Haustier oder Snack? Als das Meerschweinchen nach Europa kam
Die südamerikanischen Nagetiere wurden bereits zu Zeiten Shakespeares in Europa gezüchtet – und zwar nicht nur vom Adel.
Ein Ausschnitt aus einem Gemälde von Jan Brueghel dem Älteren aus dem Jahr 1615 zeigt mehrfarbige Meerschweinchen.
Als spanische Konquistadoren Meerschweinchen aus Südamerika nach Europa mitbrachten, wurden die winzigen „Kuriositäten“ als Haustiere gezüchtet. Im Elisabethanischen England erfreuten sich die Nager bei diversen gesellschaftlichen Schichten großer Beliebtheit.
Der entscheidende Hinweis auf diesen Umstand wurde 2007 in Form eines Meerschweinchenskeletts entdeckt. Es wurde im Hinterhofkeller eines ehemaligen bürgerlichen Hauses im belgischen Mons gefunden, das einst Teil des spanischen Imperiums war.
Die Radiokarbondatierung der Knochen ergab, dass dieses Meerschweinchen zwischen dem Ende des 16. und dem Beginn des 17. Jahrhunderts lebte. Das war also kurz nach der Ankunft der Spanier in Südamerika, sagte Studienleiterin Fabienne Pigière vom Königlich-Belgischen Institut für Naturwissenschaften in Brüssel.
Meerschweinchenknochen sind im europäischen archäologischen Bericht selten. Deshalb fragten sich die Wissenschaftler lange, welchem Zweck die Tiere ursprünglich dienten, als sie auf dem Kontinent ankamen.
So zeigen beispielsweise die Überreste nordamerikanischer Truthähne und südamerikanischer Moschusenten, die ebenfalls von den Spaniern nach Europa gebracht worden waren, dass die Vögel zumeist als Nahrung gezüchtet wurden.
Die Studie deutet allerdings darauf hin, dass die frühen Meerschweinchen mehr als Gefährten denn als Snack dienten. Das Skelett des belgischen Meerschweinchens war vollständig und wies keine Anzeichen einer Verarbeitung auf, sodass die Autoren zuversichtlich sind, dass das Tier zur Familie gehörte.
Es sei „sehr spannend“ zu erforschen, wie solche „exotischen Tiere“ in Europa eingeführt wurden, sagte Pigière.
Meerschweinchen als Haustier … und Mahlzeit?
Pigière und ihre Kollegen stellten zunächst fest, dass es sich bei dem Meerschweinchen aus dem Keller um ein domestiziertes Tier handelte. Sein Skelett unterschied sich von dem seiner wilden Cousins.
So weist das Studienskelett beispielsweise eine gewölbte Verbindungsstelle auf, an der sich die Stirn- und Scheitelknochen des Schädels treffen – ein Merkmal der Domestikation bei Meerschweinchen.
Flämische Gemälde der damaligen Zeit untermauern diese Schlussfolgerung, weil auf ihnen mehrfarbige Meerschweinchen zu sehen sind, erklärte Pigière. Ihre entsprechende Studie erschien im „Journal of Archaeological Science“. Mehrfarbiges und weißes Fell ist ein genetisches Merkmal, das laut der Studie typischerweise auf die Domestikation von Meerschweinchen hinweist.
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Darüber hinaus ergab die Analyse der chemischen Elemente in den Knochen des Meerschweinchens, dass das Tier größtenteils menschlichen Abfall gefressen hatte. Mais gehörte nicht dazu, obwohl er in Südamerika ein übliches Futtermittel für die Tiere ist. Das lässt vermuten, dass das Tier wahrscheinlich in Europa geboren und aufgezogen wurde.
Die Archäozoologin Elizabeth Reitz von der University of Georgia in Athens fand, die Studie sei gründlich und „deckt wirklich alle Grundlagen ab“.
„Ihre Interpretation, dass es sich um eine kleine Bestattung eines Meerschweinchens handelt, ist wahrscheinlich korrekt“, sagte Reitz.
Allerdings fügte sie an, dass sie nicht überrascht wäre, wenn die Europäer die Nagetiere auch gegessen hätten. Die Engländer aßen damals zum Beispiel regelmäßig Bilche – kleine Nagetiere aus der Unterordnung der Hörnchenverwandten. Und in Südamerika wurden und werden Meerschweinchen vor allem als Nahrung gezüchtet.
Tatsächlich fanden Pigière und ihre Kollegen einen historischen Beleg dafür, dass Europäer Meerschweinchen aßen. Er stammt aus einem Buch des französischen Agronomen O. de Serres aus dem Jahr 1563.
De Serres schrieb, dass es „notwendig sei, einige Gewürze zu nutzen, um den Geschmack des Meerschweinchenfleisches zu verbessern“, zitierte Pigière.
Meerschweinchen für das Volk
Die neue Studie zeigt, dass Meerschweinchen als Haustiere in der Gesellschaft des 16. und 17. Jahrhunderts weiter verbreitet waren als bisher angenommen, stellte Pigière fest.
Sowohl Schriftdokumente über die Bewohner dieses Teils von Mons als auch Keramik- und Glasgegenstände, die in der archäologischen Stätte von Mons gefunden wurden, deuten darauf hin, dass die Bewohner des Hauses der Mittelschicht angehörten. Das bedeutet, dass „das Tier mehreren Bevölkerungsschichten zur Verfügung stand und nicht nur dem Adel“, sagte sie.
Die einzigen anderen bekannten Überreste eines Meerschweinchens aus dem 16. Jahrhundert – gefunden auf einem Landgut im englischen Essex – ließen eher vermuten, die Tiere seien nur der Elite zugänglich gewesen.
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Meerschweinchen sind „für ihre große Anpassungsfähigkeit bekannt. Es ist keine Überraschung, dass sich das Tier angesichts seiner enormen Reproduktionsfähigkeit schnell in Nordeuropa etablieren konnte“, stellten die Autoren der Studie fest.
Reitz von der University of Georgia fügte hinzu: „Das sind Nagetiere, und sie vermehren sich wie Nagetiere. Ich bin nicht überrascht, dass nur zwei davon nötig waren, als sie nach Europa kamen.“
Im Allgemeinen zeige die Studie außerdem, wie „außergewöhnlich schnell“ Waren aus Amerika nach Europa gelangten, fügte Reitz hinzu.
„Sie verbreiteten sich [...] viel schneller, als wir gedacht hätten“, sagte sie. „Dass es im 16. Jahrhundert schon Meerschweinchen in Europa gab – das ist ziemlich erstaunlich.“
Der Artikel wurde ursprünglich in englischer Sprache auf NationalGeographic.com veröffentlicht.
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