jagd freigegeben. Nur eine Handvoll Wissenschaftler haben sie jemals erforscht. Selbst unter den Inuit, die ich kenne und deren Vorfahren seit Jahrtausenden in der Region leben, haben diese Wölfe eine Sonderstellung.

    Einer der Welpen kaut auf einer Feder herum, während ein anderer an der Schnauze der alternden Matriarchin White Scarf (rechts außen) leckt. Die alte Wölfin sorgte dafür, dass die Welpen nach der letzten erfolgreichen Jagd, an der sie teilgenommen hatte, zuerst fressen durften. Später verschwand sie in den Weiten der Tundra. Eine ihrer Töchter versuchte, sich als neue Anführerin des Rudels zu etablieren.
    Foto von Ronan Donovan
    Ungefähr ab ihrer neunten Lebenswoche fingen die vier Welpen an, dem Rest des Rudels auf seinen Streifzügen durch sein Revier zu folgen. Die Überquerung dieses kleinen Flusses stellte für sie jedoch eine Herausforderung dar. Sie winselten und rannten am Ufer umher, als der Rest des Rudels weiterzog. Eine ihrer zweijährigen Schwestern kehrte zurück, um ihnen etwas Mut zu machen. Der größte, mutigste Welpe sprang schließlich in den Fluss. Seine Geschwister folgten ihm bald.
    Foto von Ronan Donovan

    Das bedeutet allerdings nicht, dass die Ellesmere-Wölfe niemals Menschen begegnen. Ab 1986 verbrachte der berühmte Biologe L. David Mech 25 Sommer auf der Insel, um die Wölfe zu studieren. Das Personal der Wetterstation bekommt die Tiere oft zu Gesicht. Mitunter streifen sie in großen Gruppen über das Gelände der Station.

    Meine Freunde von der Filmcrew hatten sich dem Rudel, das ich beobachtete, schon vor meiner Ankunft angeschlossen und folgten den rastlosen Tieren mit Quads durch das Gelände.

    Aber macht dieser menschliche Kontakt sie auf gewisse Weise weniger wild? Lässt sich die Wildheit eines Tieres an der Distanz festmachen, die es zu Menschen hält? Die Ellesmere-Wölfe sind von ihren südlichen Verwandten in den weniger harschen Landschaften Idaho und Montanas durch eine viel größere Distanz getrennt. Hier oben wurden die Wölfe nie vom Menschen an den Rand der Ausrottung getrieben. Sie leben so weit jenseits unseres Einflussbereiches, dass sie uns nicht fürchten. Wenn wir uns in ihren Lebensraum begeben, geben wir die Kontrolle ab und betreten eine andere Welt.

    Einer der 12 Wochen alten Wolfswelpen streckt sich nach einer Mahlzeit – das Rudel erbeutete einen Moschusochsen. Sobald die Welpen dem Rudel folgen können, müssen sie schnell an Gewicht zulegen und lernen, in der Wildnis zu überleben, bevor der Winter einbricht. Zu den wichtigen Fähigkeiten gehören vor allem auch die Jagd und die Vermeidung von Begegnungen mit anderen Rudeln.
    Foto von Ronan Donovan
    Einer der Welpen frisst sich an dem Kadaver eines Moschusochsen satt. Auf Ellesmere Island haben die Wölfe kaum Konkurrenz, abgesehen von anderen Wolfsrudeln, Polarfüchsen und ein paar fleischfressenden Vögeln.
    Foto von Ronan Donovan
    Nach der Mahlzeit wird gespielt. Zwei einjährige Wölfe ärgern einen der Welpen. Durch solche Spiele lernen die Welpen, sich zu verteidigen, und die Beziehungen der Tiere innerhalb des Rudels werden gestärkt.
    Foto von Ronan Donovan

    An jenem Tag näherte sich mir das Rudel auf dem gefrorenen Teich langsam an, die Köpfe gesenkt, die Nasen auf der Suche nach meiner Witterung. Es war Anfang September und das Thermometer zeigte -3 °C. Der kurze arktische Sommer war bereits vorbei, auch wenn die Sonne immer noch jeden Tag 20 Stunden am Himmel stand. Die Polarnacht, die vier Monate währt und das Quecksilber bis auf -51 °C drückt, lag noch ein paar Wochen in der Zukunft.

