Wenn Tierliebe zur Sucht wird – Animal Hoarding nimmt zu

Hunde, Katzen und andere Haustiere, die zusammengepfercht in oft kleinsten Wohnungen qualvoll dahinvegetieren: Krankhaftes Tieresammeln stellt die Tierheime vor neue Herausforderungen.

Von Jens Voss
Veröffentlicht am 28. Feb. 2020, 10:31 MEZ
Verwahrloste Hunde aus einem Hoarding-Fall: Krankhaftes Tieresammeln ist oft mit großem Leid verbunden.
Foto von Picture Alliance, Dpa

Beißender Ammoniakgeruch steigt in die Nase. Die winzige völlig vermüllte Wohnung in Bonn lässt sich nur mit Schutzanzug und Atemmaske betreten. Tierspielzeug, Kuschelhöhlen, Laufstege: Offenbar hatte es der Katzenhalter anfangs gut gemeint. Bis aus falsch verstandener Tierliebe größtes Tierleid wurde. Der Mieter hatte seine Messie-Wohnung längst verlassen. Zurück blieben mehr als 30 völlig verwahrloste Katzen – krank und halb verhungert. Viele Tiere hatten durch den massiven Flohbefall Teile ihres Fells verloren. Den ehrenamtlichen Helfern vom Tierheim Albert Schweitzer in Bonn bot sich ein Bild des Schreckens.

Animal Hoarding ist die Sucht, Tiere zu sammeln. Nach Worten des Deutschen Tierschutzbundes handelt es sich um ein Krankheitsbild, bei dem Menschen Tiere in einer großen Anzahl halten, sie aber nicht mehr angemessen versorgen können. Es fehlt an Futter, Wasser, Hygiene, Pflege und tierärztlicher Betreuung. Die Halter sind oft nicht mehr in der Lage zu erkennen, dass es den Tieren in ihrer Obhut schlecht geht.

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Seit 2012 untersucht der Tierschutzbund das Phänomen mit umfangreichen Statistiken. Die dokumentierten Fälle von Animal Hoarding stiegen seitdem um 63 Prozent. Im Jahr 2018 registrierte der Verband bundesweit 59 Fälle mit 3.888 geretteten Tieren – im Vorjahr waren es noch 34 Fälle mit 2.780 Tieren. Doch das dürfte nur die Spitze des Eisbergs sein. Der Tierschutzbund geht von einer hohen Dunkelziffer aus.

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    Meist fallen Katzen der Sammelsucht zum Opfer – gefolgt von Hunden sowie kleinen Heimtieren wie Mäusen oder Meerschweinchen. Dies entspricht auch dem Verhältnis der häufigsten Haustiere in Deutschland. Durchschnittlich 66 Tiere wurden 2018 aufgespürt, oft versteckt und gut abgeschirmt von den Blicken der Nachbarn. Doch die Zahlen schwanken enorm: Bei zwei Einsätzen, in denen die Retter Kleintiere wie Mäuse, Meerschweinchen und Ziervögel aus ihrem Martyrium befreien konnten, zählten sie jeweils rund 400 Exemplare.

    Warum Menschen Tiere sammeln

    „Die Bedingungen, denen die Tiere in solchen Fällen oft über lange Zeit ausgesetzt sind, sind nicht artgerecht und hygienisch meist absolut untragbar“, erklärt Moira Gerlach, Fachreferentin für Heimtiere beim Deutschen Tierschutzbund. „Die Tiere pflanzen sich unkontrolliert fort und die überforderten Halter können ihnen weder eine richtige Ernährung noch eine hinreichende medizinische Versorgung bieten.“

    Warum aber sammeln Menschen Tiere? „Obwohl unsere Auswertung zeigt, wie relevant die Problematik hierzulande ist, ist das Phänomen Animal Hoarding leider bisher wenig bekannt“, sagt Gerlach. Laut Auswertungen des Tierschutzbundes sind die meisten Hoarder mittleren Alters und weiblich, nicht selten alleinstehend. „Oft handelt es sich um einsame Menschen“, weiß Regina Rademächers vom Bonner Tierheim, das die verwahrlosten Katzen dank eines Hausmeisteranrufs aufspürte. „Aus einer ursprünglich guten Absicht heraus nehmen sie Tiere auf, bis ihnen die Dinge über den Kopf wachsen. Es steckt auch viel menschliches Leid dahinter.“