    Ich war allein und unbewaffnet. Später würde ich mich mit meinen Freunden treffen, aber in jenem Moment waren sie gute acht Kilometer entfernt. Ich saß auf dem Eis und sinnierte darüber, dass ich schon einige Male in meinem Leben so allein gewesen bin – aber nie so verwundbar.

    Die Wölfe gelitten wie Nebel um mich herum. Erste Spuren ihres Winterfells zeigten sich bereits. Die charakteristischen Merkmale, an denen wir sie voneinander unterschieden, waren auf so kurze Entfernung deutlich erkennbar: das einjährige Männchen mit der grauen Halskrause, das Weibchen mit dem verletzten linken Auge, das vermutlich während eines Kampfes mit einem Moschusochsen punktiert wurde. Die schwarzen Schwanzspitzen der Welpen würden sich bald weiß färben. Ich konnte das schmierige Blut des Ochsen riechen, in dem sie sich gewälzt hatten.

    Die Welpen blieben auf Distanz und tapsten unbeholfen auf ihren zu großen Pfoten umher. Aber die älteren Wölfe kamen näher. Ein verwegenes Weibchen von etwa zwei oder drei Jahren kam bis auf Armlänge an mich heran. Ihre Augen leuchteten bernsteinfarbenen und ihre Schnauze war dunkel vor Blut, vielleicht aber auch von dem verbrannten Müll auf Eurekas Müllhalde.

    Es war ein verstörender Gedanke – womöglich klebte ihr geschmolzenes Plastik an der Schnauze –, aber er wurde von dem intensiven Moment verdrängt: Kaum einen Meter von mir entfernt stand eine wilde Wölfin und starrte mich an. Ich verharrte regungslos und beobachtete das Tier fasziniert.

    Ich konnte die Geräusche ihres Magens hören, dass nasse Gluckern der Verdauungsprozesse. Sie musterte mich eindringlich und ihre Nase zuckte durch die Luft, als würde sie eine Skizze anfertigen. Dann trat sie näher und presste plötzlich ihre Schnauze an meinen Ellbogen. Ich war wie elektrisiert und zuckte ein wenig. Der Wolf machte einen Satz zurück und trottete dann gelassen davon. Als sie sich wieder zu ihrer Familie gesellte, warf sie noch einen Blick über ihre Schulter und vergrub die Schnauze dann wieder in den Resten des Moschusochsen.

    Auf der verzweifelten Suche nach Beute durchkämmt das Rudel den Greely Fjord nach Moschusochsen und Polarhasen. Wenn der Fjord im Winter zufriert, dehnen sich ihre Jagdgründe bis jenseits der fernen Berge aus.
    Foto von Ronan Donovan

    Kurz bevor ich auf Ellesmere ankam, hatte das Rudel seine Mutter verloren. Sie war um die fünf oder sechs Jahre alt, ausgemergelt und konnte nur langsam aufstehen. Und trotzdem war sie so unzweifelhaft die Anführerin, dass meine Freunde bei ihrer ersten Begegnung mit ihr im August nichts von ihrer Gebrechlichkeit bemerkt hatten. Wahrscheinlich war sie die Mutter jedes einzelnen Wolfes im Rudel mit Ausnahme ihres Partners, einem schlanken Männchen mit leuchtend weißem Fell. Er führte das Rudel bei der Jagd an, aber sie war das Zentrum der Familie. Es schien keinerlei Zweifel darüber zu geben, wer den Ton angab.

    Die Wölfe statten einem kanadischen Militäraußenposten einen Besuch ab. Für das Skelett eines Moschusochsen, das die Belegschaft auf einem Pfahl befestigt hat, interessierten sie sich kaum. Stattdessen jagten sie im Gras rund um den Flugplatz Polarhasen.
    Foto von Ronan Donovan

    Die Matriarchin hatte sich nicht großartig für meine Freunde und ihre Kameras interessiert. Allerdings hatte sie sie ungewöhnlich nah an ihre neuen Welpen herangelassen und damit einen Präzedenzfall geschaffen, der sicherlich auch in der Toleranz des Rudels mir gegenüber nachhallte. Die Filmcrew erzählte mir von ihrem letzten großen Akt der Hingabe etwa eine Woche vor meiner Ankunft.

    Nach mehreren missglückten Jagdversuchen (Wolfsjagden enden oft erfolglos) hatte das Rudel ein etwa 90 Kilogramm schweres Moschusochsenkalb erlegt. Die letzte große Mahlzeit war schon länger her und die ausgehungerten und erschöpften Wölfe schlichen um ihre Beute herum. Aber die Matriarchin stand neben dem Kadaver Wache und verscheuchte ihre älteren Abkömmlinge, damit ihre vier jungen Welpen fressen konnten.

    Die älteren Wölfe bettelten, winselten und krochen auf ihren Bäuchen herbei, um ein Häppchen zu ergattern. Sie aber blieb standhaft, schnappte und knurrte, während die Welpen das Fleisch verschlangen, bis ihre Bäuche auf die Größe einer Bowlingkugel angeschwollen waren. Vermutlich hatten sie zum ersten Mal frisches Fleisch gefressen.

    Erst dann durften sich alle anderen über den Kadaver hermachen. Sie schlugen sich die Bäuche voll und fielen in das wölfische Äquivalent eines Fresskomas. Wenig später verschwand die Matriarchin. Sie kehrte nie zurück und wir fanden nie heraus, was mit ihr geschehen war.

    Moschusochsen zählen zu den wenigen Beutetieren, die zusammenarbeiten, um einen Schutzwall für ihre Kälber zu bilden und sich gegen Wolfsangriffe zu wehren.
    Foto von Ronan Donovan
    Die Wölfe sind sich der Kraft der Moschusochsen bewusst und sind bei der Jagd stets auf der Hut vor ihren scharfen Hufen und spitzen Hörnern. Sofern die Jäger kein achtloses Tier erwischen, können sich die Moschusochsen für gewöhnlich gut vor ihnen verteidigen.
    Foto von Ronan Donovan

    Als ich an jenem Tag bei dem Rudel saß, hatte es sich noch nicht wieder neu sortiert. Es war nicht klar, wer das Rudel führen würde oder ob es sich bei der Jagd erfolgreich an die neue Struktur anpassen würde. Das junge Weibchen mit den leuchtenden Augen, das meinen Ellbogen angestupst hatte, schien die Rolle ihrer Mutter ausfüllen zu wollen – auch wenn sie sich nicht sonderlich um die Pflege der Welpen kümmerte. Bei ihrem ersten Versuch, gemeinsam mit dem älteren Männchen eine Jagd anzuführen, hatte ein Moschusochse sie auf die Hörner genommen.

    Ich stand einige hundert Meter entfernt und sah zu, wie das massige Tier den Kopf senkte und der Wölfin seine Hörner entgegenstieß. Zuerst dachte ich, es hätte sie aufgespießt. Aber sie sprang wieder auf und huschte mit eingeklemmtem Schwanz davon. Das Rudel zerstreute sich und die Jagd endete erfolglos.

    Ich saß fast 30 Stunden lang bei den Wölfen am Teich, weil ich mich nicht losreißen konnte. Mit was für Widrigkeiten und Problemen sie auch zu kämpfen hatten – die Zeit an dem gefrorenen Teich war für sie eine glückliche. Sie spielten, schliefen und kuschelten. Ich versuchte, sie auf Distanz zu halten, aber sie kamen immer wieder vorbei, um mich zu inspizieren.

    Mit der Zeit ließ ihr Interesse nach. Aber aufgrund der bitteren Kälte musste ich jede Stunde aufstehen und mich aufwärmen, was ich meist mit etwas Schattenboxen und ein paar Hampelmännern tat. Mein Herumzappeln und lautes Atmen lockte die Wölfe immer wieder an. Sie umringten mich und beäugten mich neugierig – und konnten meine Nervosität vermutlich spüren.