    Auch wenn die Tier-Sammelsucht hierzulande nicht als eigenständige Krankheit anerkannt ist: Auslöser ist oft eine psychische Störung. Bislang gibt es nur wenige wissenschaftliche Untersuchungen. Die Autoren einer US-amerikanischen Studie etwa unterscheiden vier Grundtypen von Hoardern, die auch von der deutschen Veterinärmedizinerin Tina Sperlin in einer Doktorarbeit beschrieben werden: einen Pflegertyp, einen Rettertyp, einen Züchtertyp und einen Ausbeutertyp.

    Der Pflegertyp verspüre einen übertriebenen Drang, sich um seine Schützlinge zu kümmern, weil er sie mit Menschen gleichsetze. Der Rettertyp hingegen verfolge eine klare Mission: Er sei davon überzeugt, dass es Tieren nur bei ihm gut gehen könne. Der Züchtertyp schaffe sich Tiere an, um sie auszustellen oder zu verkaufen – bis er die Kontrolle verliert und sich die Tiere immer weiter vermehren. Der Ausbeutertyp zeige soziopathische Züge. Er sei gefühlskalt und halte Tiere aus reinem Eigennutz.

    Wellensittichschwarm in einer Wohnung: Animal Hoarder sind meist nicht mehr in der Lage, minimale Hygiene- und Pflegestandards einzuhalten.
    Foto von Picture Alliance, Blick Winkel

    Animal Hoarding müsste als Krankheit anerkannt werden

    Selbstverständlich gebe es hierbei viele Übergänge und Zwischenformen, unterstreichen die Autoren. Fakt sei aber, dass Animal Hoarding eine Krankheit sei. Und die lasse sich nicht einfach durch Wegnahme der Tiere heilen. „Mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit werden die Tierhalter rückfällig“, sagt Sperlin. Den meisten Hoardern mangele es an Einsicht, das Falsche zu tun. Hoarding-Experten sind sich deshalb einig, dass Tiersammler eine professionelle Therapie brauchen. Außerdem müsse Animal Hoarding endlich als offiziell als Krankheit anerkannt werden. Daneben sei es notwendig, ein Zentralregister für Animal Hoarder zu schaffen, um Wiederholungstaten vorzubeugen.

    Schutz der Tiere und Hilfe für den Mensch: Damit ist es nicht getan. Denn auch die Tierheime gehören zu den Leidtragenden. Jedes dem Deutschen Tierschutzbund angeschlossene Tierheim muss durchschnittlich fünf Mal jährlich Tiere aus Animal-Hoarding-Fällen aufnehmen, betont der Tierschutzbund. Der Aufwand und die Kosten für die Unterbringung der Tiere sind hoch, wie der Verband anhand eines Hoarding-Beispiels vorrechnet: So mussten in einem Fall über 65.000 Euro für die 138-tägige Unterbringung, Pflege und tierärztliche Versorgung von 43 Hunden aufgewendet werden. Neben öffentlichen Geldern sind viele Heime in erheblichem Maß von Spenden abhängig.

    „Tierheime helfen, aber gerade in solchen Notfällen sind sie selbst auf Hilfe angewiesen“, sagt Caterina Mülhausen, Leitung Campaigning beim Deutschen Tierschutzbund. „Die Behörden beschlagnahmen die Tiere, aber es sind die Tierheimmitarbeiter, die diese aufnehmen und tierärztlich versorgen.“ Der Tierschutzbund fordert daher von den Behörden eine schnelle und kostendeckende finanzielle Unterstützung für Tierheime.

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    Die Katzen aus der Messie-Wohnung in Bonn hatten Glück. Der Halter konnte aufgespürt werden und zeigte sich reumütig. Er gab an, er habe streunende Tiere aus Mitleid von der Straße retten wollen. Das Tierheim Albert Schweitzer nahm sich der gequälten Kreaturen an und pflegte sie gesund. Alle Tiere haben sich positiv entwickelt und konnten größtenteils weitervermittelt werden, erinnert sich Regina Rademächers: „Es gab doch noch ein Happy End.“

    Weitere Infos über Animal Hoarding:
    https://www.aktiontier.org/
    https://www.tierschutzbund.de/

     

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