    Schlussendlich baute ich in einiger Entfernung doch noch ein Zelt auf, um ein bisschen zu schlafen. Als ich gerade weg war, um ein bisschen Eis zu schmelzen, näherte sich das einäugige Weibchen und schlitzte mein Zelt auf. Sie zerrte mein ganzes Hab und Gut nach draußen auf den Boden, arrangierte es feinsäuberlich in einer Reihe und rannte dann mit meinem aufblasbaren Kopfkissen davon.

    Die Wölfe haben ein Auge auf drei männliche Moschusochsen geworfen. Um eines der bis zu 300 Kilogramm schweren Tiere erlegen zu können, muss das Rudel lernen zusammenzuarbeiten. Die Wölfe suchten nach einer Möglichkeit, um einen der Ochsen zu isolieren. Diese drei Tiere konnten die Bedrohung jedoch abwehren.
    Foto von Ronan Donovan
    Ein junger Moschusochse konnte sich den Angriffen der Wölfe für 20 Minuten erwehren, bevor sie ihn zu Fall brachten. Während One Eye (links) versucht, sich in der Schnauze des Tieres zu verbeißen, greifen die anderen Wölfe von hinten an. So lernen die jungen Wölfe, wie man ein Beutetier tötet. Mitunter beginnen die ausgehungerten Jäger schon mit dem Fressen, bevor ihr Opfer verstorben ist.
    Foto von Ronan Donovan

    Irgendwann legten sich die Wölfe zum Schlafen hin und die Welpen bildeten ein flauschiges Knäuel. Während sie ruhten, wanderte ich umher. Die Zugvögel waren bereits abgereist, die Füchse und die Raben gaben keinen Laut von sich. Lange Strähnen von Moschusochsenfell, das die Tiere den Sommer über verloren hatten, wehten über die Ebene und verströmten einen Geruch von frisch gemähtem Gras. Hier und da versanken ein paar Schädel der großen Wiederkäuer im Boden, die Hörner gen Himmel gestreckt und die gelblichen Knochen von Flechten überwachsen. Ich fühlte mich wie ein Eindringling, der durch die leeren Räume eines fremden Hauses streift.

    Stunden später erwachte das Rudel wieder und verbrachte wie üblich noch eine Weile zusammengekuschelt in einem Haufen aus wedelnden Schwänzen und zärtlichem Schnauzenlecken – ein bisschen Liebe am Ende der Welt. Irgendwann trotteten die älteren Wölfe davon, um weiter westlich jagen zu gehen. Die Welpen ließen sie mit mir zurück. Der Nachwuchs schien davon ebenso verwirrt zu sein wie ich selbst. Das war nicht unbedingt ein Vertrauensbeweis der Tiere, sondern zeugte wohl eher von einer gewissen Gelassenheit. Ich war weder Beute noch Bedrohung, sondern gehörte irgendeiner dritten Kategorie an, und die älteren Wölfe schienen das zu begreifen.

    Ich weiß nicht, welche Familienmitglieder den Winter überlebten oder ob das Rudel wieder gelernt hat, als Einheit zu jagen. Die Chancen dafür stehen gut, ebenso wie sie schlecht dafür stehen, dass alle Welpen überlebt haben. Nachdem die letzten der älteren Wölfe an jenem Tag außer Sichtweite waren, beschlossen die Welpen, ihnen hinterherzulaufen. Ich folgte ihnen, und schon bald hatten wir uns alle verlaufen. Wir wanderten etwa eine Stunde lang durch die kahle Landschaft, bis sich die Welpen an irgendeinem namenlosen Bergkamm niederließen und zu heulen begannen. Ihre kleinen Stimmchen purzelten verloren über die Landschaft.

    Nach der Mahlzeit ruht sich das Rudel aus und verdaut. Das Leben der Wölfe ist von Hunger geprägt, der gelegentlich von wahren Festmahlen durchbrochen wird. Die meisten Jagden enden erfolglos, und ausgewachsene Wölfe können bis zu zwei Wochen ohne Nahrung auskommen. Wenn sie Beute gemacht haben, verschlingen sie in einer einzigen Mahlzeit bis zu neun Kilogramm Fleisch.
    Foto von Ronan Donovan

    Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.

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